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2002  
ZDF Jahrbuch
Aus der Programmarbeit
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Alexander von Sobeck

Tage des Terrors
Wieder ein verlorenes Jahr für den Frieden im Nahen Osten

 
Alexander von Sobeck
Alexander von Sobeck


Panzer in Ramallah
Panzer in Ramallah


Durch einen Selbstmordanschlag zerstörter Bus
Durch einen Selbstmordanschlag zerstörter Bus
              
 

Die Schrecksekunde ist kurz geworden, wenn mitten in der Nacht drei Telefone gleichzeitig klingeln. Aus dem Tiefschlaf gerissen, fünf Fragen: Wie viele Tote? Wo? Was war das Ziel? Welcher Kameramann kann am schnellsten dort sein? Welche ist die nächste erreichbare Sendung?

Wieder ein Anschlag, ein voll besetzter Bus, ein Restaurant, eine Menschenansammlung.

20 Monate Korrespondent in Israel, das bedeutet über 100 schwere Selbstmordanschläge mit unzähligen Toten und Verletzten, die kleinen Feuerüberfälle und Schießereien nicht mitgerechnet. Die Bilder von verstümmelten Menschen, die in Deutschland schon längst keiner mehr sehen will, verfolgen einen bis in den Schlaf.

Berichterstattung über den Nahostkonflikt, das sei eine spannende Aufgabe, eine der großen journalistischen Herausforderungen, so jedenfalls wird es gerne von draußen gesehen. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus: 20 Monate hautnah erlebter Terror sind ein Albtraum, aus dem es scheinbar kein Erwachen gibt. Die Bilder des Schreckens gleichen sich, die Ereignisse sind austauschbar, jede Formulierung, die das Grauen beschreibt, klingt längst abgedroschen.

Israels Bevölkerung wird von radikalen Palästinensern terrorisiert und seine Regierung findet dagegen kein Rezept. Agonie hat sich in Aggression verwandelt, spürbar im Alltag, im Straßenverkehr, im Umgang der Menschen untereinander. Umgekehrt werden die israelischen Militäraktionen von der palästinensischen Bevölkerung als blanker Staatsterrorismus wahrgenommen. Begriffe wie »Anschlag und Vergeltung«, »Spirale der Gewalt«, »ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt«, beschreiben nur unzureichend einen Zustand völliger Politikunfähigkeit, in dem Menschenrechte täglich mit Füßen getreten werden, in dem nahezu täglich Menschen ihr Leben verlieren.

Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist auch ein Medienkrieg. Ein Kampf um die Bilder, die beweisen sollen, wer Täter und wer Opfer ist. Dazu ist inzwischen fast jedes Mittel recht. Die Palästinenser stilisieren selbst tote Babys zu Märtyrern. Die Israelis wollen mit immer neuen Restriktionen gegen die ausländische Presse, mit monatelangen Blockaden ganzer Städte, den Propagandafeldzug gewinnen. Und beide Seiten versuchen, sich in ihrer Desinformationspolitik zu übertreffen.

Im Krieg gegen den Terror erlaubt sich Israel, das Land, das sich selbst als einzigen demokratischen Rechtsstaat im Nahen Osten bezeichnet, jeden denkbaren Verstoß gegen die Grundfeste des internationalen Rechts. Kollektivstrafen gegen Angehörige von Selbstmordattentätern, Deportationen, Exekutionen mit Kampfhubschraubern oder Sprengfallen von vermeintlichen Drahtziehern. Die israelischen Internierungslager sind seit der Operation »Schutzwall« im April 2002 voll von palästinensischen Gefangenen, die ohne Verhandlung, ohne juristischen Beistand und ohne den Zutritt von Menschenrechtsorganisationen dort einem ungewissen Schicksal entgegen sehen. Seit Monaten dringt die israelische Armee mit Kampfpanzern in autonome Palästinenserstädte ein, tötet dabei immer wieder auch Unschuldige, hält quasi ein ganzes Volk in Geiselhaft.

