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2002  
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Uwe Kröger

Afghanistan nach dem Ende des Taliban-Regimes

 
Uwe Kröger
Uwe Kröger


Deutscher Soldat
der ISAF in Kabul


Begegnung in Kabul
Begegnung in Kabul


Kabul: Ansätze der Normalisierung
Kabul: Ansätze der Normalisierung
              
 

»Es wird wieder schlimmer.« So verabschiedet mich Zaki Massoud, unser Kabuler Stringer, Dolmetscher und Freund seit über einem Jahr, am Heiligabend 2002. »Wenn zehn Menschen den Frieden wollen und einer nicht, dann ist die Balance gestört«, fügt er hinzu, während ich den süßen grünen Tee schlürfe, der in der Bamiyan Brasserie im kriegszernarbten Intercontinental Hotel schon während des Taliban-Regimes gereicht wurde, jetzt von Obern in zerschlissenen Uniformen; ihre Bärte sind seit dem Taliban-Fall kürzer geworden, und manche bescheiden sich gar mit einem Schnauzer. Die Vergangenheit arrangiert sich mit der Zukunft in Afghanistan; nicht nur im Interconti.

Kabul grüßt das neue Jahr 2003 als Dreimillionen-Stadt, in der freilich kaum mehr die Nachkriegseuphorie aufzuspüren ist. Nach zwei Jahrzehnten Krieg, Bürgerkrieg und Terror scheint vielen Afghanen inzwischen das Talent und die Energie für Aufbruchstimmung abhanden gekommen zu sein. Die zahllosen Landcruisers mit den großen Flaggen der internationalen Hilfsorganisationen signalisieren Präsenz, aber nach dem Geschmack der Bedürftigen bislang kaum Effizienz der Helfer.

Die gute Nachricht: In Afghanistans Hauptstadt Kabul gibt es selbst ein Jahr nach dem amerikanischen Sieg über die Taliban noch keine Filiale von McDonald’s, Wendy’s oder Pizza Hut; »Starbucks« ist Lichtjahre entfernt. Die Globalisierung hat die gebirgsumschlossene Stadt am Hindukusch bislang erst in Gestalt von »FedEx« erreicht; als lokale Kurierdienst-Antwort hat der Deutsche Entwicklungsdienst ein nur auf den ersten Blick bizarres Projekt gestartet: Beinamputierte Minenopfer strampeln auf Fahrrädern durch Kabul und befördern Briefe und Päckchen.

Niemand ist schneller als sie, denn die Hauptstadt hat sich längst zu einem Ort entwickelt, wo sich die Autos zu unauflösbaren Staus ineinander verkeilen; die Zahl der gelben Taxis hat sich auf weit über 30 000 verzehnfacht – vermutlich gibt es in keiner anderen Metropole unseres Planeten mehr Taxifahrer ohne Führerschein. Doch wenn die chronische Verstopfung der Innenstadt als untrügliches Zeichen für wirtschaftlichen Aufschwung gewertet werden mag, so breitet sich doch Unmut aus, der Nachkriegszeiten vielerorts prägt: Für zu viele Menschen ändern sich die Lebensbedingungen zu schleppend und zu wenig.

Wenn sich Kabul seit dem Taliban-Ende auf drei Millionen Menschen aufgebläht hat, so sind viele von ihnen heimgekehrte Flüchtlinge, die lange Jahre in erbärmlichen Lagern in Pakistan und im Iran der Chance zur Heimkehr entgegengefiebert haben. Hatten die Vereinten Nationen mit maximal 800 000 Heimkehrern im ersten Jahr gerechnet, so lag deren wahre Zahl mindestens zweieinhalbmal so hoch. Viele von ihnen sind in Kabul hängen geblieben, wo der Winter der Jahreswende 2002/ 2003 Heerscharen von ihnen als die neuen Obdachlosen antrifft – ohne Bleibe, ohne Jobs, ohne Nahrung oft. Kinder erfrieren in Kabul bereits, als man sich anderswo in der Welt auf heimelige Weihnachten vorbereitet. Manche der Heimkehrer bereuen, dass sie der Verheißung des Friedens in Afghanistan Glauben geschenkt haben und unverzüglich zurückgekommen sind.

