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Eine funkelnde Büchergala sollte es werden, über die Lesefavoriten der Deutschen, für ein großes Fernsehpublikum. In der Primetime am Freitagabend, über zwei Stunden lang. Das Flaggschiff »heute-journal« würde ausnahmsweise entfallen. Um »Das große Lesen« zu einem selbstbewussten, relevanten Kulturevent zu machen, brauchten wir angesichts der nicht unproblematischen Liaison zwischen Literatur und Fernsehen eine gehörige Prise Optimismus. Aber schon »Unsere Besten – Wer ist der größte Deutsche?« hatte im Herbst 2003 bewiesen, dass kulturelle Themen auch zur Hauptsendezeit glänzend funktionieren können. Als am 1. Oktober um 23.35 Uhr das Lieblingsbuch der Zuschauer, der erste Platz, Der Herr der Ringe, verkündet wurde, schauten 3,9 Millionen Menschen zu. »Unsere Besten – Das große Lesen« ist somit die erfolgreichste Literatursendung, die jemals im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde.
»Das große Lesen« war ein schönes Spiel – und viel mehr. Wir wollten herausfinden, welche Bücher die Deutschen wirklich lesen – und nicht, welche sie bloß in ihren Regalen stehen haben. Welche Substanz haben Bücher in unserer überhitzten Mediengesellschaft, sind sie tatsächlich dem Untergang geweiht? Anscheinend nicht. Denn die dem Projekt innewohnende Kraft wurde schnell deutlich: Nach dem Auftakt durch Elke Heidenreich in der »Lesen! extra«-Sendung veröffentlichten wir eine Vorschlagsliste, die 200 Bücher (ohne nationale Schranken) umfasste und als Anregung zur Abstimmung dienen sollte. Über 10 000 Buchhandlungen konnten wir unter Mithilfe des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und der Stiftung Lesen mit dieser Liste beliefern. Bereits eine Woche später hatten uns 60 000 Nominierungen erreicht, überwiegend von Frauen und von der jungen Leserschaft.
Alle Genres durften gewählt werden, lediglich jugendgefährdende Schriften und reine Serviceangebote wie das Telefonbuch waren von der Wahl ausgeschlossen. Natürlich wohnte unserer Liste eine unvermeidliche Willkür inne, wir hatten aus dem Meer von gewiss über 1 000 großartigen Büchern buchstäblich mit dem Sieb schöpfen müssen. Doch konnte jeder Leser eigene Vorschläge unterbreiten, sodass der ZDF-Computer nach der Frist von vier Wochen 12 615 Titel erfasst hatte. Die Zählung wurde bei 250 000 abgegebenen Stimmen eingestellt, obwohl uns weiterhin Wäschekörbe voller Wahlzettel erreichten. Eine solch umfangreiche Erhebung über Bücher hatte es noch nie gegeben. Das Land der Dichter und Denker liest und gibt gerne seine süßesten Lesefrüchte preis – ein erstes Ergebnis der ZDF-Aktion.
Womit war diese überwältigende Resonanz zu erklären? Der Grund liegt wohl darin, dass wir bei dem Format »Unsere Besten« den Zuschauer selbst über das Programm entscheiden lassen. Der Zuschauer ist der Programmgestalter, er stellt sich mit seinen abgegebenen Stimmen seine eigene Sendung zusammen. Beim »Großen Lesen« schrieben wir ihm nicht vor, was er lesen soll, sondern hielten fest, was er liest – und liebt. Wir waren Chronisten, keine Kritiker. Wir verteilten keine Noten, fällten keine Urteile. Die Wahl war persönlich, nichtakademisch und streng demokratisch. Professionelle Literaturprüfer mochten mit dieser plebiszitären Kultur von unten vielleicht ihre Schwierigkeiten haben; so beklagte sich der WDR-Literaturkritiker Denis Scheck über »Das große Lesen« im Berliner Tagesspiegel mit dem Argument, das demokratische Prinzip sei in der Kunst ein Verhängnis. Dennoch sprach sich der Literaturbetrieb mit überwältigender Mehrheit für das ZDF-Projekt aus, die FAZ veröffentlichte als Partner der Aktion zwischen dem 6. Juli und dem 6. August eine tägliche Artikelserie über die Lieblingsbücher von Autoren und Journalisten.
