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2002  
ZDF Jahrbuch
Aus der Programmarbeit
Nikolaus Brender
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Peter Frey

Wer inszeniert wen?
Politik und Medien in den Zeiten des Wahlkampfs

 
Peter Frey
Peter Frey


Sabine Christiansen und Maybrit Illner
Sabine Christiansen und Maybrit Illner
              
 

Selten wurde dem deutschen Fernsehpublikum das symbiotische Verhältnis von Politik und Medien so unverfälscht dargeboten wie im Jahr 2002. Vom »Staatstheater« bei der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes im Bundesrat über die beiden Fernsehduelle vor der Bundestagswahl am 22. September – die ersten in der Geschichte der Bundesrepublik – bis zum medialen Kater, als sich die Parteien über Lügen in den Zeiten des Wahlkampfs stritten. Immer ging es mehr um Stil- als um Sachfragen, mehr um die Show als um politische Inhalte. Nicht der Streit über die wichtigen Reformen oder gar ideologische Positionen standen im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen, sondern fast allein der Auftritt. »Wie war ich, Doris?«, soll der Kanzler ja bisweilen seine medienerfahrene Gattin fragen. Schlecht, hätte Karin Stoiber antworten müssen, nach jenem Stotter-Talk des Kanzlerkandidaten bei Sabine Christiansen. Doch was bedeutet es für die Demokratie, wenn nicht politischer Richtungsstreit, sondern die Medien-Performance der Spitzenleute die Message ist? Worum geht es im Wahlkampf eigentlich? Um einen Anchor-Job im Massenmedium oder um das höchste Regierungsamt?

Geradezu symptomatisch für das Klima des Wahlkampfs 2002 war, dass allenthalben hervorgehoben wurde, medial betrachtet sei Edmund Stoiber »nach Christiansen« kein einziger Ausrutscher mehr passiert. So wurden die Präsentation einer unverheirateten Mutter als familienpolitische Expertin und Stoibers halsbrecherische Positionsveränderungen in Sachen Irak-Politik weniger wichtig als die Verblüffung, die Stoiber bei Freund und Feind mit seinem professionell-konzentrierten Auftritt im ersten Fernsehduell erzeugte. Sicher, in der zweiten Sendung hatte der Kanzler zur alten Form zurückgefunden, stellte, mal locker, mal entschieden, den Draht zum Publikum wie gewohnt her und ließ diesmal keinen Zweifel daran, wer mehr Medienkompetenz hat. Übrigens war es vielleicht diese Sendung, die Schröders Gefolgschaft drei Wochen vor der Wahl das Gefühl zurückgegeben hat: Wir können es doch noch schaffen – und die SPD am 22. September hauchdünn vor der Union landen ließ. Aber zu keinem anderen Zeitpunkt war Stoiber so auf Augenhöhe mit dem »Medienkanzler« Schröder wie am Ende des ersten Duells.

Doch worum war es bei den Duellen gegangen? Selbstverständlich waren die Kontrahenten zum Irak-Krieg, zur Arbeitslosigkeit, zu den notwendigen Reformen für Deutschland befragt worden. Aber nach ungezählten Solo-Auftritten in Interviews, nach den bleiwüstenartigen »Print-Duellen« von Bild bis Süddeutscher Zeitung waren neue Positionen, frischer Streit nicht mehr zu erwarten. So ging es vor allem ums »Rüberkommen«. Die Amerikaner, seit 1960 an TV-Duelle als Höhepunkt des Präsidentenwahlkampfs gewöhnt, sagen es ganz schlicht: Eigentlich stimmen die Menschen doch darüber ab, wen sie Abend für Abend via Bildschirm bei sich im Wohnzimmer haben wollen. Da zählen Optik, Stimme, das Talent, einen Witz zu machen, mehr als ein ausgefeiltes Konzept zur Gesundheitspolitik. Ein Präsidiumsmitglied der Union gab – nach verlorener Wahl – dem Wahlvolk die Schuld an der Niederlage der CDU/CSU, »weil die Deutschen eine Politik schwankender Stimmungen wollten«. Aber er räumte ein, Gerhard Schröder entspreche offenbar mehr »dem Lebensgefühl einer Mehrheit der Deutschen« (Christoph Böhr in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung).

