ZDF.de
                Kontakt    
Suche
Erweiterte Suche
 
2003  
ZDF Jahrbuch
Schwerpunkte des Jahres
Markus Schächter
Ruprecht Polenz
Kurt Beck
Nikolaus Brender
Ulrich Tilgner
Stephan Hallmann
Eberhard Piltz
Peter Kunz
Martin Berthoud
Klaus-Peter Siegloch
Joachim Günther
Heike Hempel

Stephan Hallmann

Kriegsberichterstattung aus dem Nordirak

 
Stephan Hallmann
Stephan Hallmann
              
 

Schlechtes Wetter und Schnee versperrten uns den Weg über die Berge ins »freie Kurdengebiet« des Nordirak. Selbst die unverwüstlichen Toyotas unserer kurdischen Begleiter mussten vor dem meterhohen Schnee kapitulieren. Wir warteten in Piran Shahr am Fuß der schneebedeckten Berge, die den Iran vom Irak trennen, und tranken stark gesüßten Tee. Weit weg, in Mainz, New York, Washington, Bagdad und Kuwait spielte die Welt verrückt, glühten die Telefondrähte und drohten einige Sicherungen durchzubrennen. Jede dazu geeignete Geste aus dem Weißen Haus, jede aufziehende Schlechtwetterfront in der Golfregion schien dem »Hammerschlag« der Amerikaner gegen das Regime Saddam Husseins unmittelbar vorauszugehen. Um zehn Uhr nachts wagten wir schließlich den »Aufstieg« über den zugeschneiten Pass. Wir durften auf keinen Fall zu spät kommen.

Drüben wartete man auf den Krieg. Im mehrheitlich von Kurden bewohnten Nordirak sehnte man ihn herbei, verfluchte und fürchtete ihn wie vielleicht nirgendwo sonst. Der Wunsch, den Schlächter Saddam Hussein endlich stürzen zu sehen, und die Angst, dabei alles aufs Spiel zu setzen, was man erreicht hatte – beides war groß. Denn in den vergangenen zehn Jahren hatten die Kurden hier unter dem Schutz amerikanischer und britischer Kampfflugzeuge eine Periode des Friedens erlebt. Nach den Verfolgungen und Vernichtungsaktionen, denen sie bis Anfang der 90er Jahre durch das Regime Saddam Husseins ausgesetzt waren, konnten sie im autonomen Kurdengebiet des Nordirak erstmals seit langem ein Leben in relativer Sicherheit und in bescheidenem Wohlstand führen.

»Es waren vielleicht die besten Jahre, die wir Kurden je gehabt haben«, sagt Bahram Salih melancholisch. Der »Ministerpräsident« der von der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) beherrschten Hälfte des Nordirak spricht von der Zeit seit dem Golfkrieg von 1991. Die beiden großen Kurdenparteien, Massoud Barzanis Demokratische Partei Kurdistans (KDP) und Jalal Talabanis PUK kontrollierten mit ihren schwerbewaffneten Peshmerga-Kriegern das Land. Ein autonomes »Kurdistan« auf Zeit sozusagen. »Wir müssen noch hart arbeiten«, fügt der bedächtige Kurde Bahram Salih hinzu, »damit unsere Errungenschaften hier auch in dem neuen Irak Bestand haben werden und wir, die Vertreter irakisch Kurdistans, ein Wort, ein gewichtiges Wort bei der Bildung der neuen Regierung in Bagdad mitzureden haben.«

Die Kurden spielen eine herausragende Rolle im Irak am Vorabend des Kriegs. Sie besitzen als einzige ethnische Gruppe ein von ihnen kontrolliertes Gebiet, verfügen über eigene Truppen, die auf 30 000 bis 50 000 Mann geschätzten Peshmerga-Verbände von KDP und PUK. Sie können deshalb die Gastgeber der irakischen Oppositionsgruppen spielen. In der Nähe von Erbil tagen, als wir Ende Februar dort eintreffen, die verschiedenen ethnischen, religiösen und politischen Parteien der irakischen Anti-Saddam-Koalition im Hauptquartier von KDP-Chef Massoud Barzani. Unter der Oberfläche brodelt es. Die irakische Opposition ist tief beunruhigt über die Aussicht, dass die Diktatur Saddam Husseins auf unabsehbare Zeit durch ein amerikanisches Besatzungsregime ersetzt werden soll. Zukünftige Konflikte, so scheint es, kündigen sich bereits an, noch vor dem Sturz des Diktators von Bagdad.