Dass wir keine Angst vor dem Zuschauer zu haben brauchten, vor fatalen Fehlentscheidungen und peinlichen Geschmacksdebakeln, dass die Menschen in diesem Land urteilssicherer sind als viele glauben, hatten wir bereits bei der »Unsere Besten«-Wahl des größten Deutschen erfahren, als Martin Luther, Johannes Gutenberg und die Geschwister Scholl unter den ersten zehn landeten, weit vor allen Eintagsfliegen der Populärkultur. Welche Bücher würden die Deutschen also nominieren? Würden Hera Lind oder Rosamunde Pilcher das Rennen machen, wie Elke Heidenreich schaudernd argwöhnte, oder die Thriller eines John Grisham oder einer Donna Leon? Würde die anspruchsvolle Unterhaltungsliteratur eines John Irving literarische Altmeister wie Goethe, Dostojewski und Balzac vom Podest stoßen?
Über Klassiker soll Hemingway einmal gesagt haben: »Ein Meisterwerk ist ein Buch, über das alle Welt spricht, das aber niemand liest.« In der Tat wurde ein schwieriges Meisterwerk wie Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil von den Zuschauern nicht berücksichtigt, auch Kafka nicht oder Brecht. Viele der Bücher aus unserer Schulzeit, die weder freiwillig noch ganz unbefangen gelesen wurden, hatten beim »Großen Lesen« keine Chance. Es war eine ehrliche Wahl, ohne Alibinennungen. Es haben die narrativen Schwergewichte gesiegt, die Mann und vor allem Frau nicht mehr aus der Hand legen: die Champions der erzählenden Literatur, zeitlose Evergreens, Klassiker der Herzen, darunter vor allem historische Romane – eher die dicken Bücher also, die berühmten »Pagemonster«, wie sie im Englischen gerne genannt werden. Im Prinzip jene Romane, bei denen der leidenschaftliche Leser am Ende einer jeden Seite wissen will, wie es weitergeht (dies erklärt auch die völlige Abwesenheit von Sachbüchern unter den Top 100). Ist unser aller Lesetrieb nicht genau darauf zurückzuführen: auf die Neugier, die unstillbare Neugier auf Geschichten?
Die Neugier war es auch, die die Zuschauer bis zuletzt an die Finalshow fesselte. Johannes B. Kerner war ebenso wie seine Gäste Alice Schwarzer, Susanne Fröhlich, Hellmuth Karasek und Ottfried Fischer bestens aufgelegt, und der filmische Countdown der Dortmunder Filmfirma Colourfield war ein kleines Meisterwerk optischer Kurzerzählungen. Letztlich aber wollte jeder wissen: Wie würde es ausgehen? Wer sind die ersten zehn, wer wird gewinnen? Jene Klassiker, die der literarischen Volksbefragung des Massenmediums Fernsehen die Stirn geboten haben, stehen nach dem »Großen Lesen« strahlender da als je zuvor: Theodor Fontane, Thomas Mann, Hermann Hesse und Max Frisch sind mit insgesamt neun Titeln in den Top 50 vertreten. Sie wurden nicht aus Ehrfurcht gewählt, sondern weil sie den Menschen noch immer etwas bedeuten.
Goethes Faust kam als einziges Drama unter den ersten 50 auf einen beachtlichen 15. Platz. Der erfolgreichste englischsprachige Autor war John Irving mit vier Büchern unter den ersten 100. Als ausgesprochenes »Frauenbuch« entpuppte sich Jane Austens Stolz und Vorurteil, dessen Stimmen zu 97,1 Prozent von weiblichen Lesern kamen. Die ersten drei haben ihren Platz mit jeweils großem Abstand erreicht: Unangefochtener Sieger wurde John R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe, der zu 60,2 Prozent von Lesern zwischen 14 und 29 Jahren gewählt wurde. Es folgten Die Bibel und Ken Folletts Die Säulen der Erde, dessen hohe Platzierung nur für jene überraschend war, die dieses Buch nicht gelesen und somit das Vergnügen glücklicherweise noch vor sich haben.