Und so war es: Nach Monaten im demoskopischen Jammertal wuchs dem Amtsinhaber in der letzten Phase des Wahlkampfs ein Riesenvorteil zu. Zwei Sachthemen verbanden sich mit seiner Person. Für eines konnte er nichts: die Flutkatastrophe. Das andere hat er – wie wir Journalisten sagen – selbst »hochgezogen«: die Rolle Deutschlands in einem möglichen Irak-Krieg. Beide Themen haben gezündet, haben Befindlichkeiten und Besorgnisse der Deutschen, und insofern ihr Lebensgefühl, widergespiegelt. Instinktsicher, wie er ist, hat Schröder diese Themen genutzt und medial mit seiner Person verbunden. Man mag das Talent, aus Stimmungen Politik zu machen, beklagen – vor allem dann, wenn man es selbst nicht hat. Aber die Aufforderung, wieder die Sachpolitik, den Streit der Argumente in den Mittelpunkt der Wahlauseinandersetzungen zu stellen, erscheint in der Wirklichkeit der real-existierenden Mediendemokratie eher als hilfsloser Appell schlechter Verlierer. Wer auf dem Marktplatz gehört werden will, muss sich durchsetzen. Im übrigen gilt diese Währung für alle gleich.

Über die Notwendigkeit der Inszenierung von Politik hat Saarlands Ministerpräsident Peter Müller in bemerkenswerter Offenheit – seine Parteifreunde würden sagen: grenzenloser Naivität – gesprochen. Unverstellt, wie sich Politiker nur selten über ihr eigenes Handwerk äußern, beschrieb er die anscheinend spontane Empörung der Unions-Ministerpräsidenten in jener tumultösen Bundesratssitzung, als über das Zuwanderungsgesetz abgestimmt wurde: »Die Empörung haben wir verabredet. Das war Theater, aber es war legitimes Theater. Warum war es legitim? Weil die dort zum Ausdruck gebrachte Empörung einen ehrlichen Hintergrund hatte.«

Es gilt für die Politik also das alte Theatergesetz: Wer über die Rampe kommen will, muss sich etwas ausdenken. Bemerkenswert ist, dass Müller in seiner Argumentation zur Ehrlichkeit als Kategorie der moralischen Rechtfertigung greift. Denn, und das lehrt nicht erst dieses Jahr 2002, die Inszenierung der Politik hat eine große Schwester: die Lüge. Man wird darüber streiten können, wie sinnvoll es ist, Versprechungen eines Wahlkampfs anschließend in einem Untersuchungsausschuss des Bundestags aufzuarbeiten. Aber der Kanzler und seine Partei wagten zwischen den Aussagen im Wahlkampf (Schröder: »Steuererhöhungen ... sind unnötig«, Eichel: »Ich plane keine Steuererhöhungen«) und der nach dem Wahlsieg sofort einsetzenden Erhöhung von Steuern und Abgaben schon einen geradezu kaltschnäuzigen Spagat. Anders als es die empörte Opposition glauben machen will, war es aber nicht die erste Lüge in einem Wahlkampf – und vielleicht nicht einmal die unverschämteste. Immerhin war es ausgerechnet die jetzt so viel gescholtene Bild-Zeitung gewesen, die am 27. Februar 1991 Helmut Kohl langgestreckt auf Seite eins gezeigt hatte – als Umfaller. So teilt ein Boulevard-Blatt Ohrfeigen aus, wenn ein frischgewählter Bundeskanzler nicht hält, was er versprochen hat. Gustav Seibt nannte Kohls Wählerbetrug im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vornehmer die »Urlüge« der deutschen Politik: die »Suggestion Helmut Kohls, die Kosten der Wiedervereinigung seien aus den laufenden Haushalten zu finanzieren«.

