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2002  
ZDF Jahrbuch
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Dirk Sager

Die Moskauer Geiselnahme - zwischen Leben und Tod

 
Dirk Sager
Dirk Sager


Tote tschetschenische Terroristinnen
Tote tschetschenische Terroristinnen


Evakuierung der Geiseln aus dem Moskauer Theater
Evakuierung der Geiseln aus dem Moskauer Theater
              
 

Die Geiseln, die bei der Befreiungsaktion und in der Folge umkamen, sind zu Grabe getragen. Die Leichen der getöteten Tschetschenen wurden verbrannt und die Asche an einem unbekannten Ort verscharrt, damit die Schmach sie bis in die Ewigkeit verfolge. Die Überlebenden ringen mit den Erinnerungen an jene drei Nächte und zwei Tage, mit Bildern, die sie nie verlassen werden. Der Präsident hat die größte Herausforderung seiner Amtszeit überstanden, ohne politisch Schaden zu nehmen. Die Duma lehnte es ab, eine Untersuchungskommission einzusetzen, die den Ablauf der Ereignisse untersucht und bewertet.

So werden viele Fragen unbeantwortet bleiben. Und viele Antworten bleiben im Raum stehen, obwohl sie sich schon damals als falsche Behauptung, als gezielte Lüge erwiesen hatten. Bewertet man die Vorgänge nach der Lesart der russischen Regierung, dann hat Russland im Kampf gegen den Terrorismus einen Sieg errungen. Die westlichen Staatsmänner machten sich diese Betrachtungsweise zu Eigen. Das forderte der Corpsgeist der »Allianz gegen den Terror«, aufgebaut nach dem 11. September 2001, nach dem begreiflichen Entsetzen über die ungeheuerlichen Attentate in den USA. Aber nicht alle in dieser Allianz haben, wenn sie von Terrorismus sprechen, die gleiche Tätergruppe im Auge. Und mancher verbindet mit diesem anscheinend unstrittigen Auftrag Ziele, die so unstrittig nicht sein können.

Das Grauen jener Tage lässt den Betrachter nicht los. Als am Abend jenes 23. Oktober die Nachricht von der Geiselnahme die Runde machte und das Fernsehen später die Bilder aus dem Kreml zeigte, die versteinerten Gesichter des Präsidenten und seiner Berater, war abzusehen, welchen Weg das Drama nehmen würde. Das Selbstbild des russischen Staats und seines Präsidenten ließen eine Verhandlungslösung nicht zu. Diese unglückliche Bewertung der Lage war nicht zu veröffentlichen, weil sie wie ein Todesurteil wirken musste für eine nicht absehbare Zahl von Menschen. Auch wollten einige russische Politiker eine solche Denkweise noch nicht akzeptieren. Der Vorsitzende der Partei Jakoblo, Gregorij Jawlinski, und der ehemalige Ministerpräsident und Außenminister Jewgenij Primakow fuhren zu Gesprächen mit den tschetschenischen Geiselnehmern. Sie fuhren auch in den Kreml. An der Planung des Ablaufs änderte das nichts.

Schon einmal hatte sich Russland in der Situation des Erpressten befunden, damals, als während des ersten Kriegs in Tschetschenien ein Trupp von Aufständischen ein Krankenhaus in der Stadt Budjonowsk besetzte. Jelzin war außer Landes, Premierminister Tschernomyrdin hatte die Krise zu lösen. Er verhandelte am Telefon vor laufenden Kameras über einen freien Abzug mit den Tschetschenen und kommentierte später den gütlichen Ausgang der Geiselnahme mit unvergesslichen Worten: »Ein neues Zeitalter hat begonnen. Zum ersten Mal in der russischen Geschichte sind Menschenleben wichtiger gewesen als politischer Nutzen.« Das neue Zeitalter hat jedoch nicht lange gewährt.