Als durchsickert, dass die Amerikaner für die Durchmarschrechte von rund 60 000 US-Soldaten durch die Türkei auch Zehntausenden türkischer Soldaten den Einmarsch ins irakische Kurdengebiet erlauben wollen, ist vor allem bei den Kurden die Stimmung vollends im Keller. In einer Sondersitzung beschließt das kurdische Parlament in Erbil, den türkischen Truppen den Einmarsch zu verwehren. »Die Diktatur Saddam Husseins oder das Regime der Türken, das macht für uns keinen Unterschied. Beide wollen uns unterdrücken«, sagt der PUK-Abgeordnete Hekmat Muhammed Kerim. Aber sowohl der befürchtete Einmarsch der Türken als auch der ersehnte Befreiungs- und Rachefeldzug gegen Saddam Hussein lassen lange auf sich warten.

Noch immer verläuft nur 30 Kilometer von der Kurdenmetropole Erbil entfernt die innerirakische Grenze. Für die Menschen in Kalak, dem letzten autonomen kurdischen Dorf an der Straße nach Mosul und Bagdad, ist der Krieg seit über zehn Jahren ein ständiger Begleiter. Oben auf der Hügelkette gleich hinter dem Ort liegen die Truppen Saddam Husseins. Die Abhänge sind vermint. Nur Schafherden bewegen sich hier noch querfeldein, sonst herrscht gespenstische Stille. Frauen, Kinder und die meisten der Männer haben das Dorf verlassen. Kalak wartet auf den Krieg.

Die Nervosität steigt, auf beiden Seiten. Die Peshmerga-Kämpfer an diesem letzten Vorposten des »freien Kurdistan« brennen darauf, endlich an der Seite der Amerikaner loszuschlagen gegen das verhasste Regime Saddam Husseins. Die Soldaten oben auf den Hügeln halten mit der Wut der Verzweiflung dagegen. Wenn wir Journalisten unvorsichtig werden und die Deckung der Häuser verlassen, eröffnen sie das Feuer auf uns.

Der Krieg ist nah. Die Menschen spüren das. In Erbil haben sie begonnen, die Fenster gegen den befürchteten Giftgasangriff von Saddams Truppen mit Plastikplanen und Klebeband zu versiegeln. Sie sind gebrannte Kinder, wissen, dass der Diktator sich nicht scheut, chemische Kampfstoffe einzusetzen. Mitte März war es genau 15 Jahre her, dass Saddam Husseins Todesschwadronen die kurdische Stadt Halabja mit Napalm und Giftgas angriffen. Bizarr verformte Eisenträger, die Flecken ausradierter Häuser prägen noch immer das Stadtbild. Halabja ist zum schrecklichen Symbol für den Massenmord Saddam Husseins geworden, hat Angst und Abscheu vor dem Diktator tief eingebrannt ins Bewusstsein der kurdischen Bevölkerung des Nordirak.

Babywindeln werden zu Gasmasken umfunktioniert. Etwas anderes haben sie hier nicht, um sich vor dem Gas-Tod zu schützen. Keiner hat die Bevölkerung mit solchen Überlebenshilfen ausgerüstet. Nur wir Journalisten laufen mit Gasmasken, Schutzanzügen und Atropinspritzen gegen Nervengas, griffbereit im Rucksack, herum – inmitten einer Million völlig ungeschützter Menschen.

