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2005  
ZDF Jahrbuch
Aus der Programmarbeit
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Joachim Holtz
Guido Knopp
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Joachim Holtz

Der Flug mit dem Drachen
Eine Reise durch China

 
Joachim Holtz
Joachim Holtz


Die zehntausend Staatsflaggen der Chinesen
Die zehntausend Staatsflaggen der Chinesen


Das Tor zur Weisheit im Bamei-Tal
Das Tor zur Weisheit im Bamei-Tal


Li-Li wartet auf die Zukunft
Li-Li wartet auf die Zukunft


Shanghai – Chinas größte Stadt
Shanghai – Chinas größte Stadt
 

Tote weinen nicht. Das weiß der Leichenbestatter ganz genau. Doch dieser Frau laufen Tränen über das Gesicht. You Guoying war zur Einäscherung abgeliefert worden, er bereitete schon alles vor. Plötzlich bemerkt er die Tränen: Sie lebt noch. Als Wanderarbeiterin war You Guoying mit ihrer Familie aus Sichuan gekommen, in die reiche Provinz Zhejiang. Ein Hirnschlag hinterließ die 47-Jährige nahezu bewegungslos. Die Familie hatte kein Geld für den Arzt und für das Krankenhaus. Der Vater und die Kinder wussten keinen anderen Ausweg. Sie brachten die Mutter lebendig zur Bestattung. Arme Chinesen.

Zehn Milliardäre zählt die Liste der Wohlbetuchten auf, Söhne des Krösus leben auch im Reich der Mitte. Und 300000 Millionäre gibt es da auch. Natürlich rechnen sie nur in Dollar. Reiche Chinesen.

Wir wollen ein Bild von China vermitteln, großformatig und detailfreudig, aufgenommen am liebsten überall zur gleichen Zeit. Wir gehen auf die Reise, 20000 Kilometer, ein zweiteiliger Film entsteht. Die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen. Das heißkalte China. Das ist das Thema unserer Reise durch das Reich der Mitte: Ein Flug auf dem Rücken des Drachen, eine Traumreise. Die Route zieht sich scheinbar wirr durch das Land, in unsteten Schwüngen wie auf einem Schnittmusterbogen, der Neugier folgend und doch sehr überlegt.

Lernen und zeigen, das ist unser Vorhaben. Wäre nicht Deutschland, wie ganz Europa, wie Amerika, ja, wie die ganze Welt, von der China-Mania infiziert, hätte uns niemand auf eine Abenteuertour durch den Fernen Osten geschickt. Zu viele Menschen, das bereitet den Zuschauern Unbehagen, heißt es. Und angeblich lassen bei ihnen schon zwei chinesische Namen in einem Film den Finger an der Fernbedienung zittern. Doch das bevölkerungsreichste Land der Erde ist zum Aufmerksamkeitsmagneten geworden; je ferner der Beobachter, desto inbrünstiger die Schwärmerei. China ist jetzt schon auf Platz fünf der beliebtesten Touristenziele.

Der Globalisierungskompass hat sich zur aufgehenden Sonne hin ausgerichtet. Unternehmer bestimmen das China-Bild der Deutschen, ein schmeichelndes Rosa ist ihre liebste Farbe. Das Land ist für sie Produktionsparadies und Traummarkt, das totalitäre System sichert ihnen das Investitionsumfeld.

Sie tragen Kapital und Know-how nach Osten, beides verdünnt sich in den für Ausländer obligatorischen Gemeinschaftsfirmen. Sie schaffen Arbeitsplätze in China, mehr als die Hälfte der gewaltigen chinesischen Exporte kommt aus Unternehmen, die einen ausländischen Partner haben; dazu gehören auch viele Deutsche. Beim Blick auf die Umsatzstatistik kehren sie der brutalen Willkür der Funktionäre den Rücken zu. Auch den eigentlich allgemeingültigen Werten freiheitlicher Demokratie. China bewirkt eine schlappe Folgsamkeit im politischen und wirtschaftlichen Umgang mit dem Land. China wird überhaupt nicht als Herausforderung angenommen. Na ja, die Chinesen sind die größten Trickser, die begabtesten Schaufensterdekorateure und Charme-Weltmeister. Damit korrumpieren sie geschickt die Moral ihrer Besucher und machen Kasse.

