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2005  
ZDF Jahrbuch
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Gert Scobel

100 Sendungen »sonntags – TV fürs Leben«

 
Gert Scobel
Gert Scobel


»sonntags« in Dresden
»sonntags« in Dresden


Gert Scobel im Gespräch mit Wilfried Erdmann
Gert Scobel im Gespräch mit Wilfried Erdmann


Gespräch mit Carolin Reiber und Reinold Hartmann
Gespräch mit Carolin Reiber und Reinold Hartmann
 

Eine der größten und, ich vermute, leider weitgehend unbemerkten Überraschungen des Jahres 2005 ist die Sendung »sonntags – TV fürs Leben«. Warum? Weil diese Sendung – wenn ich die Zahlen richtig interpretiere – diejenige ZDF-Sendung des Jahres 2005 war, die, gemessen an ihrem eigenen Marktanteil, diesen prozentual am meisten steigern konnte. »sonntags – TV fürs Leben« ist sozusagen der unauffällige Sieger in Sachen Quote – wenn man diese an den bisherigen Leistungen misst.

Diese Feststellung ist vielleicht nur deshalb so wichtig, weil sie etwas gleichsam empirisch untermauert und damit auch im Fernsehen ernst zu nehmen hilft, das zunächst höchst luftig und wenig nach Quote klingt: Ich meine das Ziel und den Anspruch, den sich »sonntags« gesetzt hat und offensichtlich gut erfüllt. Dieses Ziel besteht darin, auch im Fernsehen Qualität in Sachen Orientierung und Werte zu bieten. Gewissermaßen ist »sonntags« für mich ein Programm, das in vorbildlicher Weise den Anspruch des »Public Value« des öffentlich-rechtlichen Fernsehens einlöst. »Public Value« bedeutet hierbei jene Verantwortung, die das von der Öffentlichkeit bezahlte Fernsehen dieser Öffentlichkeit gegenüber hat: Etwa, indem es den Wert der Demokratie stärkt, aber eben auch die Werte, die mit einem demokratischen Gemeinwesen verbunden sind. Dass diese Werte im Fernsehen nicht immer die erste Geige spielen, liegt nicht (nur) am Fernsehen selbst. Zuweilen bedarf es aber eben auch der Programmplätze, die sich explizit mit dem Thema »Werte« und »Orientierung« befassen. Ich halte dies für ein Gebot, nicht zuletzt auch der Aufklärung, denn Aufklärung bedeutet auch, auf das hinzuweisen, was möglicherweise zu kurz kommt, dennoch aber von großer Bedeutung ist.

Nach der Entertainment-Welle war bereits vor einigen Jahren deutlich, dass eine Informations-, und genauer, eine Wissenschaftswelle auf uns zukommen würde. Das ist insofern nicht überraschend, als unsere Gegenwart sehr stark von Wissenschaft und Technik geprägt ist, auch wenn wir es nicht immer unmittelbar wahrnehmen. Das Einstein-Jahr 2005, das auch in »sonntags« seinen Niederschlag fand, hat es deutlich gemacht: kein Handy, kein GPS, kein Autonavigationsgerät ohne die einsteinsche Relativitätstheorie. Das klingt hoch, zu hoch gegriffen. Tatsächlich aber gilt, dass derjenige, der wirklich wissen will, wie diese Dinge funktionieren, an einem tieferen Wissen über die Zusammenhänge der Welt nicht herumkommt.

Doch Information, die man nur einen Google-Schritt entfernt leicht in jedem ans Internet angeschlossenen PC findet, bedeutet heute längst nicht mehr einfach nur zu wissen, wer mit wem koaliert und wer was in Berlin gesagt oder dementiert hat. Information bedeutet heute mindestens in derselben Weise, zu verstehen, wie Leben entstanden ist, zu wissen, wie ein Gen aufgebaut ist, wie Medikamente wirken, wie Angst und Depression entstehen und warum sie zunehmen (auch ein Thema bei »sonntags«); bedeutet, etwas über die Klimaerwärmung zu wissen oder über die komplexe Funktionsweise des Gehirns, dessen Erforschung, wie kaum eine andere wissenschaftliche Forschung in den letzten Jahren, unser Selbstbild verändert hat. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die Diskussion um die Willensfreiheit, die bis in die Gesetzgebung hinein Auswirkungen hatte und hat. All dies ist Information – ist also mehr als politisches Wissen, das weithin den Informationsbegriff in den Medien dominiert. In jedem Fall – und hier beginnt das Problem der Orientierung, mit dem auch »sonntags« sich beschäftigt – bedeutet wirklich informiert zu sein, etwas über die Grenzen der eigenen Information, ja, der (wissenschaftlichen oder politischen) Information überhaupt zu wissen.

