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2005  
ZDF Jahrbuch
Aus der Programmarbeit
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Matthias Fornoff

Tsunami – vom Umgang mit dem Unfassbaren

 
Matthias Fornoff
Matthias Fornoff
 

Es ist ein Sonntag, der 26. Dezember 2004, als gegen neun Uhr das Handy klingelt. Wolfgang Voigt aus der »heute«-Redaktion berichtet von einem starken Seebeben vor Sumatra. Von einigen hundert Toten sei die Rede, darunter wohl auch zahlreiche Touristen. Der Rest ist unklar zu dieser Stunde. Die Nachricht löst in der Redaktion professionelle Routine aus. Und, ich gestehe es: auch einen gewissen Unwillen. Sumatra ist weit weg, Seebeben sind keine Seltenheit. Und es ist Weihnachten.

Die mediale Maschinerie läuft dennoch an, bewährt und erprobt seit Jahren: Unser Südostasien-Korrespondent Peter Kunz fliegt von Singapur nach Bangkok, ein Reporter startet mit Team von Frankfurt nach Thailand. Die televisionäre Erstversorgung. In der »heute«-Redaktion verfolgt die Feiertagsbesetzung die Agenturmeldungen, die unablässig die Opferzahlen nach oben korrigieren. Die Telefone stehen nicht mehr still. Aktualität, Chefredaktion, Programmplanung schätzen ein, diskutieren, beschließen – und stochern dabei im Ungewissen. Sicher scheint nur, dass dies nicht eine von vielen regionalen Naturkatastrophen ist. Um 11.30 Uhr läuft die erste außerplanmäßige »heute«-Sendung.

Es dauert Tage, bis das unvorstellbare Ausmaß dieser Katastrophe sichtbar wird. Bis in unser Bewusstsein sickert, was an den Küsten Thailands und Sumatras, Indiens und Sri Lankas wirklich geschehen ist an diesem 26. Dezember. Bis wir fassungslos vor der unglaublichen Zahl von geschätzt 300 000 Opfern stehen. Bis wir Gesichter sehen, Menschen kennen lernen, die die Apokalypse überlebt haben.

Die indisch-australische Erdplatte hat sich unter die Sumatra-Platte geschoben, ein Beben der Stärke 9,1 auf der Richterskala erzeugt – das stärkste seit vier Jahrzehnten. So beschreibt es die Wissenschaft.

Bei unseren Reportern klingt das anders. Sie sind konfrontiert mit Bildern der Zerstörung, mit traumatisierten, obdachlosen Menschen, mit Tränen der Verzweiflung, Versorgungsnot. Mit Verlust und Tod. Mit Gestank und Elend. »Ich habe so etwas wie heute noch nie erlebt, das sind Bilder, die sich einbrennen«, so Luten Leinhos im »heute-journal« am dritten Tag der Katastrophe. »An fast jeder Ecke liegen Leichen, man müsste sich die Augen zuhalten, um sie nicht zu sehen.« Phuket, Thailand, 28. Dezember 2004.

Im ZDF ist das Krisenzentrum rund um die Uhr besetzt. Kollegen aus Redaktion und Produktion koordinieren auf dem Höhepunkt der Berichterstattung neun Teams, organisieren deren Wechsel, der nach acht bis zehn Tagen notwendig ist – wegen des Zeitunterschieds, wegen der Dauerberichterstattung in »spezial«-Sendungen, wegen der hohen Belastung vor Ort. Insgesamt 50 ZDF-Mitarbeiter berichten aus der Region. Im Krisenzentrum bestellen die Redaktionen Berichte, werden Flüge und Unterkünfte organisiert, Informationen gesammelt. Es ist der zentrale Kommunikationsknoten für alle: von der Pressestelle bis zur Euro-Redaktion, vom Leitungswesen bis zum Archiv – vor allem aber für die Reporter vor Ort.