Es geht aber nicht nur um Vorwürfe, die an die Politik zu richten sind, von Kohl bis Schröder. Es geht auch um die Frage, warum die Politik die Lüge offenbar nötig hat. Erwarten wir einfach zu viel Wahrheit in der Politik, über die schon Hannah Arendt weiß: »Lügen scheint zum Handwerk nicht nur des Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmanns zu gehören.«? Gehört die Lüge also – wie die Berliner Zeitung schrieb – »zum politischen Geschäft wie der Köder an der Leine des Anglers«? Darauf gibt es zwei Antworten. Die eine heißt: Die Politik traut dem Wähler die Wahrheit nicht zu – und die Medien üben zu wenig Druck aus, die Politiker zur Wahrheit zu zwingen. Die andere ist irritierender. Wir erinnern noch einmal an die Wiedervereinigung, an den 1990 unterlegenen Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine. Er zeigte sich skeptisch über die Kosten der Wiedervereinigung, kündigte dem Wähler Opfer an – und wurde nicht gewählt. Der Wähler glaubte lieber an »blühende Landschaften«, als sich Zumutungen zu stellen. Die zweite Antwort heißt demnach: Der Bürger will belogen werden. Lässt sich das mit Hilfe der Medien ändern?

Wir Journalisten sitzen mit im Boot. Die Politiker schauen auf uns und sagen: Ihr seid es doch, die die Inszenierung verlangen. Welche differenzierte Botschaft hat denn noch eine Chance, gedruckt zu werden oder in die Fernsehnachrichten zu kommen? Wenn wir zuspitzen – dann für euch. Aber auch die Journalisten klagen über Zwänge. Die Vervielfältigung der Medien, die Kommerzialisierung des Geschäfts, das zunehmende Tempo und der Zwang zur Exklusivität verwischen die Grenzen. Wenn Politiker vor einem Wald aus Kameras und Mikrophonen stehen, ist für Fragesteller meist gar kein Platz mehr. Statt Nachfragen gibt’s Statements, statt Pressekonferenzen die neumodisch so genannten »Stake Outs«. Politiker sagen einfach, was sie wollen – und verschwinden dann wieder hinter verschlossenen Türen. Da wird mancher dankbar für Brosamen vom Tisch der Mächtigen – dankbar, dass er diese und nicht eine andere Sendung, dies und nicht ein anderes Programm wählt, um sich dem geneigten Publikum zu präsentieren. Unter diesen Umständen wird Distanz zunehmend schwieriger. Aus dem Dilemma heraus führt nur ein klares Bewusstsein über die unterschiedlichen Rollen der Akteure. Für Journalisten gibt es keine verbotenen Fragen. Lügen müssen entlarvt werden – wenn möglich noch vor dem Wahltag. Wahrheit muss Wahrheit bleiben. Politiker stehen dagegen im Zwang, zu integrieren. Sie brauchen positive Botschaften. Wenn ein Land in der Krise steckt, wird im Wahlkampf die Täuschung, auch die Selbsttäuschung, wie Hannah Arendt sagt, da fast zum Zwang. Journalisten haben es leichter. Sie müssen nicht wieder gewählt werden. Aber sie müssen sich gegen Täuschungsversuche stemmen. Gute Chefredakteure, Herausgeber, Intendanten schützen sie dabei. Sie müssen sich nur gemeinsam trauen.

Zurück ins Jahr 2002: Selbstverständlich gab es viele kritische Berichte zur Wirtschaftslage in Deutschland, die den Versprechungen Schröders und Eichels deutlich widersprachen. Trotzdem spülte die Flut alle anderen Themen buchstäblich davon. Die Financial Times Deutschland schreibt dazu am 24. September: »Die Flut hat Deutschland in ein Koma geführt. Als die Deutschen wieder erwachten, schienen sich die Journalisten nicht mehr an die Themen zu erinnern, über die sie vor der Katastrophe informierten.« Waren die Medien zu unkritisch? Haben sie sich mitreißen lassen? Ja und Nein. Gegen diesen Schlag der Natur, den größten, den Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zu verkraften hatte, gegen die Macht der Bilder, die die Flut mit sich brachte, kam kein anderes Thema an.

Kanzler Schröder hatte übrigens einen einzigen Auftritt im Überschwemmungsgebiet. Er war für knapp zwei Stunden im Hubschrauber nach Grimma geflogen. Ansonsten blieb er im Kanzleramt. Aber das Bild vom Kanzler im olivfarbenen Parka des Technischen Hilfswerks haftete im Gedächtnis – so wie Kohl vor der Frauenkirche im Dezember 1989. Wer wollte da schon noch wissen, ob Deutschland die Brüsseler Stabilitätskriterien reißt oder wer das nächste Mitglied in Stoibers Kompetenz-Team wird?

 
 
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