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ZDF Jahrbuch
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Heike Hempel

Heike Hempel

Glück gehabt!
Das kleine Fernsehspiel wird 40 - eine Geburtstagsrede

 
Heike Hempel
Heike Hempel


Szene aus »Anam – Meine Mutter« von Buket Alakus
Szene aus »Anam – Meine Mutter« von Buket Alakus


»My Sweet Home«: Bruce (Harvey Friedman) versucht, einen klaren Kopf zu bekommen
»My Sweet Home«: Bruce (Harvey Friedman) versucht, einen klaren Kopf zu bekommen


»Berlin is in Germany«: Der aus dem Gefängnis entlassene Martin (Jörg Schüttauf) besucht seine Frau (Julia Jäger)
»Berlin is in Germany«: Der aus dem Gefängnis entlassene Martin (Jörg Schüttauf) besucht seine Frau (Julia Jäger)


»Vollgas«: Evi (Henriette Heinze) stürzt sich nach Dienstschluss ins Vergnügen
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»Nicht Fisch – nicht Fleisch«: Identitätssuche eines jungen Deutsch-Koreaners (in der Hauptrolle: Ill-Young Kim) in Berlin
»Nicht Fisch – nicht Fleisch«: Identitätssuche eines jungen Deutsch-Koreaners (in der Hauptrolle: Ill-Young Kim) in Berlin
              
 

Wenn man die Geschichte des Kleinen Fernsehspiels erzählen will, gibt es, wie immer im Leben, mehrere Möglichkeiten. Man kann zum Beispiel – ganz ordentlich – mit dem Anfang beginnen: Das erste Kleine Fernsehspiel wurde am 4. April 1963 ausgestrahlt, vier Tage nach Sendestart des ZDF, in der Urzeit des Fernsehens also. Der Sendetermin lag zwischen »Drehscheibe« und »Dick und Doof«, um 19 Uhr, »access Primetime« sozusagen.

Schon damals war Das kleine Fernsehspiel als Entwicklungswerkstatt für Autor(inn)en und Regisseur(inn)e(n) gedacht. Junge – damals noch junge – Filmemacher(innen) sollten hier die Gelegenheit bekommen, erste Filme zu realisieren. Das liegt nun 40 Jahre zurück, und inzwischen ist Das kleine Fernsehspiel gewissermaßen der Klassiker unter den deutschen Nachwuchsredaktionen.

Eine andere Möglichkeit, die Geschichte Revue passieren zu lassen, wäre die Aufzählung von Auszeichnungen, Preisen und Nominierungen: Grimme-Preise jedes Jahr, Oscar-Nominierungen, First Steps – alles da. Am einfachsten, am besten und am wirkungsvollsten aber kann man die Geschichte des Kleinen Fernsehspiels anhand von Namen erzählen:

  • Veit Relin, Wolfgang Petersen und Andrzej Wajda … in den 60er Jahren;
  • Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Helke Sander und Elfi Mikesch … in den 70er Jahren;
  • Jim Jarmusch, Helma Sanders-Brahms, Theo Angelopoulos und Vali Export … in den 80er Jahren;
  • Tom Tykwer, Fatih Akin, Christian Petzold, Sandra Nettelbeck und Mark Schlichter … in den 90er Jahren.

Die einfache Aufzählung dieser Namen lässt Bilder und Geschichten entstehen, jedenfalls bei denjenigen, die sich ein bisschen auskennen mit der jüngeren Geschichte des deutschen Films. Und dazu muss man dann eigentlich gar nicht mehr viel sagen. Sie alle haben im Kleinen Fernsehspiel angefangen, haben hier ihre ersten Filme gemacht. Da kann man schon einmal ein wenig sentimental und stolz werden.

Ein weiterer Name darf dann in dieser Runde nicht fehlen: Eckart Stein, der Redaktionsleiter von 1975 bis April 2000. Er hat Das kleine Fernsehspiel in seiner »Amtszeit« Schritt für Schritt zur ersten Adresse für die Nachwuchsförderung gemacht. Mit ihm und seinen Kolleg(inn)en haben all diese Filmemacher(innen) ihre ersten Filmprojekte realisiert, als ihre Namen weit davon entfernt waren, für sich selbst zu sprechen.

