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Ulrich Tilgner

Berichte aus dem Irak

 
Ulrich Tilgner
Ulrich Tilgner


Ulrich Tilgner mit einem Mitarbeiter in Bagdad
Ulrich Tilgner mit einem Mitarbeiter in Bagdad


Lagebericht aus Bagdad
Lagebericht aus Bagdad


Ulrich Tilgner live aus Bagdad, im Studio Dietmar Ossenberg
Ulrich Tilgner live aus Bagdad, im Studio Dietmar Ossenberg
              
 

»Die Langstreckenbomber sind gestartet.« Selbst Monate später werde ich nervös, wenn ich an diese Meldung denke. Es waren drei Stunden voller Anspannung, Nervosität und eben auch Angst, bis wir die ersten Einschläge der Bomben im Süden Bagdads hörten. Nicht nur bei Irakern war Erleichterung zu spüren, weil es keine Flächenangriffe auf Teile Bagdads gab. Denn auch bei ausländischen Journalisten lösten in der ersten Kriegswoche weniger die Angriffe Angst und Schrecken aus, es waren vielmehr die über der Stadt hängenden Drohungen der US-Kampagne »Shock and Awe«.

Bereits Monate vor dem Krieg wird vor allem in den US-Medien spekuliert, welche verheerenden Bomben- und Raketenangriffe die US-Streitkräfte im Rahmen ihrer Taktik von »Schock und Einschüchterung« nutzen würden, um das irakische Regime zu paralysieren. Eine Woche vor dem Krieg wird eine 9 000-Kilo-Bombe getestet. Vor allem Spekulationen über den Einsatz von hochenergetischen Mikrowellenwaffen zerren auch noch nach Beginn des Kriegs an den Nerven aller Journalisten, die aus Bagdad berichten. Zwar sollen Menschen überleben, doch die Frage, ob neben Chips und Schaltkreisen in Computern auch Teile menschlicher Gehirne zerstört werden, kann niemand beantworten.

Für mich entwickelt sich der Krieg zu einer Art riskantem Slalom. Im Geist bin ich die Strecke hundert Mal durchgegangen. Luftangriffe, Bodenkrieg, Kampf um Bagdad, Eroberung der Hauptstadt und Bürgerkrieg. Das sind die abgesteckten Stationen. Würde ich den Diplomaten Glauben schenken, befände ich mich auf einer Art Selbstmordmission. Vertraue ich meiner Analyse, kommt es zu einem schnellen Zusammenbruch des Regimes. Darüber nachzudenken, was wird, sollte diese Einschätzung nicht stimmen, kann ich mir nach Kriegsbeginn nicht mehr leisten.

Der Verlauf der ersten Woche bestätigt die militärische Schwäche Iraks. Gezielt, genau und erfolgreich greift die Koalition an, wobei der Vormarsch der Bodentruppen auf Bagdad eine taktische Meisterleistung bildet. Unter dem Druck der Land- und Luftangriffe zerbricht die Moral der irakischen Truppen. Zwar erweisen sich viele der Drohungen als Täuschungs- und Propagandamanöver, doch sie erreichen ihr Ziel, die irakischen Streitkräfte in die Irre zu führen und zu zermürben. Bei diesem Verwirrspiel werden die Medien gezielt eingesetzt.

Tommy Franks, der Oberkommandeur der US-Streitkräfte, gibt dem Informationskrieg (»information warfare«) Wochen nach dem Sturz Saddam Husseins die Bedeutung einer eigenen Front. Dieser Kampf sei mit folgenden Zielen erfolgt: »Einerseits sollte die Öffentlichkeit von unseren Plänen möglichst wenig erfahren, und andererseits sollte das irakische Regime getäuscht werden, damit es genau so reagieren würde, wie wir es wollten.« Kein Zweifel, unter Ausnutzung der Medien versuchen die Militärs, die öffentliche Wahrnehmung zu beeinflussen. Die militärische Auseinandersetzung erhält mit dem Informationskrieg eine ganz neue Dimension.

Mit zunehmender Dauer des Kriegs wächst meine Angst, als Figur auf dem Schachbrett des Informationskriegs missbraucht zu werden. Bereits bei den ersten Angriffen der Alliierten werden die Probleme bei den Berichten überdeutlich. Mit dem so genannten Enthauptungsschlag lähmen die US-Streitkräfte Saddam Husseins Regime. Auf Pressekonferenzen und Briefings in Washington wird der Eindruck erweckt, Saddam Hussein und andere Mitglieder der irakischen Führung seien möglicherweise in einer Bunkeranlage getroffen worden.

