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Peter Kunz

Die Welt nach Saddam - und wo bleibt Osama?

 
Peter Kunz
Peter Kunz
              
 

Ein winterkalter Abend in Kabul, am Rande der großen, verfassungsgebenden Versammlung, der Loya Jirga; Wachleute stehen vor einem offenen Kiosk, in dem sich auf dem Fernsehschirm dieselbe Szene immer neu arrangiert wiederholt: Saddam Hussein als babylonischer Clochard. Das Tier ist gefangen. Die »Ratte«. Sie kann, will und wird nicht mehr zubeißen. Ein Soldat darf dem gefallenen Herrscher ungestraft im Mund herumfuhrwerken. Saddam Saladin hat ausgeritten. Wie ein alter Gaul muss er die Zähne zeigen und wird ausgemustert, abgehalftert. Der Blick in den Rachen des Diktators ist das jüngste Beispiel angewandter globaler psychologischer Kriegsführung mit Hilfe der internationalen Medien.

Es wird zumeist einen Tag dauern, bis sich die Journalisten nach dem überwältigenden Nachrichtenereignis fragen, ob sie nicht mit davongetragen wurden ins Mittelalter der Ressentiments. Analogien zum Tierreich und Anleihen bei den Verhaltensmustern in die Ecke gedrängter Nagetiere bestimmen den Ausdruck hochaktuell befriedigten Zorns und prägen die Zitate des Tages. Sinn und Berechtigung dieser Rhetorik werden in den ersten Stunden kaum hinterfragt. Die »Ratte« wird öffentlich in der Luft zerrissen, und wir alle schauen staunend zu – und senden.

Es gibt keinen Helden mehr am Tigris, nur noch den Erniedrigten. Die islamische Welt, in der ohnehin allzu viele am Komplex des ewig Besiegten und Gedemütigten leiden, ist wieder einmal in die Schranken verwiesen worden. Schaut, sagt der kurze Film aus dem Ort Tikrit, was wir mit euch anstellen können, wenn ihr aufbegehrt. Ein gefährliches psychologisches Spiel. Was hätten wir Europäer gesagt, wenn der unter Massenmord-Anklage stehende Slobodan Miloševic auf dem Weg nach Den Haag so aus allen Konventionen herausgehoben worden wäre? Hatte Amerika sich nicht über die Zurschaustellung der ersten amerikanischen Gefangenen in diesem Krieg erregt? Die Fernsehshow in Kabul und aller Welt wirkt mindestens vulgär, für manche vielleicht auch obszön. Vulgarität ist, sich mit Niedrigkeit gemein zu machen. Ganz unabhängig davon, ob der Mann am televisionären Pranger vor ein Gericht gehört oder nicht.

Die Soldaten vor dem Kiosk-TV sind an diesem Abend kaum ansprechbar. Stattdessen ungewohnt feindselig. Wo es deutsche Reporter in Afghanistan doch sonst so leicht haben. Heute Abend schleicht sich bei unseren Gesprächspartnern über den Bauch und das Herz der Kulturkampf hinauf in die Köpfe. Was wollt ihr denn? Ihr seid doch auch nur aus dem Westen. Saddam war nicht unser Fall. Ein Mörder im höchsten Staatsamt. Ein Feigling offenbar noch dazu. Aber er bleibt trotzdem einer von uns. Ein Moslem. Ihr habt ihm den Bart gestutzt. Und alle Moslems mit eurer Respektlosigkeit beschämt.

Der Eifer der fernsehenden Bewaffneten, sich beherzt in die Verfolgung noch flüchtiger Glaubensgenossen mit terroristischem Hintergrund zu stürzen, mag jetzt noch geringer geworden sein. Aber das ist Spekulation. Handfest antwortet stattdessen der Polizeigeneral, der an diesem Abend die Wacht an der Kabuler Loya Jirga befehligt, wo eine Mehrheit von konservativ Gläubigen die Weichen für ein friedlich-modernes Afghanistan stellen soll. Er unterscheidet zwischen seinem persönlichen, unbehaglichen Gefühl angesichts der Bilder und dem höheren Ziel weltpolizeilicher Gewalt: »Nachdem sie Saddam festgesetzt haben, habe ich wieder Hoffnung, dass sie auch Osama bin Laden und Mullah Omar fangen werden. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern.« Eine Stimme ganz im Sinne der »coalition forces«, die vor zwei Jahren am Hindukusch ihren globalen Feldzug gegen die Bedrohung der Welt begonnen haben. Nein, Osama ist nicht vergessen an diesem historischen Abend.