So wurde eine Entscheidung gefällt, die die Verantwortlichen mit ihrem Gewissen zu klären haben, die aber naturgemäß Empörung bei denen auslöste, die vor dem Theater um das Leben ihrer Angehörigen im Theater fürchteten. Ob die Befreiungsaktion als ein Erfolg zu bewerten ist, wenn 128 Geiseln dabei umkommen, ist eine Frage der Sichtweise. Vom militärischen Standpunkt gesehen, erfolgte der Sturm des Theaters mit beachtlicher Präzision. Dennoch ließ der Ablauf Raum für verstörte Fragen und befremdete Reaktionen. Die ausländischen Botschafter, die Bürger ihres Landes in dem Theater wussten, waren vor Ort. Doch die in Aussicht gestellte Möglichkeit, dass ausländische Geiseln aus dem Theater entlassen würden, zerschlug sich, ohne dass je klar wurde, weshalb. Einmal erklärte ein russischer Sprecher, die Botschafter seien nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen. Das machte die Diplomaten fassungslos.

Während die Spezialtruppen an einem ähnlich gebauten Theater in Moskau ihren Einsatz übten, bemühten sich die Verantwortlichen vor Ort, die Angehörigen und auch die Botschafter zu beruhigen. Mehr war ihnen wohl nicht aufgegeben. Die Journalistin Anna Politkowskaja, die sich durch ihre unabhängige Berichterstattung über Tschetschenien einen Namen gemacht hat, war den Geiselnehmern als Gesprächspartner willkommen. Sie erhielt von den Tschetschenen die Genehmigung, Getränke für die Geiseln ins Theater zu schaffen. Das aber war draußen in der Regie nicht vorgesehen. Es gab keine Getränke. Und Anna Politkowskaja sammelte unter Umstehenden Geld, um in einem Geschäft Mineralwasser und Saft zu kaufen.

Es liegt in der Natur einer solchen Situation, die Geiselnehmer als mordlustig und gewissenlos darzustellen. Zeugenaussagen von Geiseln nach der Befreiung korrigierten das Bild, ohne die Tschetschenen zu verklären. »Die Geiselnehmer behandelten uns gut, so gut wie eben Terroristen mit Geiseln umzugehen pflegen«, erzählte später eine junge Frau. »Uns schlug niemand. Sie brachten mir warme Kleidung.« Als das Gas eindrang, habe ihr eine Tschetschenin gesagt, »Mädchen, haut hier ab, geht raus.« Warum die tschetschenischen Frauen den Sprengstoff nicht zündeten, der im Theater verteilt war und den sie am Leib trugen, bleibt ein Rätsel. Geiseln bekundeten später, dass bis zu 30 Sekunden verstrichen seien, bis sie das Bewusstsein verloren hätten. Zeit genug, um zwei Drähte aneinander zu klemmen.

Alle wussten, was die Aussage des russischen Sprechers in den frühen Morgenstunden zum Sonnabend bedeutete, als der sagte, im Theater hätten die Tschetschenen mit der angekündigten Erschießung der Geiseln begonnen. Das war das Signal zum Sturm – entsprach aber nicht der tatsächlichen Lage. Die weiblichen Geiselnehmer hielten sich bei den Geiseln im Theatersaal auf, die Männer saßen im Zimmer des Theaterdirektors und sahen sich eine Videokassette mit dem Musical an. Sie alle wurden erschossen. Es gibt auf Seiten der Tschetschenen keine Zeugen der Aktion.

Das eingesetzte Gas ist bis heute ein Staatsgeheimnis geblieben. Die Zusammensetzung wurde nicht einmal den Ärzten mitgeteilt, die in den Krankenhäusern das Leben der bewusstlosen Geiseln retten sollten. Überhaupt war der zivile Teil des Unternehmens von Planlosigkeit gezeichnet. Der Präsident ließ sich in einem Spezialkrankenhaus für Vergiftungen der Öffentlichkeit zeigen. Die Zimmer ordentlich, mit zwei oder drei Patienten belegt. In den gewöhnlichen Kliniken bot sich ein anderes Bild. Sie waren von der Zahl der Eingelieferten überfordert und nicht einmal ausreichend mit elementarem Gerät ausgestattet. Im Krankenhaus Nr. 13 starben befreite Geiseln unversorgt auf den Fluren.