Auf vorbereiteten Grafiken wird die Wirkungsweise bunkerbrechender Waffensysteme demonstriert. Ob Saddam Hussein und andere Mitglieder der irakischen Führung tatsächlich ausgeschaltet wurden, wird letztlich offen gelassen. Dass gar keine Bunkeranlagen getroffen wurden und sich die Staatsführung zum Zeitpunkt des Angriffs gar nicht an dem getroffenen Ort aufhielt, konnten wir Journalisten in Bagdad erst Wochen nach dem Sturz Saddam Husseins zeigen. Doch bereits Minuten nach dem Einschlag haben wir die Angriffe bestätigt und damit die von den US-Strategen angestrebte politische Wirkung des Angriffs verstärkt.

Stunden später stehe ich vor einem ähnlichen Dilemma. Diesmal werden Gebäude auf dem großen Gelände des Palastes der Republik am westlichen Tigrisufer zerstört. Für die Bewohner Bagdads bringen die Einschläge der Raketen eine gewisse Erleichterung, werden doch nur evakuierte Regierungsgebäude getroffen. Für Fernsehzuschauer im Ausland stellen sich die Angriffe völlig anders dar, erfolgen sie doch genau in dem winzigen Sektor Bagdads, der von den auf dem Informationsministerium aufgestellten Kameras weltweit gezeigt wird. Ob es sich bei der Zielwahl um Zufall oder Absicht handelt, ist bis heute nicht geklärt.

Im Vergleich mit der systematischen Weise, in der die Alliierten die Medien nutzen, erscheinen die Methoden der irakischen Funktionäre plump. Dennoch ist auch deren Wirkung nicht zu unterschätzen. Das Dickicht der Flüsterpropaganda des irakischen Regimes hat System. So nimmt mich ein hochrangiger Mitarbeiter des irakischen Informationsministeriums zur Seite und bittet darum, für seine vierköpfige Familie Medikamente gegen chemische Kampfstoffe zu besorgen. Raffinierter kann die Botschaft, Irak sei bereit, Kampfgase zur Verteidigung Bagdads einzusetzen, kaum verpackt werden. Gezielte Fehlinformationen über Verteidigungsringe um Bagdad oder die Zahl getöteter oder gefangener US-Soldaten werden lanciert, um die USA doch noch für einen Waffenstillstand zu gewinnen.

Die Durchdringung dieses Geflechts von taktischen Winkelzügen und Fehlinformationen ist nur möglich, wenn der Korrespondent selbst im Krisengebiet systematisch mit Informationen versorgt wird. Das so genannte Café Bagdad, der Krisenstab in der Mainzer Zentrale, hat diese Aufgabe in beeindruckender Weise übernommen. So wurde ich auch aus Mainz über den Start der Langstreckenbomber informiert. Statt mich mühsam durch Berge von Agenturinformationen zu arbeiten, erhielt ich von den Café-Kollegen die wichtigsten Meldungen per Telefon. Die gewonnene Zeit konnte ich nutzen, um vor Ort die Stimmung der Menschen zu erkunden. Deren fehlende Kampfbereitschaft und Kriegsmüdigkeit hat entscheidend zum schnellen Zusammenbruch des irakischen Regimes beigetragen.

Doch trotz der guten Betreuung und der direkten Eindrücke in Bagdad war es für mich oft nur schwer möglich, die Ereignisse zu begreifen und über sie zu berichten. Denn nicht nur der Zuschauer, sondern auch der Korrespondent droht der Illusion einer Teilnahme aufzusitzen. Für mich bildet der Irak-Krieg ein Beispiel, dass es immer schwerer wird, Entwicklungen in modernen Kriegen nachzuvollziehen und zu begreifen.

Vor dem Hintergrund einer neuen Form der Unklarheit erscheint mir die alte Journalistenweisheit »Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit« zu einfach. Da die Trennung zwischen der Realität der Kriegsführung und Fiktion beziehungsweise gezielter Irreführung immer mehr verschwimmt, relativiert sich die Wahrheit zunehmend.

 
 
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