Das entstandene Ranking mag jeder selbst betrachten und analysieren. Er darf aber darauf vertrauen, dass 250 000 abgegebene Stimmen eine wunderbare literarische Kompassnadel für die eigenen Lesegelüste ergeben können. Die 50 Lieblingsbücher der Deutschen – eine Liste für die Ewigkeit. Wer jetzt nicht weiß, was er alles noch zu lesen hat, dem ist wohl nicht mehr zu helfen. Er muss sich nur die Zeit dafür nehmen.
Die 50 Lieblingsbücher der Deutschen
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1
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Tolkien, John Ronald Reuel – Der Herr der Ringe
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26
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Ende, Michael – Die unendliche Geschichte
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2
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Die Bibel
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27
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Hahn, Ulla – Das verborgene Wort
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3
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Follett, Ken – Die Säulen der Erde
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28
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McCourt, Frank – Die Asche meiner Mutter
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4
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Süskind, Patrick – Das Parfum
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29
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Hesse, Hermann – Narziß und Goldmund
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5
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Saint-Exupéry, Antoine de – Der kleine Prinz
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30
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Zimmer Bradley, Marion – Die Nebel von Avalon
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6
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Mann, Thomas – Buddenbrooks
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31
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Lenz, Siegfried – Deutschstunde
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7
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Gordon, Noah – Der Medicus
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32
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Márai, Sándor – Die Glut
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8
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Coelho, Paulo – Der Alchimist
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33
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Frisch, Max – Homo Faber
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9
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Rowling, Joanne K. – Harry Potter und der Stein der Weisen
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34
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Nadolny, Sten – Die Entdeckung der Langsamkeit
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10
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Cross, Donna W. – Die Päpstin
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35
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Kundera, Milan – Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
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11
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Funke, Cornelia – Tintenherz
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36
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García Márquez, Gabriel – Hundert Jahre Einsamkeit
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12
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Gabaldon, Diana – Feuer und Stein
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37
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Irving, John – Owen Meany
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13
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Allende, Isabel – Das Geisterhaus
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38
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Gaarder, Jostein – Sofies Welt
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14
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Schlink, Bernhard – Der Vorleser
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39
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Adams, Douglas – Per Anhalter durch die Galaxis
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15
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Goethe, Johann Wolfgang von – Faust. Der Tragödie erster Teil
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40
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Haushofer, Marlen – Die Wand
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16
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Ruiz Zafón, Carlos – Der Schatten des Windes
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41
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Irving, John – Gottes Werk und Teufels Beitrag
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17
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Austen, Jane – Stolz und Vorurteil
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42
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García Márquez, Gabriel – Die Liebe in den Zeiten der Cholera
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18
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Eco, Umberto – Der Name der Rose
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43
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Fontane, Theodor – Der Stechlin
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19
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Brown, Dan – Illuminati
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44
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Hesse, Hermann – Der Steppenwolf
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20
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Fontane, Theodor – Effi Briest
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45
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Lee, Harper – Wer die Nachtigall stört...
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21
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Rowling, Joanne K. – Harry Potter und der Orden des Phönix
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46
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Mann, Thomas – Joseph und seine Brüder
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22
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Mann, Thomas – Der Zauberberg
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47
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Strittmatter, Erwin – Der Laden
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23
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Mitchell, Margaret – Vom Winde verweht
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48
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Grass, Günter – Die Blechtrommel
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24
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Hesse, Hermann – Siddhartha
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49
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Remarque, Erich Maria – Im Westen nichts Neues
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25
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Mulisch, Harry – Die Entdeckung des Himmels
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50
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Schätzing, Frank – Der Schwarm
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