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2002  
ZDF Jahrbuch
Aus der Programmarbeit
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Elmar Theveßen

Es begann in Djerba
Über die Tendenz, die Bedrohung zu verdrängen

 
Elmar Theveßen
Elmar Theveßen


Anschlag auf ein Hotel in Kenia
Anschlag auf ein Hotel in Kenia


Zerstörtes Hotel in Mombasa
Zerstörtes Hotel in Mombasa


Nach dem Anschlag auf Bali
Nach dem Anschlag auf Bali
              
 

Es ist ein sonniger Morgen, ideal für das Video, das Nachbarn und Freunde sicher beeindrucken wird. Das strahlende Weiß der Wände, die mittelalterlich romantische Ausstattung des Gotteshauses. La Gribha heißt er, der geschichtsträchtige Ort auf der tunesischen Insel Djerba, der sich Sekunden später in einen Tatort verwandeln wird. Gerade erst haben die Deutschen die Synagoge betreten, an einem Lastwagen vorbei, der in der engen Gasse abgestellt ist. Dann tobt auch schon ein Feuersturm durch den Vorraum der heiligen Stätte. Im Feuer der Gasbombe sterben 19 Menschen, Dutzende werden verletzt. Es ist der 11. April 2002, genau sieben Monate nach den verheerenden Anschlägen von New York und Washington.

Das alles scheint schon wieder so unendlich lange her. Erinnert sich überhaupt noch jemand an die 14 Deutschen unter den Opfern? Oder an die sechs Deutschen, die beim Anschlag auf den Nachtclub in Indonesien ums Leben kamen? Es ist, als ob wir es nicht wahrhaben wollen in Deutschland, dass wir zum Ziel einer globalen Bedrohung geworden sind, die viel unberechenbarer ist als die Bedrohung in Zeiten des Kalten Kriegs.

»Wir haben Armeen, für die es keine Feinde mehr gibt, stattdessen gibt es Gefahren, für die wir keine Armeen haben«, so beschrieb es Israels damaliger Außenminister Shimon Peres in einem Interview mit meinem Kollegen Johannes Hano für unsere Dokumentation »Der Tag, der die Welt veränderte«. Nach Ansicht von Peres hat der 11. September 2001 unsere Definition von »Sicherheit« zerstört: »Die alten Strategien sind tot. Das ist keine Konfrontation im klassisch militärischen Sinne, sondern etwas völlig Neues mit neuen Regeln. Und was für die Wirtschaft gilt, gilt auch für diese neue Strategie: Sie ist global, nicht national.«

Das ist ein Gedanke, an den wir uns sicher nur schwer gewöhnen können, aber um den sich niemand in der westlichen Wertegemeinschaft herumdrücken kann: Ein Tourist aus Deutschland wird künftig nicht mehr zufällig das Opfer von Anschlägen, nur weil er ein Land besucht, in dem ein regionaler Konflikt schwelt. Er wird zum Ziel, weil er nach Lesart des Gegners Kombattant ist, also Teilnehmer im Krieg gegen den Terrorismus. Osama bin Laden hat das in einer Erklärung vom November 2002 sehr ausführlich dargelegt:

»Warum verbünden sich eure Regierungen mit Amerika, um uns anzugreifen, im Besonderen nenne ich Großbritannien, Frankreich, Italien, Kanada, Deutschland und Australien. … So wie ihr uns tötet, werden wir euch töten.«

Und es kommt noch schlimmer: Der Deutsche verwandelt sich nicht in dem Augenblick, wenn er in ein Flugzeug klettert, um im Einflussgebiet islamistischer Extremisten einen Billigurlaub zu machen, plötzlich in einen Feind. Er ist schon der Gegner, weil er in einer westlichen Demokratie lebt; dort beginnt das Schlachtfeld der »Gotteskrieger«, die ihr feines Netzwerk des Terrors längst über Westeuropa gesponnen haben. Hier leben sie, die Schläfer, die sich offenbar durch keine noch so geniale Rasterfahndung herausfiltern lassen. Und wenn, dann fällt es unserem Staat recht schwer, gerichtsverwertbare Beweise zu finden, die für eine Verhaftung oder gar eine Verurteilung ausreichen.

