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2004  
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Roland Strumpf

Beslan und die Folgen

 
Roland Strumpf
Roland Strumpf
              
 

Der erste Schnee ist auf die Gräber in Beslan gefallen, und dichte Nebelschwaden ziehen über das weite Areal, auf dem die Opfer beigesetzt wurden. Verlassen liegt der Friedhof am Rande der kleinen Stadt, jetzt am frühen Morgen haben sich nur wenige auf den Weg zu den Gräbern ihrer Angehörigen gemacht. Hin und wieder durchdringt ein Sonnenstrahl die dichten Nebel, dann nehmen für einen Moment all die Blumen und die endlosen Reihen der frischen Erdhügel deutlicher Kontur an. Lang sind die Reihen mit den Holzkreuzen und brennenden Kerzen, so lang, dass man meint, am Horizont laufen sie ineinander.

Zurück in Beslan, zurück an dem Ort, der zum Schauplatz des schlimmsten Terroranschlags in der Geschichte Russlands wurde. Gerade einmal drei Monate ist es her, dass eine Gruppe Terroristen eine gesamte Schule in ihre Gewalt brachte und das Leben hunderter Kinder sowie das ihrer Eltern und Lehrer bedrohte.

Viel wird getan, um in Beslan wieder den Anschein von Normalität zu erwecken. Im örtlichen Theater führen Kinder ein buntes Spektakel auf, in den Geschäften entlang der Hauptstraße herrscht auf den ersten Blick wieder die Geschäftigkeit kaukasischer Kleinstädte. Doch nicht weit entfernt, fast auf Sichtweite, steht die Ruine der Schule Nr. 1, die offene Wunde der Stadt. Kalt und abweisend wirken die verschneiten Mauern, und doch: Immer wieder treibt es die Bewohner zurück an den Ort, wo ihre Kinder und Angehörigen starben. In den vergangenen Monaten ist die Schule Nr. 1 zu einer Art Pilgerstätte geworden. Vermutlich auch deshalb hat sich noch niemand darangemacht, die Überreste des Geiseldramas zu beseitigen; drinnen herrschen noch Chaos und Verwüstung, als wäre die Schule gerade erst gestern erstürmt worden. An den Wänden der Turnhalle baumeln noch die Kabel, die mit den Sprengsätzen verbunden waren, auf dem Boden liegen Schuhe und zerfetzte, mit Blut befleckte Kleidungsstücke, daneben Patronenhülsen und verkohlte Reste des eingestürzten Dachs. Die Wände sind mit Graffiti beschrieben: »Gott verfluche euch Terroristen, die Liebe wird stärker sein«, aber auch: »Lidija, du Mörderin« und »Warum hast du unsere Kinder verkauft?«. Gemeint ist Lidija Zalijewa, die Direktorin der zerstörten Schule Nr. 1. Seit Wochen sitzt sie in ihrer Wohnung und traut sich nicht mehr hinaus, obwohl sie selbst die Geiselnahme nur um Haaresbreite überlebte. Lidija ist zuckerkrank, das lebensrettende Insulin aber verweigerten ihr die Terroristen. Seit der Erstürmung der Schule trägt sie ein Hörgerät, weil eine der Explosionen ihr das Trommelfell zerfetzte. Die Stimmung in Beslan richtet sich auf einmal gegen die Lehrer, besonders gegen die Direktorin. Sie, die verantwortlich war und auf die Schüler aufpassen sollte, ist am Leben, die Kinder aber sind tot. Wer hat zu Recht überlebt und wer nicht? Moskau und die Untersuchungskommission der Regierung sind weit, die Hoffnungslosigkeit und Verbitterung suchen sich vor Ort ein Ventil und die Front verläuft zwischen den trauernden Eltern und den überlebenden Lehrern.

Internationale Hilfsorganisationen kümmern sich um Geiseln und Angehörige. Vor dem Gebäude der Stadtverwaltung werden Mikrowellen und Kühlschränke verteilt, aus Italien sind gerade Fahrräder gekommen. Vieles ist sicherlich gut gemeint, doch hilft ein Fahrrad wirklich gegen die Angst, gegen die qualvollen Bilder, die immer wieder vor den Augen der Opfer erscheinen?

Auch Moskau hat versucht zu helfen. 100 000 Rubel (rund 2 700 Euro) für jeden Toten und 50 000 für jeden Verletzten wurden gezahlt. Aber auch das Geld hat die Menschen nur entzweit. Böse Geschichten kursieren und spalten den traditionellen Zusammenhalt der kleinen kaukasischen Stadt. Vom Vater, der sich vom Geld für sein totes Kind ein neues Auto kaufte, wird berichtet, von Eltern, die eine Erholungsreise davon buchten. Wir hingegen haben Mütter erlebt, die bis heute nur stockend und unter Tränen von den Geschehnissen berichten können, und Väter, die immer mehr dem Alkohol verfallen, weil sie sich in ihrem Schmerz allein gelassen fühlen.

