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2002  
ZDF Jahrbuch
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Udo van Kampen

New York nach dem Trauma
Impressionen aus der verwundeten Stadt

 
Udo van Kampen
Udo van Kampen


Ein Jahr danach: Ground Zero
Ein Jahr danach: Ground Zero
              
 

Sie schimpfen wieder in allen Sprachen der Welt, hupen ungeduldig im Verkehrsstau und zeigen ihre alte »Attitude«. Vorbei ist es mit der Höflichkeit und Sanftheit, die nach den Terroranschlägen der Hektik dieser schnellen Stadt gewichen war. New York, wie es schon immer war.

Die vielen Gedenkstätten, die nach dem 11. September 2001 zunächst von Angehörigen, dann Trauernden aus der ganzen Welt an Zäunen und Mauern rund um Ground Zero mit Fotos, Briefen und Dankesbeweisen behängt wurden, sind inzwischen abgebaut. Es waren Pilgerstätten, an denen selbst ein Jahr danach immer noch Menschen tief ergriffen waren. Doch die Leute, die um Ground Zero arbeiten und leben, wollten nicht mehr ständig an »9-11« erinnert werden. Jetzt sollen die Andenken an Museen im ganzen Land verteilt werden.

Es ist eigentlich wieder so wie früher – bemerken Touristen, die zum Weihnachtsbummel 2002 nach New York gereist waren. Und doch hat sich die Stadt verändert. Neue Anti-Terror-Läden verkaufen ABC-Schutzanzüge, Gasmasken und Schutzzelte für die ganze Familie – einschließlich Hund und Katze. Früher hätte man das als exzentrisch belächelt. Nach dem 11. September ist es mehr als eine Kuriosität. Tausende von New Yorkern leiden an posttraumatischen Stress-Syndromen – darunter auch viele Kinder. Die achtjährige Kristina hatte uns nach den Anschlägen so eloquent über ihre Ängste und ihre Wut gegenüber den Terroristen erzählt. Ein Jahr später trafen wir sie auf einem Spielplatz wieder. Sie schien vergnügt, doch sie erzählte uns, dass sie auch ein Jahr danach noch ständig an den 11. September denken müsse. Oft wache sie nachts auf und fürchte sich. Sie mag über den Terroranschlag heute nicht mehr reden, weil sie dann noch mehr Angst kriege.

New York war schon immer das liberale Gewissen Amerikas. Doch nach »9-11« dauerte es fast ein Jahr, bis Stimmen der Kritik an Bushs Irak- und Anti-Terror-Politik laut wurden. Der Dramaturg Ron Kushner gehört zu den Verfassern eines Aufrufs gegen die Irakpolitik des Präsidenten und für die Verteidigung von Bürgerrechten. Inzwischen stehen fast 30 000 Unterschriften von Prominenten und Intellektuellen unter dem Anti-Kriegsmanifest »Nicht in unserem Namen«.

Viele Aktivisten, die wir in New Yorker Kirchen, Universitäten und Gemeindehäusern kennen gelernt haben, sind schon bei Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg mitmarschiert. Ein Jahr nach den Anschlägen hat Ron Kushner weniger Angst vor Terroristen selbst als vor den Anti-Terrorgesetzen der Bush-Regierung, die Grundrechte einschränken und ein Klima von Misstrauen und Schnüffelstaat schüren.

Tausende unschuldiger Menschen sind nach dem 11. September hinter Gittern verschwunden, ohne dass sie je eines Verbrechens angeklagt wurden. Keiner kennt ihre Namen, oft ist ihnen jeder Kontakt zur Außenwelt verboten. Meist sind es läppische Visumvergehen, die zur Verhaftung reichen. Ex-Außenminister Warren Christopher warnt: Das freieste Land der Welt erinnere ihn heute an das Verhalten einer Militärjunta, die Dissidenten plötzlich verschwinden lässt.