Kleine Rinnsale von Menschen, hier und dort ein mit ein paar Habseligkeiten vollbepackter Pick-up. Fast unmerklich haben sich die Menschen davongemacht. Plötzlich sind die Straßen Erbils leer. Wer kann, flieht gen Norden, in die Berge – der ewigen Zuflucht der Kurden. So weit weg wie möglich von der nur eine halbe Autostunde entfernten Front.

Doch der Krieg beginnt in der äußersten südöstlichen Ecke, im Grenzgebiet zum Iran. Und unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Hier operiert die Ansar al-Islam, eine auf 600 bis 900 Kämpfer geschätzte Gruppierung fanatischer kurdischer Islamisten. Die selbstgerechten Gotteskrieger gehen mit äußerster Grausamkeit vor, metzeln immer wieder Kämpfer der sich nicht religiös definierenden Kurdenparteien PUK und KDP nieder. Ihr bestialisches Islamverständnis erlaubt es ihnen, den Gegner zu schänden, zu verstümmeln. Es ist ja eine gottgefällige Tat.

Die Amerikaner beschließen, im Norden als erstes diesen Vorposten des radikalen, terroristischen Islamismus auszuschalten, um den Rücken frei zu haben gegen Saddam Hussein. Ende März beginnt der Vernichtungsfeldzug gegen die Ansar al-Islam. Nach massiven Luftangriffen gegen die schwer zugänglichen Lager der Terroristen in den Bergen gelingt es den etwa 100 US Special Forces, unterstützt von zehntausend kurdischen Peshmerga, einen Teil der Fanatiker zu töten. Der Rest der Ansar al-Islam wird über die Grenze und in die unwegsamen Berge getrieben. Sie werden wiederkommen – nach dem Krieg – und blutige Rache nehmen. Als Bombenleger und Selbstmordattentäter, als natürliche Verbündete des Terrornetzwerks Al-Qaida im Irak, dem neuen Schlachtfeld der islamischen Fanatiker für ihren »heiligen Krieg« gegen die Herrschaft der »Kreuzritter«.

Anfang April sind die Amerikaner endlich da. Wenn auch nicht in ausreichender Zahl und Bewaffnung für einen Krieg am Boden. Die Weigerung der Türkei, US-Truppen den Durchmarsch zu erlauben, um im Irak die »Nordfront« gegen Saddam Hussein zu errichten, bringt enorme logistische Schwierigkeiten mit sich. Truppen, Gerät, Jeeps, ja selbst die viele Tonnen schweren Kampfpanzer müssen mühsam und zeitraubend per Luftbrücke zur Landepiste in den Bergen nördlich von Erbil geschafft werden. Die »Nordfront« wird es nie geben.

Die amerikanische Kriegsführung beschränkt sich weitgehend darauf, den Gegner aus der Luft zu schlagen. Die tödliche Fracht der Langstreckenbomber und Cruise Missiles reißt Stellungen und Kasernen der irakischen Armee in Stücke. Am Boden beschränken sich die Amerikaner auf Kommandounternehmen kleiner Gruppen von US Special Forces und kurdischen Peshmerga hinter den Linien von Saddams Truppen. Immer wieder müssen sich Amerikaner und Kurden mit ihren leichten Waffen zurückziehen, wenn sie ins Feuer der irakischen Artillerie geraten. Dann spielen sie ihre unbeschränkte Übermacht in der Luft aus, geben Zielkoordinaten per Funk durch. Wenig später erscheinen amerikanische Kampfjets und Raketen am Himmel. Die Rauchwolken der nachfolgenden Detonationen erheben sich weit sichtbar am Horizont. Irgendwo im Hinterland registrieren die Kriegsberichterstatter, dass es »am Nachmittag nahe Mosul erneut zu heftigen Bombenangriffen« gekommen sei.