Nicht in der afghanischen Hauptstadt, bei sechs Grad über Null, wo die Berge, die Kabul wie ein Ring umschließen, sich bereits weiß eingefärbt haben. Zwei Tage später werden wieder Raketen fliegen. Die internationale Schutztruppe kann nicht verhindern, dass der Feind rund um Kabul seine Positionen weiter ausbaut, heißt es in einem vertraulichen Papier. Der Feind sind die wieder erstarkten Taliban und die Terroristen. Und irgendwo in den schneebedeckten Gebirgszügen rechts und links der pakistanischen Grenze soll Osama bin Laden sitzen, einst Gast der Taliban, immer noch Terrorist und jetzt wieder Weltfeind Nummer eins. Auch wenn Saddam für eine Weile den Blick auf ihn versperrt hat. Sehr unwahrscheinlich, dass Osama in einem simplen Erdloch haust. In der Vergangenheit waren es ausgeklügelte Höhlensysteme, die ihm Zuflucht gewährt hatten.

Kürzlich soll der Terrorchef die Hochzeit eines Verwandten und Subkommandeurs mitgefeiert haben, und ab und zu besucht er offensichtlich sogar eine der über die Landstriche verteilten Ehefrauen. Seine Zähne zeigt er der Welt freiwillig. Nicht gezwungenermaßen und symbolisch zahnlos wie Saddam. Allerdings muss sich Osama bin Laden kaum noch persönlich anstrengen. Al-Qaida arbeitet selbständig. Aus der »Basis«, wie das Wort meist übersetzt wird, sind viele Basen geworden.

Al-Qaida war am Anfang vermutlich nicht viel mehr als ein Wort in der Hand einer kleinen Gruppe von Sprengmeistern. Es ist eine weltweite Plattform geworden, die inzwischen unterschiedlichste Ziele in gemeinsamer Gewalt vereint. Die Prophezeiung hat sich selbst erfüllt. Sicher auch, weil ein Feind einen Namen tragen muss. Die Rede von Al-Qaida und der Kampf gegen die verzweigte Terrorspinne hat eine recht stabile »Basis« im Sinne einer Identität auch mit geschaffen und geformt.

Auf den Philippinen ausgebildete Selbstmordkämpfer haben keine ideologischen Bedenken mehr, sich mit Weltanschauung und Zielen der wahhabitischen Urzelle zu identifizieren. Al-Qaida ist ein diffuses Sammelbecken für militante Opposition, gefühlte Unterdrückung und falsch verstandene Selbstbehauptung geworden. Kleinstartikelhersteller in Süd- und Südostasien verdienen fleißig an der Ikone Osama. T-Shirts, Kalender, Osama-Figuren auf einer sich immer wieder aufstellenden Sprungfeder verkaufen sich im islamischen Raum so gut wie die Merchandising-Produkte des neuesten »Herrn der Ringe« im Westen.

Osama ist eine Popfigur geworden im Orient – über das Tagesgeschehen längst hinausgehoben in einen mythischen Raum. Und das Tagesgeschäft von Al-Qaida bestimmt schon lange nicht mehr Bin Laden allein. Die Terrorrevolution hat ihre Kinder in die Selbständigkeit entlassen. Die Bomberkommandanten der Jemaah Islamyia in Südostasien sind inzwischen potenter und beweglicher als Bin Laden und sein ägyptischer Stellvertreter in ihrem Versteck hinter den sieben Bergen. Lohnt sich also der Aufwand überhaupt noch, den Propheten und Vater aller modernen islamischen Terroristen dort zu jagen, wo er offensichtlich so schwer zu fangen ist? Auch Saddam soll vor seiner Ergreifung nur noch ein mittelbarer Auftraggeber gewesen sein. Nicht mehr Steuerknüppel der Bewegung. Kaum mehr als der Mann, dem die Ergebnisse der Terrorarbeit reportiert wurden. Womöglich ist es im Falle des Spiritus Rector von Al-Qaida ganz ähnlich. Will ihn überhaupt noch jemand, den Mann mit dem langen Bart?

Aber natürlich. Ohne Frage. Simply yes. Vermutlich würde die Antwort des amerikanischen Präsidenten auf diese Frage denkbar kurz ausfallen. Eine »Ratte« allein macht noch keinen Sommer. Und der Freigänger und Bergwanderer Osama bin Laden verhöhnt das große Amerika, solange er sich unbestraft bewegen kann. Der große Roman von Schuld und Sühne nach dem 11. September ist nicht zu Ende geschrieben, bevor der Teufel persönlich vorgeführt werden kann.

