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2002  
ZDF Jahrbuch
Aus der Programmarbeit
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Eberhard Piltz

Ein Jahr nach dem 11. September
"Amerika befindet sich im Krieg"

 
Eberhard Piltz
Eberhard Piltz
              
 

Was bedeutet ein Jahr in historischer Perspektive? Normalerweise nichts, weniger als einen Pulsschlag, doch die Zeiten sind nicht »normal« in Amerika nach dem Terrorschock vom 11. September 2001. Man kann heute bereits mit Fug und Recht feststellen, dass dieses Datum eine Zäsur markiert. Zwar stimmt der oft zitierte Satz, dass »danach nichts mehr sei wie vorher«, nicht, aber verändert hat sich im Bewusstsein der Amerikaner doch viel und die politischen Koordinaten in Washington sind grundsätzlich verschoben. Weil die Vereinigten Staaten die dominierende Weltmacht sind, hat das globale Auswirkungen.

Die klassischen Phasen nach traumatischen Erlebnissen – Schock, Verdrängen, Trauer, Rationalisierung – hat das Land mit erstaunlicher Stärke bewältigt. Geholfen haben dabei Eigenschaften, die – sofern es so etwas wie einen Nationalcharakter gibt – die Amerikaner prägen: Sie sind überwiegend religiös und patriotisch, pragmatisch und zukunftsorientiert.

Geholfen haben auch Führungsqualitäten, die man bei dem neu und höchst umstritten ins Amt gekommenen Präsidenten und seiner Administration nicht von vornherein hatte erwarten können. Sie handelten entschlossen und überlegt. Den entscheidenden Satz, der bis heute und weiterhin gilt, hat George W. Bush gleich in seiner ersten großen Rede nach den Anschlägen gesagt: »Amerika befindet sich im Krieg.«

Je mehr Zeit seitdem vergangen ist und nachdem das Taliban-Regime in Afghanistan militärisch vernichtet wurde, ist diese Tatsache außerhalb der USA weitgehend aus dem Bewusstsein verdrängt worden. Das ist ein Fehler. Die Bush-Regierung meint diesen Satz ernst. Sie sieht in den Netzwerken des internationalen Terrorismus und der zunehmend wahrscheinlichen Verfügbarkeit von chemischen, biologischen und möglicherweise bald auch von nuklearen Massenvernichtungswaffen eine noch nie da gewesene Bedrohung. Die Formulierung »Achse des Bösen«, die Bush in seiner Rede zur Lage der Nation vor einem Jahr geprägt hat, ist politisch dubios und mag diplomatisch eine Katastrophe gewesen sein. Sie wirft dennoch ein scharfes Schlaglicht auf das Denken, das in Washington die politischen Kalkulationen bestimmt.

Weil die heutige Bedrohung, anders als die »Balance des Schreckens« zu Zeiten des Kalten Kriegs, »asymmetrisch« ist, wurde eine strategische Antwort formuliert, die inzwischen als Bush-Doktrin offiziell in die militärische Gesamtkonzeption der Vereinigten Staaten aufgenommen wurde. Demnach kann es notwendig und gerechtfertigt sein, einen »preemptive strike« zu führen, also einen Präventivkrieg zur Vernichtung einer Bedrohung. Diese radikal neue Doktrin ist grundsätzlich definiert, aktuell und konkret richtet sie sich gegen das Regime Saddam Husseins im Irak. Bei der inneramerikanischen Diskussion um den Irak-Konflikt ist es interessant zu beobachten, dass die Kriegsgegner an der moralischen und politischen Rechtfertigung zweifeln, die Legitimierung durch den UN-Sicherheitsrat fordern, die Kosten fürchten oder den Zeitpunkt für falsch halten – aber an der prinzipiellen Gültigkeit der Bush-Doktrin wird kaum gerüttelt.

Die Motive, die den Präsidenten und seine Berater zum Militärschlag gegen den Diktator in Bagdad entschlossen machen, sind vielschichtig. In Stichworten aneinander gereiht ergeben sie ein Bündel unterschiedlicher und unterschiedlich gewichtiger Argumente. Einige davon waren auch Ziele der US-Außenpolitik während der Präsidentschaft Bill Clintons. Im Rückblick erscheinen die Terroranschläge vom 11. September 2001 als eine Art Katalysator, der einen gärenden Meinungsbildungsprozess beschleunigt und fokussiert hat.

Im Vordergrund steht die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und die Erzwingung der seit dem ersten Golfkrieg vor zwölf Jahren unerfüllten Auflagen der UN-Resolutionen. Die Erdölinteressen Amerikas spielen eine wesentliche Rolle sowie die machtpolitische Dominanz der USA im Krisenbogen vom Mittelmeer bis zu der nach dem Zerfall der Sowjetunion im Umbruch befindlichen Kaukasusregion. Trotz der Gefahr, dass ein Irak-Krieg kurzfristig die Explosionsgefahr im Israel-Palästina-Konflikt erhöht, könnte von einer Demokratisierung des Irak langfristig eine stabilisierende Wirkung im Nahen Osten ausgehen.

Die USA unter George W. Bush wollen demonstrieren, dass sie ihre Position als einzige globale Supermacht behaupten und sie sich nicht – wie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg – wieder entgleiten lassen wollen. In all seinen Reden betont der Präsident, dass Amerika dabei keine neoimperialistischen Eroberungsgelüste bewegen, sondern das Streben nach Ordnung, in der die Globalisierung von Märkten und Ideen sich friedlich entwickeln kann. Dass George W. Bush bei seiner Vision von einer »pax americana« von sehr persönlichen religiösen Vorstellungen geprägt ist, steht außer Frage und zeigt sich in seinen ständigen Referenzen an die Kategorien von Gut und Böse. Geradezu zwangsläufig ist damit der Konflikt mit der Institution der Vereinten Nationen programmiert. Für die Hegemonialmacht können sie als Hilfsorganisation nützlich sein, als eigenständiges politisches Entscheidungsgremium stellen sie einen möglichen Störfaktor dar. Beim Krieg im Irak geht es auch um die künftige Relevanz des UN-Sicherheitsrats.

Wie immer und überall liegen außenpolitischen Entscheidungen auch innenpolitische Erwägungen zu Grunde. Der Präsident möchte im Herbst nächsten Jahres wiedergewählt werden. Es wäre nach seiner Regimewechsel-Rhetorik völlig undenkbar, dass er einen Wahlkampf erfolgreich bestreiten könnte, wenn in Bagdad dann noch immer Saddam Hussein regieren würde.

Nach dem 11. September 2001 sind die USA von einer wahren Patriotismuswelle erfasst worden. Sie ist im Laufe der Monate schwächer geworden, aber keineswegs verebbt. Dass in vielen Ländern der Welt – vor allem in islamischen Staaten und in Teilen Europas – daraufhin antiamerikanische Tendenzen verstärkt zum Ausdruck kommen, hätte früher automatisch in den USA den traditionellen Ruf nach Isolation, nach dem Rückzug in die Festung Amerika zur Folge gehabt. Das ist diesmal nicht der Fall – und auch das ist eine Wirkung des Terrorangriffs auf New York und Washington. Mit der Erkenntnis, dass sie nicht unverwundbar sind, haben die Amerikaner auch gelernt, dass sie ihre Rolle in der Welt nicht verleugnen können. Sie folgen mehrheitlich ihrem Präsidenten, der ihnen sagt, dass dies eine Rolle der Stärke sein muss.

 
 
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