Insofern wird das Meer der Information zur Wüste, wenn die Daten und Fakten, das vielfältige Wissen über ihre Zusammenhänge nicht auf einen verständigen Hintergrund, eine Möglichkeit der Einordnung, kurz: auf Orientierung treffen. Nur orientierte Information ist wirklich in-formiert und kann nutzen, das heißt, sinnvoll, auf ein Ziel hin gerichtet aufgenommen, verstanden und eingesetzt werden. Genau dies scheint mir die gegenwärtige inhaltliche Umwälzung in den Medien zu sein – neben der technischen Revolution, die die Umstellung auf digitale Programme mit sich bringt.

»sonntags« berührt dabei auch einen tief in unserer judäisch-christlichen Zivilisation liegenden Punkt. Der Sonntag als Wochentag ist oder war zumindest selbst ein Programm – denn der Sonntag ist kulturgeschichtlich betrachtet die Gelegenheit der Woche, mit mehr Ruhe als sonst das Leben nicht nur zu genießen, sondern auch zu betrachten, indem man Fragen und Tätigkeiten nachgeht, die während der Arbeitswoche zu kurz kommen. Sonntags bedeutet: mehr Zeit für sich, aber auch für die Familie und für Freunde zu haben. Muße zu haben, nachzudenken – auch um Orientierung zu finden und Antworten auf die Fragen, vor die das Arbeitsleben und die Ereignisse der Woche einen gestellt haben. Im Idealfall wäre der Sonntag sozusagen wieder ein Tag der Kontemplation, der im Idealfall neue Energie und zuweilen auch neue Gedanken bringt.

»sonntags« als Sendung will für dieses »alte Programm« eine wichtige Anregung sein – eine Anregung im Fernsehen. Denn obwohl »sonntags« kritisch berichtet, vermittelt die Sendung kontemplative Inhalte und eine positive Grundhaltung, von der aus manches in neuem Licht erscheint. »sonntags« ist sozusagen primäre »Werte-Kost« für das Leben. Für mich selbst ist es immer wieder erstaunlich, wie die Kolleginnen und Kollegen es schaffen, ohne larmoyant, betulich oder belehrend zu wirken, Beispiele dafür finden, in Filmen zu zeigen, wie Menschen produktiv mit Nöten und Konflikten umgehen. Ob es nun der Einsatz in Afrika für eine neue, billige Bauweise ist, die vielen Menschen ein Dach über dem Kopf beschert oder eine Kranken- und Pflegeinitiative für AIDS-Kranke, ob es sich um das Engagement gegen Diskriminierung handelt oder um den Einsatz gegen die Beschneidung von Frauen in anderen Teilen der Welt und – leider – auch hier bei uns: Immer wieder schafft »sonntags« es, einem das Gefühl zu geben, dass es auch auf schwere und scheinbar unlösbare Fragen einfache und vor allem wirkungsvolle Antworten gibt. Und es müssen dabei nicht immer die »großen« Themen und Fragestellungen sein, über die berichtet wird. Manchmal ist es »nur« eine Initiative in der Nachbarschaft, die damit begonnen hat, dass Menschen wahrnehmen, dass es etwas zu tun gibt. Insofern informiert »sonntags« auch – etwa in der Reihe »Menschen und Projekte« – über Zusammenhänge oder Menschen, die auf diese Weise selten oder nie im Fernsehen vorkommen. Ich selber habe immer wieder, vermittelt durch die Filmbeiträge, also indirekt, aber auch durch meine Kolleginnen und Kollegen und durch die leibhaftige Begegnung mit meinen Gästen im Studio, wirklich erstaunliche Menschen kennen gelernt. Diese Menschen haben mir selber Hinweise gegeben, in welche Richtung ich tätig werden kann – und sie haben zuweilen eben auch zu meiner Orientierung beigetragen. Insofern vermittelt »sonntags« tatsächlich Orientierung in einer Zeit, in der es schwierig geworden ist, sich zu orientieren.