In den deutschen Sicherheitsbehörden hat sich eine Menge Frust angesammelt, weil die neue Bedrohung so wenig greifbar ist. Nehmen wir einmal ein Beispiel vom Herbst 2002. Einige Wochen, bevor tschetschenische Terroristen das Musical-Theater in Moskau überfielen und hunderte von Menschen als Geiseln nahmen, lief beim Bundesnachrichtendienst in Pullach folgende Meldung eines befreundeten Geheimdienstes ein: »Wir möchten eine unbestätigte Information melden, nach der im Herbst diesen Jahres eine Gruppe von mehreren russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Nationalität vom Territorium der Russischen Föderation aus in Länder Westeuropas vordringen soll. Gemäß der erlangten Information sollen die oben genannten Ausländer Terrorakte ausführen.« Die Auswerter des BND standen diesen Worten ratlos gegenüber. Natürlich wurde die Warnung mit anderen Informationen abgeglichen, vielleicht gab es sogar einen entsprechenden Hinweis an den Bundesgrenzschutz, bei den Einreisekontrollen gezielt auf kaukasische Russen zu achten. Aber wie sollte man bei solch spärlichen Details gezielt gegen eine Bedrohung reagieren?

Meldungen wie diese gab es viele im Jahr 2002, einige davon noch konkreter. Außerdem erhielten die Fahnder bei Razzien und in Verhören Hinweise darauf, dass mutmaßliche Mitglieder des Al-Qaida-Netzwerks nach Westeuropa eingesickert sind, und dass biologisches, chemisches und radioaktives Material für künftige Anschläge eine große Rolle spielt, vielleicht sogar schon eingeschmuggelt wurde. Weil die konkreten Informationen fehlen, wächst die Einsicht, dass es nahezu unmöglich ist, den nächsten großen Anschlag der »Gotteskrieger« zu verhindern. Wohl deshalb warnte der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, August Hanning, Anfang November in »Frontal 21«: »Wenn Sie sich anschauen den Zeitablauf seit dem 11. September, so ist in der Tat die Befürchtung sehr konkret, dass wir mit einem neuen Anschlag rechnen müssen, einem Anschlag auch größerer Dimension.«

Frontal 21: Gibt es Hinweise darauf, dass Al-Qaida auch radioaktive Stoffe einsetzen könnte bei Anschlägen, im Sinne von schmutziger Bombe?

»Wir sehen nicht die Fähigkeit, Nuklearwaffen einzusetzen. Wir können nicht ausschließen, dass sie so genannte schmutzige Bomben entwickelt haben. Es gab ja in den USA Festnahmen, wie Sie sich vielleicht erinnern, die in diese Richtung deuten; da schließe ich keine Überraschungen aus.«

Die Reaktionen in den deutschen Medien waren überraschend. Viele Kollegen waren überzeugt, dass der BND-Präsident irgendwelche parteipolitischen Ziele verfolgt. Dabei war es wohl eher der Versuch, eine unangenehme Wahrheit offen auszusprechen und gleichzeitig einem möglichen Vorwurf nach einem künftigen Anschlag zuvorzukommen, man habe vorher nicht gewarnt.

Den Medien geht es offenbar nicht viel anders als der Politik. Wir haben Schwierigkeiten, die ganze Tragweite der Situation deutlich zu machen, weil sie meist nur an Einzelereignissen deutlich wird. Einen neuen Anlauf nehmen wir immer dann, wenn das Thema auf eine natürliche Aufmerksamkeit bei den Zuschauern trifft – in den Stunden, Tagen und Wochen nach einem neuen Anschlag. Aber wie weit wir dabei kommen, hängt in unserer schnelllebigen, von Informationen überquellenden Zeit vom Ausmaß der Katastrophe ab.

Als zum Beispiel in Kenia die Autobombe in der Lobby eines Hotels explodierte und nahezu zeitgleich Flugabwehrraketen auf einen Passagierjet mit über 270 Menschen gefeuert wurden, gab es eine kurze »heute spezial«-Ausgabe neben den üblichen Nachrichtensendungen, in denen die schrecklichen Details der Operation und die Diskussion der Frage, ob wir nun auch Kenia von der Liste der Urlaubsländer streichen müssen, mühelos Platz fanden. Wer Hintergründe wollte, der fand einige im »auslandsjournal«. So zynisch es klingt: Wenn die Raketen das Flugzeug getroffen hätten, oder wenn es ein Hotel mit vielen deutschen Touristen gewesen wäre, dann wären deutsche Politiker unter größerem Zugzwang, sich grundsätzlicher mit der neuen Bedrohung zu befassen. Und wir hätten uns mehr Zeit genommen, die wahre Bedeutung dieses Anschlags und der in Tunesien und auf Bali zu erklären: Je besser der Staat die vermeintlich absehbaren Ziele – Botschaften, Synagogen, Militärbasen – schützt, desto wahrscheinlicher sind Anschläge auf die unvorhergesehenen Ziele: auf Hotels, Nachtclubs, Weihnachtsmärkte und Einkaufszentren.