Die Empörung entlud sich sogar ganz unüblich im diplomatischen Bereich. So wenig wie die Angehörigen erfuhren die Botschafter, wohin die Geiseln nach ihrer Befreiung gelangt waren, in welches Krankenhaus – oder in welches Leichenschauhaus. Die Angehörigen irrten noch Tage danach durch die Stadt und suchten nach vermissten Familienmitgliedern – ein Schreckensweg zwischen Hoffnung und Gram. Der österreichische Botschafter empörte sich, weil ihm die Aussage untergeschoben worden war, ein österreichischer Staatsangehöriger sei an einer Lungenentzündung gestorben. Denn das hatte er nie gesagt, weil er es besser wusste. Der amerikanische Botschafter rügte den zwanghaften Geheimhaltungstrieb der Behörden.

Für Russland ging es um mehr als um die Befreiung der Geiseln. Der Akt des Terrors im Theater sollte genutzt werden, um auch politisch an Boden zu gewinnen. Am Freitagabend, als alle Welt bangend auf die sich zuspitzende Krise schaute, zeigten die russischen Fernsehsender eine Videoaufzeichnung, die ihnen, wie sie ankündigten, vom Geheimdienst übergeben worden war. Sie zeigte den Mann, den viele Tschetschenen immer noch als ihren rechtmäßigen Präsidenten betrachten, irgendwo in den kaukasischen Bergen. In knapp gehaltenen Worten hieß Maschadow die Aktion gut und kündigte weitere an. Erst am nächsten Tag wurde deutlich, dass dieses Band aus früheren Zeiten stammte und die Worte Maschadows sich auf ganz andere Dinge bezogen – nicht aber auf die Geiselnahme im Musical-Theater. Nie haben die Fernsehsender sich vor den Zuschauern korrigiert. Jeder Forderung im In- und Ausland, Putin solle Verhandlungen mit Aslan Maschadow suchen, um dem Krieg und dem Leid in Tschetschenien ein Ende zu bereiten, wurde mit diesem Video der Boden entzogen. Das war eine Irreführung in einer Dimension, wie sie das Land seit Sowjetzeiten nicht mehr erlebt hat.

Die russische Staatsräson soll um jeden Preis in Tschetschenien durchgesetzt werden. Dazu gehörte später auch das Ersuchen an Dänemark, den Beauftragten des Präsidenten Maschadow, den einstigen Schauspieler Achmed Sakajew, auszuliefern. Es hat auf russischer Seite unter Politikern nicht an Stimmen gefehlt, die im vergangenen Sommer Putin zu Verhandlungen aufgefordert haben. Der gewitzte »elder statesman« Primakow gehörte dazu und auch der frühere Sekretär des Sicherheitsrats Iwan Rybkin. Der hielt sich in Washington auf, als in Moskau das Geiseldrama geschah, um die amerikanische Regierung davon zu überzeugen, dass die uneingeschränkte Unterstützung Putins in dem Konflikt am Kaukasus nicht weiterhelfe. Er vertraue Sakajew, dem Entsandten Maschadows, wenn der sage, der tschetschenische Präsident könne die Extremisten in seinem Lager immer weniger kontrollieren, schrieb Rybkin in einer Bewertung der Tragödie. Die Hoffnung auf Frieden müsse man völlig begraben, wenn jene Generation von Tschetschenen die Macht übernehmen würde, die in den Zeiten der Kriege aufgewachsen sei – so wie der 23-jährige Anführer der Moskauer Geiselnehmer. Als Iwan Rybkin seinen Kommentar schrieb, lief in Tschetschenien schon die Bestrafungsaktion der russischen Streitkräfte. Aus Unglück, so scheint es beschieden zu sein, erwächst neues Unglück.

 
 
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