Denn noch liegen viele Hintergründe der Tragödie weiterhin im Dunkeln. Gab es nicht doch Forderungen der Geiselnehmer, die womöglich sogar erfüllbar gewesen wären? Wie intensiv war der Kontakt mit den Terroristen – und warum endete das Drama dann doch so blutig? Vieles wird in Beslan, wenn überhaupt, nur hinter vorgehaltener Hand erzählt. Die Überlebenden scheinen eingeschüchtert, und alles, was in irgendeiner Form Hinweise auf den Hergang der Geiselnahme geben könnte, ist auf einmal spurlos verschwunden. Schweigen und Verschweigen scheint auch diesmal die Strategie des Kreml zu sein, und vor Ort wird »Desinformazia«, »Desinformation« nach bewährtem sowjetischem Muster betrieben. Falsche Fährten werden gelegt, fragwürdige Theorien in Umlauf gebracht, und immer häufiger werden unter der Hand »Beweise« angeboten, die das ein oder andere belegen sollen, einer genaueren Überprüfung aber nicht standhalten. Fast scheint es, als werde alles daran gesetzt, die genaue Rekonstruktion der Ereignisse zu verhindern.

In Moskau spricht schon kaum jemand mehr von den Geschehnissen in Beslan. Drei Monate nach der Tragödie warten Opfer und Öffentlichkeit noch immer auf Information und Aufklärung, und für die meisten Russen ist die mit Beslan verbundene Erkenntnis eine schmerzliche: Auch ein starker Staat kann die Sicherheit seiner Bürger nicht garantieren. Doch genau dieser bitteren Einsicht versucht der Kreml entgegenzuwirken. Ginge es nach dem Willen Präsident Putins, dann sollte die Erinnerung an die Geiselnahme in Beslan schon recht bald aus dem Gedächtnis getilgt sein.

Der Apparat des Präsidenten reagierte schnell auf die Ereignisse. Die »Vertikale der Macht«, wie es in Russland heißt, wurde weiter zementiert. Noch mehr Verfügungsgewalt in die Hände des Präsidenten und dessen Exekutive. So werden die Gouverneure der Regionen künftig nicht mehr gewählt, sondern vom Kreml ernannt, das Melderecht wurde verschärft, und im allgemeinen Kampf gegen den Terror wird kontrolliert, fast schon wie in längst vergangen geglaubten Sowjetzeiten. Die Bekämpfung der Korruption, eines der Grundübel in Russland, hatte Präsident Putin nach Beslan vollmundig angekündigt, wirklich geschehen ist seitdem wenig.

Bleibt die Frage, wo die Spitze dieser »Vertikalen der Macht« in Beslan war. Das Krisenmanagement wurde zweit- und drittklassigen Provinzfürsten überlassen, die nun für den blutigen Ausgang der Geiselnahme abgestraft werden. Wo waren die Minister der Zentrale, der Chef des Inlandsgeheimdienstes, wo der russische Präsident? Ein starker Staat als Bollwerk gegen die Herausforderungen des Terrorismus ist das Ziel des Kreml, nur eines scheint er dabei zu verkennen: Die »Vertikale der Macht« ist starr und reagiert schwerfällig, für Terroristen ist sie leicht verwundbar.

In der Schule Nr. 6 in Beslan sitzt Alwina. Mitte Oktober hat der Unterricht wieder begonnen, und die Überlebenden der Geiselnahme werden nun in einer der Nachbarschulen unterrichtet. Doch viele Plätze bleiben leer, weil die Kinder Angst haben, überhaupt ein Schulgebäude zu betreten. Auch der Unterricht ist anders als früher, selten beteiligen sich die Kinder, und über dem Innenhof liegt bedrückende Stille während der Pause. Kein Toben, kein ausgelassenes Geschrei. Knallt irgendwo eine Tür, zucken die meisten zusammen. Über ihre Angst und über ihre Schrecken reden sie nicht.

Nur zwei Flugstunden liegen Beslan und Moskau voneinander entfernt, doch dazwischen scheinen Welten. In der russischen Hauptstadt heißen die Folgen von Beslan, den Staat und die Organe seiner Exekutive stärken – in Beslan, in irgendeiner Form wieder zurück zur Normalität zu finden. Nur wie, weiß bislang noch niemand, denn der Tod hat sich in Beslan auch jener bemächtigt, die ihm entkommen sind.

 
 
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