Und die palästinensischen Terroristen bomben weiter, töten Ahnungslose. Ein Wahnsinn, der in den Moscheen gepredigt wird und den sie fehlgeleitet »Befreiungskampf« nennen. Yassir Arafat hatte lange, zu lange, auf dieser Klaviatur gespielt: Verhandlungen, wenn das Mitleid der Welt auf Seiten der Palästinenser war, Bomben gegen Israel, wenn es opportun schien. Arafat hat sich ins politische Abseits manövriert und dem legitimen Anspruch der Palästinenser auf einen eigenen Staat, den die Weltgemeinschaft inzwischen anerkannt hat, einen Bärendienst erwiesen. Sein Erzfeind, Israels Premierminister Ariel Scharon, reagierte auf ihn wie der berühmte pawlowsche Hund. Der gelernte General im Amt des Regierungschefs ließ seinem Militär, das Arafats Autonomiebehörde in Schutt und Asche legte, freie Hand. Schon vorher waren Symbole eines künftigen Palästinenserstaats zerstört worden. Die Landebahn des Flughafens in Gaza, das staatliche palästinensische Fernsehen und Radio, ohnmächtige Gewalt gegen Sachen, weil man des Terrors nicht Herr werden konnte; oft Einrichtungen, die mit Finanzmitteln der Europäischen Gemeinschaft errichtet worden waren, auch mit deutschen Steuergeldern. Dass dabei immer wieder Zivilisten sterben müssen, wie bei Luftangriffen auf Gazastadt mit schweren Fliegerbomben, nimmt man billigend in Kauf.

Wenn eine 95-jährige Palästinenserin von einem jungen israelischen Soldaten in einem vorbeifahrenden Taxi erschossen wird, wenn ein UN-Mitarbeiter im Kugelhagel stirbt, wenn ein italienischer Fotograf sechs Einschüsse aus dem Maschinengewehr eines israelischen Kampfpanzers in der Brust hat, dann gibt es meist noch nicht einmal eine Untersuchung. Ein Menschenleben ist kaum noch etwas wert, jedenfalls dann nicht, wenn es sich um einen Angehörigen des jeweils anderen Volkes handelt.

Je länger der Konflikt dauert, desto mehr entfernen sich Israelis und Palästinenser, desto brutaler wird er ausgetragen. Sie wissen nichts voneinander und wollen auch gar nichts mehr wissen. Palästinenser sehen in Israelis nur noch die schwer bewaffnete Besatzungsmacht, die sie an den Kontrollposten schikaniert und Jagd auf ihre Söhne macht. Umgekehrt vermuten die Israelis in jedem Palästinenser eine menschliche Bombe, ausgeschickt, um Frauen und Kinder zu töten. Selbst wenn heute eine politische Lösung für diesen Konflikt gefunden werden könnte – und davon sind die Beteiligten weiter entfernt denn je –, wird es Generationen dauern, bis diese beiden Völker in der Lage sind, in friedlicher Nachbarschaft zu leben.

Auch die Nebenwirkungen des Konfikts sind fatal. Israels Wirtschaft, die noch vor mehr als zwei Jahren die Hoffnung der ganzen Region war, bricht zusammen. Touristen und Pilger bleiben aus. In den palästinensischen Autonomiegebieten ist jede Aussicht auf Prosperität und wirtschaftliche Zukunft zusammengebrochen. Die Menschen verelenden, die sozialen Strukturen kollabieren. Und weder auf israelischer noch auf palästinensischer Seite gibt es noch die Vision, eines Tages in friedlicher Nachbarschaft leben zu können.

Zum Schluss der Versuch, in all dem Grauen etwas Positives zu finden: die Dankbarkeit dafür, dass alle Mitarbeiter des ZDF-Studios Tel Aviv – Deutsche, Israelis und Palästinenser – das Jahr 2002 mit heiler Haut überstanden haben. Doch am Horizont ziehen zum Jahreswechsel wieder dunkle Wolken auf. Ein neuer Golfkrieg droht, mit Israel als potentiellem Ziel für Saddam Husseins Scud-Raketen. Wenn dann mitten in der Nacht das Telefon klingelt und der Traum einmal mehr zum Albtraum wird, bleibt vielleicht gerade noch Zeit für eine weitere Frage: Wie lange noch?

Und wahrscheinlich werden noch Generationen von Korrespondenten die gleiche Frage stellen. Denn Frieden war im Nahen Osten selten mehr als nur ein Wort.

 
 
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