Und doch, trotz aller Zögerlichkeit der Normalisierung und stolperndem Fortschritt – ein Jahr danach ist eine markante Eintragung auf der Haben-Seite angebracht: Weder Afghanistan noch die internationale Gemeinschaft haben die Chance des Neubeginns verspielt, den sie nur im Geiste entschlossenen Miteinanders bewältigen können. Der politische Prozess, auf dem Petersberg nach dem Taliban-Ende in seinen entscheidenden Stationen markiert und ein Jahr später dort sozusagen durch »Petersberg-Mach-2« auch bekräftigt, ist auf Kurs, trotz gelegentlichem Holpern und Störfeuer durch jene, die ihn zu sabotieren trachten: wieder erstarkende Taliban- und Al-Qaida-Kräfte sowie andere, die in der durch westliches Demokratieverständnis geprägten Zukunftsorientierung den Verrat an der Idee eines islamischen Staats Afghanistan und die Gefahr von Fremdbestimnmung erblicken. Das Risiko von Destabilisierung droht von Kriegstreibern im Untergrund und auch jenen Kriegsherren außerhalb Kabuls, die ihre Pfründe verteidigen oder auch ihre Glaubensüberzeugungen; die letzteren dürften die gefährlichsten sein – etwa der Islam-Gelehrte Abdul Rasul Sayyaf, der trotz Treueschwüren von den Bergen von Pahman aus argwöhnt, dass Präsident Hamid Karzai lediglich eine Marionette der Amerikaner sei und sich anschicke, Washingtons eigentliche Afghanistan-Agenda umzusetzen – nämlich am Hindukusch einen komfortablen US-Stützpunkt einzurichten, strategisch perfekt platziert, nahe den zentralasiatischen Ölfeldern.

Washington hat um die Jahreswende noch weit über 7 000 Soldaten in Afghanistan stationiert. Die amerikanische Strategie indes verschiebt sich von der begrenzt erfolgreichen Jagd auf Taliban- und Al-Qaida-Reste auf das Prinzip von »Nation Building«: Mehr und mehr sollen konkrete Entwicklungsprojekte unter dem Feuerschutz der GIs und Marines gefördert werden, besonders außerhalb der Hauptstadt Kabul. Die Amerikaner wollen durch diese Kurskorrektur nicht zuletzt den Makel abschütteln, sie machten noch immer zu sehr gemeinsame Sache mit den Warlords, mit denen sie Zweckbündnisse eingegangen waren und manchen Schulterschluss während des Kriegs gegen die Taliban geübt hatten.

Amerika sieht sich dort in der Pflicht, wo die Internationale Schutztruppe für Kabul, die ISAF, nicht hinreicht. Die Übergangsregierung von Hamid Karzai betrachtet die geographische Beschränkung der ISAF auf den Großraum Kabul als groben Verstoß gegen das Sicherheitsbedürfnis der Menschen in der Provinz und die Notwendigkeit, die politische Kontrolle der Zentralregierung über die Hauptstadt hinaus auszudehnen, nicht zuletzt, um endlich die Macht der Warlords zu verringern.

Hamid Karzai wird oft als »König ohne Land« belächelt, dessen Einfluss nicht über die Stadtgrenzen von Kabul hinausreiche. Vergessen wird dabei oft, dass in Afghanistans leidvoller Geschichte die Zentralregierung landesweit nie eine große Rolle gespielt hat; Afghanistan hat eine zwar nicht demokratisch begründete, wohl aber traditionell gefestigte föderale Struktur entwickelt, der allzu offenkundige Ansprüche aus Kabul zuwiderlaufen würden. Zudem hat die Zentralregierung in den Augen vieler, besonders im Süden und Osten des Landes, noch den deutlichen Schönheitsfehler tadschikischer Dominanz, Folge der Tatsache, dass es die Nord-Allianz war, der die Amerikaner den Weg nach Kabul freigebombt hatten.

Ein potenzieller Todesschütze verfehlt Hamid Karzai bei einem Anschlag im südlichen Kandahar um Zentimeter. Bomben explodieren in Kabul. Ein offenkundiger Selbstmordattentäter, mit Handgranaten bewaffnet, versucht sich Zutritt zum ISAFFeldlager »Camp Warehouse« zu verschaffen. Ausländer werden zu Zielscheiben. Geheimdienste berichten von erstarkenden Ex-Taliban- und Al-Qaida-Kräften. Die Flaggen von UN und NGOs im Straßenbild von Kabul provozieren manche, die ihren muslimischen Glauben durch Überfremdung, besonders Verwestlichung bedroht sehen. Allzu vollmundige Demokratisierungsansprüche des Auslands kollidieren mit dem Selbstverständnis der strenggläubigen Afghanen, die den Sieg über die Taliban nicht mit einer Schwächung des Islam in ihrem Land bezahlen möchten.

Beim süßen grünen Tee im Interconti in Kabul sind es diese Dinge, die der ZDF-Stringer und Korrespondentenfreund Zaki Massoud mit sanfter Sorge anspricht. Er weiß besser als der fremde Journalist, dass der frische Wind der neuen Freiheit viel Unterdrückung, Einschüchterung und Verelendung weggeweht hat, dass besonders die Frauen, unter den Taliban ins Mittelalter verbannt, eine Befreiung vielfältiger Art erleben. Aber Zaki kennt auch die Sensibilitäten und Anflüge von Skepsis, mit denen seine Landsleute die Veränderungen registrieren, die nach dem Willen der internationalen Gemeinschaft und ihres Präsidenten die Eckpfosten für Afghanistans Zukunft bilden sollen. Es gibt wohl keine Zukunft hier, die sich nicht auch mit den Traditionen der Vergangenheit arrangiert.

Mit anderen Worten: Wenn »Starbucks« dann doch kommt, muss wenigstens auch der süße grüne Tee auf der Karte stehen.

 
 
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