Natürlich hört sich das jetzt und hier ganz gut und selbstverständlich an, wie ein Programm mit Erfolgsgarantie. So liegt die Sache aber eher nicht. Die Arbeit einer Nachwuchsredaktion ist zunächst ein Wagnis, im Vertrauen auf unbekannte Menschen und ihre Geschichten, mit immer neuen Talenten, mit ein bisschen Gespür und Erfahrung, im Ergebnis oft genug daneben, oft auch mit Glück, aber nicht jener Art von Glück, die vom Himmel fällt, sondern eher mit dem Glück des Tüchtigen. Ein gutes Stück systematischer Arbeit und langer Atem gehören immer dazu.

Und Das kleine Fernsehspiel hatte ziemlich viel von allen Sorten von Glück. Zum Beispiel mit:

  • Oskar Roehler: Für »Die Unberührbare« (1999) wurde er mit vielen nationalen und internationalen Preisen, unter anderem mit dem Deutschen Filmpreis in Gold ausgezeichnet. Auf der diesjährigen Berlinale lief sein letzter Film »Der alte Affe Angst« im Wettbewerb.
  • Lars Kraume: Sein im Kleinen Fernsehspiel entstandenes Spielfilmdebüt »Dunckel« (1998), ein sehr besonderer Genre- und Ensemblefilm, gewann einen Grimme-Preis. Nach einem Kinofilm wird er bald wieder einen Film für uns realisieren (»Heiner Peppers Salty Dog«).
  • Hendrik Handloegten: Er hat mit »Paul Is Dead« (2000) im Kleinen Fernsehspiel einen der schönsten, humorvollsten Coming-of-Age-Filme der letzten Jahre gedreht, für den er viele Auszeichnungen, unter anderem den Adolf Grimme Preis erhalten hat. Sein neuer Film »liegen lernen« läuft gerade in den deutschen Kinos.
  • Achim von Borries: Nach seinem mehrfach ausgezeichneten Abschlussfilm »England!« (2000 – unter anderem Prix Europa 2001 für das Beste europäische Fiktion-Programm), hat er mit Daniel Brühl und August Diehl seinen neuen Film »Was nützt die Liebe in Gedanken« für X-Filme, ARTE und das ZDF gedreht; ab Januar 2004 im Kino!
  • Angela Schanelec: Eine Vertreterin der so genannten Berliner Schule hat bereits zwei Filme (»Plätze in Städten«, 1998, und »Mein langsames Leben«, 2001) im Kleinen Fernsehspiel realisiert. Zur Zeit entsteht ihr drittes Projekt, »Marseille«, ebenfalls für Das kleine Fernsehspiel.

Und – um jetzt endlich die nostalgischen Gefilde der Rückschau zu verlassen und in die Gegenwart einzubiegen – die nächsten Namen sind schon da und klingen gut:

  • Daphne Charizani: Mit dem Dokumentarfilm »Make up« (1999) gab sie vor vier Jahren ihr Debüt im Kleinen Fernsehspiel. Ihr erster Spielfilm, »Madrid«, wiederum hier entstanden, hat gerade den Hessischen Filmpreis 2003 erhalten.
  • Maria Speth: Ihr Abschlussfilm »In den Tag hinein« (2000) lief im vergangenen Jahr in der Reihe Gefühlsecht des Kleinen Fernsehspiels. Ihr neues Projekt, »Madonnen«, ist bereits mit der Redaktion in Arbeit.
  • Hannes Stöhr: Sein Debüt »Berlin is in Germany« (2001) aus der ZDF/RBB-Programmwerkstatt OSTWIND wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem als Bester Film 2002 vom Verband der deutschen Filmkritik. Auch sein nächster Film wird ein Kleines Fernsehspiel.
  • Branwen Okpako: Hat einen bemerkenswerten Dokumentarfilm im Kleinen Fernsehspiel gedreht, »Dreckfresser« (2000). »Tal der Ahnungslosen«, ihr neuer Film mit der Redaktion, ist die fiktionale Geschichte einer afrodeutschen Kommissarin, die in Dresden mit ihrer Kindheit konfrontiert wird.
  • Ulrich Köhler: »Ein verhindertes Roadmovie« hat er seinen Debütfilm im Kleinen Fernsehspiel genannt. »Bungalow« lief im Frühjahr 2003 in den Kinos, letzten Sommer in der Reihe Gefühlsecht im ZDF-Programm. Ausgezeichnet wurde er unter anderem mit dem MFG-Star und dem Hessischen Filmpreis 2002.
  • Judith Keil und Antje Kruska: Wen »Ausfahrt Ost« (1999) nicht bereits überzeugt hatte, der wusste spätestens bei ihrem zweiten Film im Kleinen Fernsehspiel, »Der Glanz von Berlin« (2001): Keil & Kruska stehen für außergewöhnliche Qualität im dokumentarischen Genre. Ihr drittes Projekt, »Dancing with myself«, wird zur Zeit gedreht.