Auf welches China ist diese ehrfürchtige Bewunderung gerichtet? Erst einmal auf das stereotype Bild von Shanghai. Auf den Titelbild-Favoriten von Magazinen, auf den berühmten Blick über den Huangpo auf Pudong, mit dem hässlichsten Fernsehturm der Welt: Das ist China Nr. 1. Wer fragt danach, wer die Glitzerklötze gebaut hat und wie die Bezahlung war. Auch wir zeigen dieses Bild, als Wegmarke. Aber China erklärt sich nicht in einem Bild, China ist kein Monolith. Das viertgrößte Land der Erde ist eine bunte Vielfalt von Völkern und Landschaften, politisch sehr ähnlich der eher rauen, vielgestaltigen Natur. Die 1,3 Milliarden Chinesen – so viele gibt es nach offizieller Zählung seit dem 6. Januar 2005 – leben zur gleichen Zeit im gleichen Land, doch in vielen ganz verschiedenen Welten.

Unsere beiden im September und Oktober ausgestrahlten Filme mit dem Titel »China – Reise durchs Reich der Mitte« sind keine Berichte vom Reisen. Nicht ein Reisender steht im Vordergrund. Es geht um China und um die Chinesen. Gezeigt werden kurze Phasen im schnellen Wandel eines immer noch sehr fremden Landes. Es sind Innenansichten von China, aufgenommen mit den runden Augen eines Ausländers, der immerhin schon sieben Jahre dort lebt, arbeitet, reist. Orte und Menschen werden durch die Reise in Verbindung gebracht, Kamera und Mikrofon halten Momente fest, Situationen im Leben von Menschen, Stilleben einer vielfältigen Landschaft. Der große Rahmen ist durch das alltägliche Lernen und die alltägliche Arbeit des Berichterstatters gegeben.

Wir nähern uns den Einheimischen aufgeschlossen und lernbegierig, schauen uns um, fragen und hören zu. Ich glaube, wir haben jahrelang Anlauf genommen für diese Tour. Unser Leben in diesem Land, unsere Kenntnis des Alltags hat uns die Reiseroute und die Offenheit für Begegnungen gegeben.

Bloß kein Schlittern auf der Oberfläche, lieber ein vorsichtiges Vorzeigen der Vielfalt, mit dem ehrlichen und respektvollen Staunen des Korrespondenten. Wir sind ja doch Fremde in einer anderen Kultur, aber eben Fremde, die dem Land schon näher gekommen sind.

Die Annäherung an China: »Googeln« hilft da nicht viel, das Anklicken von Pauschalbegriffen in einer Internet-Suchmaschine. Stichworte nennen nur eine eindimensionale Wahrheit, keine Zusammenhänge. Wir wollen China von innen sehen, im täglichen Leben. Nicht mit dem knappen Blick des Journo-Touristen, der aus dem Flugzeug steigt und den Anspruch erhebt, schon durch die Ankunft zum Fachmann zu werden. Nicht mit der Allerweltsattitüde des Schnellmerkers, der nur das sucht, was er schon kennt; der aber alles zu erklären wagt, was ihm begegnet; der auf Geschichte pfeift, für den ein Standort und ein Augenblick schon ausreichende Deutungskraft bieten. Das Riesenreich China ist viel zu komplex für simple Behauptungen.

Wir nehmen die Perspektive des Frosches ein und des Vogels, schauen von unten und von oben, aber wir bleiben immer mittendrin. So erkennen wir, wie die alte sozialistische Struktur aufgebrochen wurde. Seit der Kulturrevolution, die 1976 für beendet erklärt wurde, schafft die Gesellschaft keine uniformen Biografien mehr. Mobilität ist entstanden. Wie selbstverständlich gewinnen Chinesen, vor allem junge Chinesen, auch Erfahrungen im Ausland. Privatbesitz ist erlaubt, die Wirtschaft erhält dadurch eine bisher unglaubliche Dynamik. Die Chinesen beginnen, sich als Individuen zu verstehen. Ihr Nationalgefühl werfen sie damit aber nicht ab. Es bleibt eines der stärksten Bindemittel, trotz der radikalen Veränderungen.

Ein wichtiger Hinweis: Der Blick auf China bleibt meist nur ein Blick auf die Städte. Wer aus dem Westen kommt, fühlt sich in der urbanen Umwelt leichter geborgen. Viele ihrer Signale ähneln denen in der Heimat. Was China aus anderen Ländern annimmt, wird zuerst in den Städten angewandt und ausgestellt. Und Shanghai ist dabei die Metropole, die es den Fremden am einfachsten macht. Shanghai wirkt international, Chinas größte Stadt will werden wie New York, Paris und Tokio. Ausländer können in Shanghai eintauchen wie in die vertrauten Jeans.