Nach Schätzung von Amnesty International sitzen immer noch rund 1 200 meist muslimische Menschen in Untersuchungshaft. Der Palästinenser Ali Yahni wurde im Oktober 2001 verhaftet. Ein Nachbar will abfällige, antiamerikanische Kommentare von ihm auf der Straße gehört haben. Über ein Jahr saß Ali, der mit einer Amerikanerin afghanischer Abstammung seit zwölf Jahren verheiratet ist und mit der er drei Söhne hat, in Einzelhaft. Angeklagt wurde Ali nie. Trotzdem wurde er nach 14 Monaten nach Jordanien abgeschoben. Weder seine Familie noch seine Anwältin wussten von der Deportation. Heute kämpft seine Frau für die Rückkehr ihres Mannes. Kein Einzelfall: Ausländer haben in den USA nicht mehr die gleichen Rechte wie Amerikaner.

In der Woche vor Weihnachten 2002 gab es wieder eine Verhaftungswelle. 8 000 meist muslimische und arabischstämmige Männer waren aufgefordert worden, sich zu »freiwilligen Verhören« bei der Polizei zu melden. Schon bei lapidarsten Einreisevergehen wurden sie auf der Stelle weggesperrt. »Das ist der Preis, den wir für unsere Sicherheit bezahlen müssen«, verteidigen viele Amerikaner solche Übergriffe. Wer nichts zu verbergen habe, brauche sich nicht zu fürchten. Dagegen argumentiert eine New Yorker Anwältin, die inhaftierte muslimische Männer vertritt: »Es ist einfach, die Rechte anderer einzuschränken, solange man nicht selbst betroffen ist.«

Am Eingang des Gebäudes, in dem unser Studio ist, warnt ein Schild: »Dieses Gebäude wird von mindestens 27 Videokameras überwacht« – typisch für die Sicherheitsmaßnahmen in New York City heute. Wenn man darauf achtet, fallen einem die kleinen Kameras überall in der Stadt auf: Big Brother is watching you!

Seit Präsident Bush den »USA Patriot’s Act« fast ohne Gegenstimmen durch Senat und Kongress gepaukt hat, sind Freiheit der Rede und der Privatsphäre eingeschränkt. Erlaubt ist heute alles, was dem Staat auf Terroristenhatz zu nützen scheint: Das Abhören von Gesprächen zwischen Anwälten und Klienten, das Erschnüffeln von Lesegewohnheiten der Bücherei-Kunden, das Aufzeichnen von E-Mail-Verkehr, das Infiltrieren religiöser Minderheiten.

An den Universitäten werden Studenten von Gruppen wie »Campuswatch.com« aufgefordert, Professoren zu melden, die »staatsfeindliche« und israelkritische Bemerkungen in Wort und Schrift machen. Auf Webseiten werden die verleumderischen Listen dann veröffentlicht.

Die Freiheit von Forschung und Lehre ist in einem Klima von Schnüffelei und Überwachung gefährdet, berichteten uns Professoren an der New Yorker New School. Besonders ausländische Studenten fürchteten sich, ihre Meinung offen zu sagen. Angst und Einschüchterung machten sich breit. Der Geist von McCarthy fegt wie ein eisiger Wind durch das Land.

Das freieste Land der Welt – nichts als eine Illusion? So ganz will ich die Hoffnung nicht aufgeben. Amerika hat eine lange demokratische Tradition. Der 11. September war ein Trauma für die Amerikaner, die erstmals auf eigenem Boden angegriffen wurden. Das hat zu Überreaktionen geführt. Ich glaube, das Pendel wird wieder umschlagen. Journalisten, die nach dem 11. September zuerst Patrioten und dann erst Journalisten zu sein schienen, werden wieder an die Watergate-Tradition anknüpfen. Die Amerikaner – von konservativer wie linker Couleur – vereinigt ein tiefgreifendes Misstrauen gegen jegliche Staatsgewalt. Sie werden aufwachen und die verlorenen Bürgerrechte zurückfordern. Doch was der Staat seinen Bürgern erst einmal abgetrotzt hat, wird er nur schwer wieder abgeben.

 
 
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