Erfolg und Nützlichkeit

Die Bilanz des Kleinen Fernsehspiels kann sich also sehen lassen. Wie muss man aber arbeiten, wenn man entdecken will und soll, was und vor allem wer das Fernsehen von morgen macht? Wie findet man die Menschen und die Ideen, die Film und Fernsehen erneuern sollen, und das am besten so, dass alle – der Künstler, die Kunst, die Branche und, last but not least, auch das ZDF – etwas davon haben? Ein Geheimrezept gibt es nicht, aber ein paar Tugenden, die helfen können.

Erstens die Verlässlichkeit: Die Redaktion muss den Rahmen bereithalten, in dem die jeweils neue Generation von Filmemacher(inne)n ihre Ausdrucksmöglichkeiten findet: einen überschaubaren, aber stetigen Etat, mit dem wir rund 23 Filme pro Jahr produzieren; einen festen Sendeplatz – montags um Mitternacht, wenn die meisten Zuschauer schon gegen den Schlaf ankämpfen müssen; darüber hinaus zwei Reihen pro Jahr, Gefühlsecht und Deutschland Dokumentarisch, deren Beiträge zur so genannten zweiten Primetime ausgestrahlt werden.

Zweitens die Professionalität: Das ist das Wichtigste und das Schwierigste. Am Beginn unserer Arbeit steht die Drehbuchentwicklung. Vom viel beschworenen Ableben des Dramaturgenberufs keine Spur. Gefordert ist eine Kompetenz, die beim Entwickeln einer erzählenswerten Geschichte hilft, die all den Eigensinn und die Originalität bewahrt. Und die dann auch noch einen bezahlbaren Film verspricht.

Und drittens Offenheit und Risikobereitschaft: Unvoreingenommen und offen, aufmerksam, beweglich und risikobereit, lautet unsere Antwort. Offen für Menschen mit ihren Ideen, aufmerksam sein für Strömungen, Lebenswelten, Stile und Haltungen. Beweglich, indem man den Anspruch aufrecht erhält und sich wandelt in und mit der Zeit. Risikobereit, mit Mut zum Scheitern, aber auch mit Mut zum Erfolg.

So, und nur so, bleibt eine Nachwuchsredaktion wie Das kleine Fernsehspiel ein »lernendes Gefäß«, ein Ort, an dem die jeweils neue Generation von Filmemacher(inne)n ihre Ausdrucksmöglichkeiten findet. Und nicht nur die: Nicht unerwähnt bleiben dürfen die Produzent(inn)en, die mit dem Kleinen Fernsehspiel gewachsen sind – wie moneypenny, zero Film, Schramm-Film, WÜSTE- Filmproduktion, Egoli Tossell, Cameo Filmproduktion, Flying Moon Filmproduktion; die Kameramänner und -frauen wie Judith Kaufmann bei »Drachenland«, Henning Stirner bei »Nicht Fisch – nicht Fleisch«, Sebastian Edschmid bei »Mutanten«, Janne Busse bei »Klassenfahrt«; und natürlich die Schauspieler(innen): Mit Julia Hummer, Christiane Paul, Henriette Heinze, Ill-Young Kim, Erdal Yildiz, Nina Proll, Sabine Timoteo und Maria Simon seien hier stellvertretend noch ein paar Namen genannt, die Das kleine Fernsehspiel zum Fenster für den jungen deutschen Film machen.

Das ZDF tut das alles nicht aus purer Nächstenliebe, der Eigennutz ist Programm – und das in vielfacher Hinsicht. Denn die immer wieder neu zu entdeckenden Namen und Talente geben uns unendlich viel mehr zurück, als wir je aufwenden könnten, sie finden kompromisslos zeitgenössische Bilder und Geschichten, die uns berühren und unterhalten, die uns – an einem Jubiläum sei ein altmodisches, pathetisches Wort gestattet – aufklären über uns, unser Land, die Zeit, in der wir leben.