Die Städte sind die Vorposten der Modernisierung, keine Frage. Die Küstenstädte im Osten und im Süden haben sich als erste dem Markt geöffnet. Sie wurden zur Werkbank der Welt, sie stellen Produktionsrekorde auf, sie ziehen die größten ausländischen Investitionen an, sie sind Exportgiganten geworden. Und dort leben die Weltmeister der Optimisten. Mit sich und der Welt zufrieden, gewiss, dass es in den nächsten fünf Jahren noch besser wird. Allein schon das Bewusstsein, ein Chinese zu sein, hebt sie höher als alle anderen. Mit einer unerschöpflichen nationalistischen Loyalität begegnen sie sogar der korrupten Partei noch mit Nachsicht. Sie lassen sie in Ruhe, wenn diese sie in Ruhe wirtschaften lässt. 105 Millionen tauchen mehr oder weniger oft ins Internet, Städter zumeist. Mit einer Cyber-Polizei und modernen Zensur- und Kontrollsystemen von Cisco und Microsoft, heißt es, hält die Regierung sie auf dem rechten Gedankenweg. Die neue Führung schlägt mit schwerer Faust dazwischen, wenn einer an politischen Wandel auch nur denkt.

Wenn die Chinesen Kapitalismus machen, dann machen sie ihn richtig. Sie schauen und hören zu bei den Lehrmeistern aus dem Ausland, machen nach, was sie sehen, verfeinern die Technik und verbessern das Produkt: Der Gewinn ist höher, der Umgang härter, die Ausbeutung heftiger.

Wir bekommen auch eine Ahnung von der Unruhe, die unter dem Glanz des allgemeinen Fortschritts grummelt. Chinesen zeigen viel Geduld, lange können sie ausharren. Sie lassen Zorn erkennen, Verzweiflung, aber zugleich eine fast irreale Erwartung an die Zukunft. Sie hoffen auf ein Nachlassen ihrer Pein, warten auf einen Sonnenstrahl, auf eine kleine Gratifikation, sie halten still. Vielleicht wird ja eine Sondersteuer gestrichen, mit der die lokalen Funktionäre sich buchstäblich satt fressen. Oder eine Stromleitung wird zu ihrem Haus gelegt, lässt die Öllampe veralten. Oder eine Schule wird eingerichtet für die Kinder, für manche Familien bedeutet das eine beglückende Zeitenwende. Sie seufzen und hoffen.

Zunehmend bekommen sie eine Ahnung, dass ihnen der verdiente Anteil am erkennbaren Fortschritt vorenthalten wird. Schließlich verspricht ihnen die Partei eine »harmonische Gesellschaft«. Doch die Gesellschaft durchzieht Spannung, sie schleudert Funken über die tiefe soziale Kluft. Die einen haben zum Wohlleben zu viel, die anderen finden zum Überleben zu wenig. Ein scheinbar unwichtiger Auslöser, ein kleiner Ärger kann zu einer Eruption der lange verborgenen Wut führen. In diesem Jahr geschah das häufiger und blutiger als in früheren, scheinbar friedlichen Jahren.

Unsere Reise mit dem Drachen führt auch durch das ländliche China. Erst dadurch entsteht ein realistischer Zusammenhang, erst dadurch wird Verständnis möglich. 850 Millionen der 1,3 Milliarden Chinesen leben auf dem Land. Ihre Lebensbedingungen sind ungleich schlechter als die der Städter.

Die Landwirtschaft ist nicht effizient, sie kann niemals genügend Arbeitsplätze bieten. Gäbe es eine ernst zu nehmende Statistik auch für die Regionen außerhalb der Städte, dann würden wahrscheinlich 500 Millionen Arbeitslose notiert. Etwa 150 Millionen Landbewohner sind als Wanderarbeiter unterwegs, zu Minimallöhnen machen sie die gefährlichsten, schmutzigsten, langweiligsten Arbeiten. Für drei, vier Euro am Tag sind sie die neuen Kulis für den Fortschritt. Der Nachwuchs ist unerschöpflich.

Dieses Bild von China ist weniger glitzernd, aber es zeigt die schlichte Schönheit des Alltags in diesem riesigen Land. Hier bewegt sich der Wandel mit Trippelschritten. China verändert die Welt mehr als sich selbst.
 
 
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