Im Krisenzentrum werden auch die Bilder sortiert. Vieles, was hier über die neun Monitore flimmert, wird niemals ausgestrahlt. Bilder, die das Maß des Erträglichen und des Zumutbaren übersteigen. Bilder, die die Würde der Opfer verletzen und insbesondere Kindern nicht zuzumuten wären. Wem aber sind sie eigentlich zuzumuten? Wie geht man um mit diesen Bildern, die »sich einbrennen«? Wie gehen unsere Teams um mit der Erinnerung an den Gestank der Hallen, in denen die Pathologen versuchen, Wasserleichen zu identifizieren? Wir ziehen einen Traumapsychologen hinzu, bieten in Absprache mit dem Betriebsarzt Beratung an für alle Kolleginnen und Kollegen, vom Reporter bis zum Cutter, die über ihre Erfahrungen sprechen wollen und fertig werden müssen mit dem Erlebten. (Mehr dazu in diesem Jahrbuch im Artikel »Kriege, Katastrophen, traumatische Belastungen« von Detlev Jung, Seite 123).

In Deutschland folgt auf das Entsetzen eine nie gesehene Hilfsbereitschaft. Die Berichte in den Medien haben die Distanz aufgehoben zu Menschen anderer Kulturen, anderer Hautfarben, anderen Glaubens. Was bleibt, ist Mitgefühl und das Bedürfnis zu helfen. Der Wunsch, etwas beizusteuern, auf das wieder Hoffnung wachsen kann. Das ZDF blendet vom ersten Tag an die Telefonnummer der Spendenhotline des »Aktionsbündnisses Katastrophenhilfe« in seinen Nachrichtensendungen ein. In Teletext und Internet werden Hilfsorganisationen mit Spendensiegel aufgelistet.

Am 4. Januar sendet das ZDF eine dreistündige Spendengala »Wir wollen helfen – ein Herz für Kinder«. In Kooperation mit der Bild-Zeitung werden allein in dieser Sendung 45 Millionen Euro für die Opfer der Flutkatastrophe gesammelt.

Ständig wird das Programm geändert. »spezial«-Sendungen, zusätzliche Ausgaben des »heute-journals«, der »Countdown 2005« in der Silvesternacht, der nicht nur, wie geplant, Feuerwerk und gute Laune zeigt, sondern im Gespräch mit Bischof Wolfgang Huber auch die Tsunami-Katastrophe einordnet. Magazine und Reportagen berichten wochenlang über das Leben nach der Katastrophe. Und über die Frage, ob und wie die vielen Spendenmillionen den betroffenen Menschen vor Ort helfen. Es sind Berichte über den fast heldenhaften Einsatz einzelner, über kleine Erfolge, über die Dankbarkeit derer, die spüren, dass die Welt sie nicht vergessen hat. Wir lernen, dass es Menschen gibt, die ihr Lächeln nicht verlieren – trotz schwerster Schicksalsschläge. Und manch einer hier schämt sich für das eigene Anspruchsdenken.

»Ihr Journalisten jagt jeden Tag eine andere Sau durchs Dorf«. Kritiker halten uns das gerne vor, was wir nicht sonderlich mögen – weil es stimmt. Auch das ist anders bei dieser Katastrophe! Wir schauen weiter hin, das ganze Jahr über: in einem dreiteiligen Reportageschwerpunkt im Sommer, der die Kultur der betroffenen Länder zeigt, die Schönheit der Natur, die Wiedergeburt »paradiesischer« Reiseziele; in der Woche vor dem Jahrestag der Katastrophe mit Berichten in allen Sendungen; mit einer Reportage am 26. Dezember 2005. Es bleibt eine journalistische Aufgabe, auch die Schattenseiten des riesigen Hilfsapparates zu beleuchten. Bürokratie und Korruption, Spendenmissbrauch.

Insgesamt hat das ZDF Außerordentliches geleistet beim Versuch, mit dem Unfassbaren umzugehen. Kein anderer europäischer Fernsehsender hat so viel beigetragen zum Austausch von Bildern und Berichten vom Tsunami innerhalb der EBU, der Organisation der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten Europas. Mit Anerkennung und Respekt sehen das die Kollegen. Das ist – natürlich – nichts, worauf wir uns ausruhen dürften. Fehler, Pannen, Startprobleme gab es auch bei uns. Professionell werden Schlüsse daraus gezogen. In der Hoffnung, dass die nächste Bewährungsprobe mit einem Unglück dieses Ausmaßes nicht so schnell kommt. Oder besser noch: gar nicht.
 
 
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