Am 6. April lenken amerikanische Offiziere das Feuer ihrer Bomber irrtümlich auf einen eigenen Fahrzeugkonvoi. Nahe Mosul sterben 18 verbündete Peshmerga-Offiziere im »friendly fire«. 45 werden zum Teil schwer verletzt. Es ist der bisher wohl folgenschwerste Irrtum dieser Art des Irak-Kriegs. Nirgendwo wurden so viele Menschen durch »friendly fire« getötet und verletzt wie an diesem Tag vor den Toren von Mosul.

Als wir am 11. April nach Mosul vordringen, ist die Atmosphäre gespenstisch. Eine aus der Luft »befreite«, frei geschossene Millionenstadt, aus der sich die bisherigen Machthaber zurückgezogen haben, aber kein amerikanischer Soldat weit und breit zu sehen ist, der das herbeigebombte Machtvakuum ausfüllt. Aus dem Palast der Regionalregierung im Zentrum der Stadt schlagen Flammen. Verwirrte Menschengruppen sammeln sich. Die öffentlichen Gebäude und die Zentralbank sind von Plünderern verwüstet. Die Straßen übersät mit zerschlagenem Mobiliar und zerfledderten Akten.

Die völlige Abwesenheit einer Ordnungsmacht hat die Menschen geradezu herausgefordert, auch nach dem ersten Ausleben ihrer Wut und des Triumphs über das gestürzte Regime, das Plündern fortzusetzen. Die Zerstörungswut macht dem Beutetrieb Platz. Nicht einmal vor den Krankenhäusern stehen Soldaten der Befreiungsmacht, die den aufgeputschten Massen bedeuten würden, dass es in der Stadt Inseln der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gibt – und das Plündern zu einem Ende kommen muss. Nur von den Ölanlagen außerhalb Mosuls und in Kirkuk wird gemeldet, dass amerikanische Truppen begonnen haben, einen Sicherheitsring um sie zu ziehen. Ein Fehler, eine Unsensibilität der Siegermacht mit nicht wieder gut zu machenden Folgen.

Als wir zusammen mit den Kollegen der britischen Nachrichtenagentur Reuters in Mosul eintreffen und mit der Berichterstattung vor dem brennenden Regierungspalast beginnen, werden wir plötzlich von der aufgebrachten Menge angegriffen. Die Menschen sind innerlich aufgewühlt, außer sich über das Chaos aus Gewalt und Plünderungen, aber auch über die weltweiten Fernsehbilder, die die Iraker als plündernde Bande zeigen. Stühle werden gegen uns geschleudert. Als unser Fahrer einen Mann mit einer Handgranate in der Faust entdeckt, ziehen wir uns fluchtartig aus der Stadt zurück.

Am nächsten Tag beziehen kurdische Peshmerga an wichtigen Punkten Mosuls Posten. Vereinzelt patrouillieren US-Soldaten mit ihren Jeeps durch die Straßen. Von einer Kontrolle der Stadt ist das noch weit entfernt. Die Amerikaner haben immer noch viel zu wenig Truppen im Norden.

Die Verweigerung der Türkei gegenüber den amerikanischen Kriegswünschen hat den Kurden einen unverhofften Vorteil verschafft. Nicht die Türken rückten – wie im Falle einer aktiven Unterstützung der amerikanischen Kriegspläne geplant – mit 40 000 Soldaten als Ordnungsmacht an der Seite der US-Armee im Nordirak ein, sondern die kurdischen Peshmerga wurden plötzlich neben den Briten zum wichtigsten Verbündeten Washingtons. Doch die historische Chance der Kurden, als »Freund« an der Seite der Supermacht aktiv an der Neuordnung des Irak teilzunehmen, könnte auch traditionelle Ressentiments zwischen Kurden und Arabern neu beleben.

 
 
zum Seitenanfang   
 
über das ZDF Impressum Kontakt   Erweiterte Suche © ZDF 2004
zdf.de ZDFinfokanal ZDFdokukanal ZDFtheaterkanal arte 3sat phoenix kika