Die Medien bekommen nur den oberflächlichen Teil der Suche nach Osama bin Laden mit. Wenn sich von der amerikanischen Basis im afghanischen Kandahar wieder ein Konvoi gepanzerter Fahrzeuge in Bewegung setzt, um an der pakistanischen Grenze Aufklärungsarbeit zu betreiben. Wenn sich zum Beispiel der durchtrainierte Reservistenhauptmann Kit Parker dolmetscherunterstützt in einem Flüchtlingslager aufbaut und seine Botschaft aus Zuckerbrot und angedrohter Peitsche absetzt: »Ich will von euch Informationen über Osama bin Laden. Osama bin Laden, ein langer Kerl, wie ich, mit einem Bart, einem langen Bart, ungefähr so. Wenn ihr etwas wisst, kommt nach Kandahar auf die Basis. Ich bin 24 Stunden für euch da. Wenn ihr nichts sagt, können wir euch auch nicht helfen. Entwicklungsgelder werden erst hierher kommen, wenn wir Osama fangen.« Wer bei solchen Szenen dabei sein kann, wähnt sich im falschen Film. Da wird Terrorkampf zum Slapstick am Rande des Hindukusch. Und die gepanzerte amerikanische Kolonne rollt anschließend wieder aufwändig und erfolglos zurück in die Wildwest-Kulisse des Stützpunktes Kandahar.

Amerika zahlt für jeden weiteren Tag der Suche nach Osama bin Laden Unsummen. Zeit ist Geld, und sein Vorrat an Zeit macht den Terrorchef in dieser Auseinandersetzung stark. Der Saudi und die Vereinigten Staaten führen auch einen Wirtschaftskrieg gegeneinander. Wer wird als erster ausgezehrt und ausgezählt sein? Womöglich bricht dem Al-Qaida-Gründer das schnöde Geld am Ende sogar den Hals.

Noch gewähren ihm gewogene Paschtunenfürsten Unterschlupf. Aber eigentlich ist den Regeln der Gastfreundschaft im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet längst Genüge getan. Und nur ein einziges Gesetz hat dort in Jahrtausenden jeden Aufstieg und Fall einer Macht überdauert: Alles ist käuflich. Osama bin Laden hat den sich reorganisierenden Taliban offenbar die personelle und finanzielle Unterstützung gekürzt, um Männer und Millionen in den Irak umzuleiten. Nach diesem Schachzug wird vielleicht auch der Wille zur Verschworenheit bei seinen Verbündeten neu berechnet.

In weitem Bogen zurück zu Saddam: Wäre die angeblich bereits vorbereitete Handgranate in Saddam Husseins Bodenversteck geflogen, wäre Geschichte vermutlich anders geschrieben worden. Die genetische Analyse hätte einen weiteren Märtyrermythos geboren. Der Diktator, wie er sich lebenslang so gerne fälschen ließ: furchtlos und kampfbereit bis in den Untergang. Wenn man Osama bin Laden nun fängt, was fängt man mit ihm an? Vor welches Strafgericht soll man ihn stellen? Wie viel Fläche – Bildfläche vor allem – soll man ihm zur Verfügung stellen; dem Mann, der das Informationszeitalter bisher bestens für seine Absichten zu nutzen wusste?

Osama muss büßen, keine Frage sicher für jeden guten Christenmenschen in der amerikanischen Administration. Nachdem alles Wichtige getan ist und drängendere Probleme gelöst sind. Osama hat Amerika schließlich mit der Arbeit einer kompletten strategischen Neuordnung ausgelastet. Truppen der USA stehen inzwischen dauerhaft am Kaspischen Meer.

Über die meisten Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 ist die Zeit hinweggerollt und hat die Luft aus ihnen herausgelassen. Aber wäre Bin Laden auch heute noch vom CIA mitfinanziert, er hätte seinem früheren Brötchengeber nicht besser in die Hände spielen können. Der weltweite Kampf gegen den Terror geht zwar fürchterlich ins Geld, das amerikanische Defizit bricht wieder Rekorde, aber die Wirtschaft meldet frischen Schwung. Amerika verlässt sich auf sein neues Exportprodukt: Sicherheit auf allen Kontinenten – oder zumindest der Anschein davon. Das Außenhandelsdefizit wird mit den Krediten finanziert, die Alliierte und Kritiker letztlich doch im Vertrauen auf die Kraft und Durchsetzungsfähigkeit des »terror cop« Amerika bereitstellen.

Osama bin Laden hat sich in diesem Szenario inzwischen überlebt. Wenn es sein Ziel war, Amerika in die Schranken zu weisen, dann hat er das Gegenteil erreicht. Er hat die Tore geöffnet für eine Neuordnung der Welt. Die Idee von der Weltpolizei, die unter Präsident Bushs Vater propagiert wurde, wird mit Verzögerung unter seinem Sohn umgesetzt. Wirtschaftliche und militärische Standortvorteile ergeben sich wie von selbst.

Niemand braucht mehr Osama bin Laden. Er soll schmoren. In der Hölle. Und in Guantanamo. Oder beides. Unterstellen wir einfach mal, dass den amerikanischen Präsidenten solche Phantasien nächtens heimsuchen. Dass ihn nicht die Wiederwahl allein beschäftigt. Und dass sich ja das eine sogar gut mit dem anderen verbinden ließe: Pünktlich zum Wahlherbst 2004 schauen wir alle gemeinsam Osama ins Maul. Zur besten Sendezeit.

 
 
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