Dass diese Rechnung oft genug aufgegangen ist, hat Das kleine Fernsehspiel bis heute bewiesen. Sich jetzt auf den 40-jährigen Lorbeeren auszuruhen, satt und zufrieden, ist die Sache des Kleinen Fernsehspiels nicht. Es hat immer wieder festzustellen, wo wir jetzt stehen, und weiterzugehen mit und für Fernsehen und Film, Formensprache und Geschichten.

Nicht gegen »Gebrauchsfernsehen«

Betrachtet man aktuelle Arbeiten, und da vor allem die fiktionalen, so fällt jedoch auf, dass es fast immer Kinofilme sind, die hier entstehen: Coming-of-Age-Geschichten, die als Drama erzählt werden. Es sind sehr private, ernsthafte Geschichten, figurenzentriert, eher auf Atmosphärisches setzend als auf einen zwingenden Plot. Das ist alles sehr in Ordnung, viele dieser Filme finden Beachtung, sie werden preisgekrönt. Nur populäre Genres – Komödien wie »kiss and run« von Annette Ernst oder »Tolle Lage« von Sören Voigt, ebenso Krimis wie »Dunckel« von Lars Kraume – sind selten im Kleinen Fernsehspiel. Warum eigentlich? Eine Frage, mit der sich die Nachwuchsförderung nicht nur im Kleinen Fernsehspiel in Zukunft zu beschäftigen hat.

Auch im Dokumentarischen ist Ähnliches zu beobachten: Wir bekommen sehr gute Projektvorschläge und beachtliche Ergebnisse. Handwerklich tadellos gemacht, interessante Sujets, aber in der Regel als 90-Minüter, also Kinodokumentationen, realisiert. Was hier häufig als Purismus daherkommt, erweist sich bei näherem Hinsehen als Rückzug auf ganz klassische, eher konservative Formen. Klar kann man über Qualitäten streiten, aber zwischen Doku und Soap, zwischen Fake und Wirklichkeit ist zum Beispiel mit den Scripted-Doku-Soaps eine schnelle Erzählform entstanden, die das Fernsehen erneuert. Was tun wir damit? Auch das ist bitte nicht als Kritik an konkreten Produktionen zu verstehen, im Gegenteil, wir sind stolz auf unsere dokumentarischen Nachwuchsarbeiten.

Ein bisschen bleibt aber auch Sorge, denn Kinofilm bedeutet, bei Lichte betrachtet, ein eher begrenztes Publikum, begrenzte Abspielstätten, einen begrenzten Markt. Aber gute Filme brauchen ein Publikum und Filmemacher(innen) brauchen Arbeit. Im Fernsehen dagegen gibt es vergleichsweise viel zu tun. Aber wie und wo lernen die ambitionierten Filmemacher(innen), die vom Kino träumen, den Unterschied zwischen Reihe, Serie und Mehrteiler kennen? Wo lernen sie, was formatgerecht zu inszenieren heißt, wo lernen sie die Qualitätsstandards des Erzählfernsehens? Wir brauchen gutes Fernsehen, im Fiktionalen wie im Dokumentarischen, knapper in der Form, offener in den Sujets. Das ist wichtig für den Sender, für die Talente und für die Qualität des Fernsehens.

Damit wir uns richtig verstehen: Dass Filmemacher(innen) mit Kleinen Fernsehspielen im Kino reüssieren, ist gut und richtig, ebenso notwendig ist es aber, dass sie gelegentlich ihren Weg ins Hauptabendprogramm finden, zum großen Publikum, dass sie für den Fernsehfilm, die Gestaltung von Serien, für Dokumentationen zu gewinnen sind. Genau das ist aber gar nicht so einfach. Ein kaum verhohlener Dünkel gegenüber dem Populären, vor allem dem so genannten »Gebrauchsfernsehen«, ist weit verbreitet – für mich eine Beschneidung ohne Not, die uns möglicherweise um neues Fernsehen und neue Filme bringt.

Man muss ja nicht gleich die Herren Shakespeare oder Goethe bemühen, um sich daran zu erinnern, dass das Populäre und das Anspruchsvolle sich nicht ausschließen sollen, dass neue Ideen oft im Volkstümlichen entstehen und dass am Ende alle Kunst aufklären und unterhalten soll. Wie Sie sehen: Die alten Fragen sind die neuen Fragen. Ich verspreche Ihnen, wir bleiben am Ball.

 
 
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