Religion ist dabei – und das entspricht durchaus der landläufigen Meinung – ein wesentlicher Bestandteil unserer abendländischen Kultur, auch wenn diese inzwischen eine »nachchristliche« Gesellschaft sein mag. Ich selber habe, nicht zuletzt durch die Beschäftigung mit »sonntags«, zunehmend Zweifel an der Ansicht, dass sich Religion tatsächlich früher oder später eins zu eins in Kultur, Gesellschaft und ein wenig Ethik auflösen wird. Könnte es nicht doch sein, dass es etwas gibt, das nur der Religion eigen ist und dennoch für die Gesellschaft als Ganze und für den Einzelnen Bedeutung hat? Eine Bedeutung, die mehr ist als das, was Kunst oder Kultur zu geben in der Lage sind? Insbesondere am Fall des Islam kann man die Frage studieren, ob eine Religion tatsächlich in einem bestimmten politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen aufgeht, ob sie also umgekehrt auch ersetzt werden kann durch eine im weitesten Sinn weltanschauliche Ideologie. Vielleicht ist es gerade die Religion, die helfen könnte, eine, sagen wir »islamisierte Ideologie« zu entlarven als das, was sie ist. Auch das Christentum wird sich die Frage gefallen lassen müssen, was es heute über Moral, Riten, ein Engagement für Menschlichkeit und bestimmte dogmatische Sätze hinaus tatsächlich bedeutet und bewirkt. In jedem Fall aber stellt »sonntags« auch solche, zugegebenermaßen nicht leicht zu beantwortende Fragen.

Sicher steckt auch die christliche Tradition, wie die Geistes- und Kulturwissenschaften überhaupt, in einer Legitimationskrise. Seltsamerweise scheint gerade deshalb das so genannte Orientierungswissen umso notwendiger zu werden. Je mehr Wissen, je mehr Information uns zur Verfügung steht, umso bedeutsamer werden die Fragen, wozu diese Informationen genutzt werden sollen: Was der Sinn all dieses Wissens und unserer Handlungen ist. Mein Interesse an »sonntags« ist daher vor allem auch ein Interesse an den Möglichkeiten heutiger »Orientierungswissenschaft«, auch wenn sich diese aus gutem Grund nicht mehr religiöser Sprache bedient. Als Theologe und Philosoph war ich über mehrere Jahre hinweg Mitglied eines faszinierenden Forschungsprojekts, dessen Leiter, Professor Lentzen-Dies S.J., der in Rom und Frankfurt einen Lehrstuhl hatte, inzwischen leider verstorben ist. In seiner international angelegten Forschungsarbeit ging es unter anderem darum, methodisch zu erforschen, wie ein Text in verschiedenen Kulturen gelesen, verstanden, interpretiert und schließlich als Handlungsmodell auch angewendet wird. Speziell, was die christlichen Grundtexte des Neuen Testaments anging, war und ist diese Frage höchst brisant, denn bei diesen Texten handelt es sich ja um für die religiöse Gemeinschaft konstitutive Texte mit hoher normativer, das heißt handlungsleitender Funktion.

Inzwischen ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen und ich beginne mich für diese Fragestellungen neu zu interessieren. Ein nüchterner Blick auf die Leistungen und Ergebnisse der Theologie der vergangenen zwei Jahrzehnte zeigen jedoch schnell und recht ernüchternd, dass die Theologen (leider) wenig Neues von Bedeutung hervorgebracht haben. Die offizielle Theologie beider Konfessionen hat sich in den letzten 20 Jahren faktisch kaum weiterentwickelt – jedenfalls nicht so, wie dies einst für die Arbeit von Theologen wie Bultmann oder Rahner, Jüngel, Ebeling, Boff und einige andere galt. »sonntags« bietet mir eine Gelegenheit, auch diesen Fragen der Relevanz von Theologie überhaupt nachzugehen. Wo ließe sich diese mehr und härter testen als in der »Höhle des Löwen« – in den Medien, die vielen Theologen immer noch als ein Bereich erscheinen, den man unbedingt meiden sollte. Dass »sonntags« das nicht tut, ist ein weiterer Grund, der mir diese Sendung mehr als sympathisch macht. Und es ist nicht zuletzt auch Werner »Tiki« Küstenmacher (Autor des Bestsellers Simplify your Life), der mit seinen Tipps zur Woche, die es in jeder Ausgabe von »sonntags« gibt, auf einprägsame Weise zeigt, wie theologisches Denken, Lebenserfahrung und spirituelle Erfahrung heute mit großem Gewinn vermittelt werden können.
 
 
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