Shimon Peres hat in unserer Dokumentation wohl am ehrlichsten und deutlichsten ausgesprochen, was sich viele Politiker nicht zu sagen trauen: »Was ist Bin Laden? Es ist die Privatisierung von Strategie: Ein Mann, eine kleine Gruppe, die keiner Regierung untersteht, die sich vor keinem Gericht verantworten muss, die weder Grenzen noch das Leben anderer respektiert, die jederzeit überall zuschlagen kann. Für ihn und eine solche Organisation ist jeder Terrorakt ein voller Erfolg. Für uns, die Verteidiger, reicht es nicht, wenn wir 80 Prozent der Anschläge verhindern können oder sogar 90 Prozent. Wir müssen rund um die Uhr in Alarmbereitschaft sein, das ganze Jahr.«

Umso wichtiger ist es, die Ereignisse im Krieg gegen den Terrorismus in unseren Sendungen immer und immer wieder zu hinterfragen. Das Phänomen des globalisierten Schreckens Bin-Laden’scher Prägung ist so komplex, verwirrend, beängstigend und so voller Widersprüche, dass gerade einem öffentlich-rechtlichen Sender eine besondere Verantwortung zukommt, den Menschen die Bewertung der Ereignisse zu erleichtern.

Wer oder was verbirgt sich hinter obskuren Firmen, bei denen geplante Razzien aufgrund politischer Einflussnahme abgesagt werden, obwohl sie ganz offenbar ein Tummelplatz für die Mitglieder der Hamburger Terrorzelle, für saudische Sponsoren des »Heiligen Kriegs« und für syrische Geheimagenten waren?

Wie kann es geschehen, dass ein Terrorismusverdächtiger, der enge Kontakte zu Osama bin Laden unterhielt, aus Deutschland verschwindet, ohne dass deutsche Ermittler merken, dass ihnen ein »dicker Fisch« des Terrornetzwerks vom Haken gesprungen ist?

Warum lassen Politiker vor lauter Spagat zwischen »die Lage ist ernst« und »es besteht überhaupt kein Anlass zu Panik« die Bevölkerung im Unklaren darüber, was mit der immer wieder zitierten »abstrakt hohen Gefährdung« eigentlich gemeint ist?

Dabei sind die Menschen nicht dumm. Sie werden oft leider nur für dumm gehalten. Mit der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus ist es wie mit den Abgründen in den Finanzhaushalten von Bund und Ländern. Weil sie glauben, dass die Bevölkerung die Wahrheit und vor allem die schmerzhaften Konsequenzen daraus nicht ertragen kann, verschweigen Politiker das Ausmaß der Misere. Dabei ahnen die meisten Menschen schon, dass nach der berechenbaren Bedrohung im Kalten Krieg und einem subjektiven Gefühl der Sicherheit in der Zeit danach, eine Zeit der kollektiven Unsicherheit angebrochen ist.

Das zu verschleiern, könnte fatale Folgen haben. Was geschieht, wenn es nun wirklich passiert, wenn der große Anschlag, womöglich mit biologischen, chemischen oder radioaktiven Stoffen hier in Deutschland erfolgt? Dann werden viele Behörden bei Bund, Ländern und Gemeinden nicht darauf vorbereitet sein. Dann werden viele Menschen das Vertrauern in die Politiker verlieren, die den Ernst der Lage beschönigt haben. Dann besteht die Gefahr, dass Verantwortliche in purem Aktionismus bei polizeilichen und gesetzgeberischen Maßnahmen zu Mitteln greifen, die mit demokratischen Grundwerten nicht mehr vereinbar sind – die US-Regierung hat dabei in einigen Punkten ein abschreckendes Beispiel gegeben.

Natürlich läuft vieles besser bei der polizeilichen Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg, beim Austausch der Informationen zwischen den Geheimdiensten, bei der Gesprächsbereitschaft unter den Regierungen der Länder, die zum Ziel oder zum Ausgangspunkt des globalen Terrors werden können. Aber nur wenige haben verstanden, dass ähnlich wie bei der Bedrohung zu Zeiten des Kalten Kriegs ein Gesamtkonzept zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus erforderlich ist, das sich nicht nur auf militärische und polizeiliche Maßnahmen beschränkt. Die Toten von Djerba und Bali wurden offenbar nur zu schnell vergessen.

 
 
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