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2006  
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Anne Even
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Filmplakat zu »Das Ende der Kindheit«
Filmplakat zu
»Das Ende der Kindheit«


Szene aus »Die große Stille« von Philip Gröning
Szene aus »Die große Stille« von Philip Gröning


Kinderkrebsstation in »Vor dem Flug zur Erde«
Kinderkrebsstation in »Vor dem Flug zur Erde«
 

»Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.« Das ist lange her. Stell Dir vor, es ist Quotenkrieg und alle kämpfen. Alle. Die Lieblingswaffen sind zur Zeit Messer und Gabel oder Säge und Schraubenzieher. Alle schicken ihre besten Kochsoldaten an die Herdfront oder die bewehrten Heimwerker an die Sperrholzplatte. Ein atemloser Kampf um jeden einzelnen Zuschauer findet tagtäglich im Fernsehen statt. Auch ARTE will natürlich mehr Zuschauer, will mit bester Programmierung die wechselnden Zielgruppen erreichen und neue Zielgruppen gewinnen. Aber es ist gut, nicht zu den Großen zu gehören. Das gibt uns die Möglichkeit, mehr auszuprobieren, den Zuschauern scheinbar Unzumutbares zuzumuten.

Nicht angestrengt, aber wach sollte unser Zuschauer sein, vor allem, um im dokumentarischen Bereich hinzuschauen und zuzuhören, den fremden Blick zu entdecken und zu genießen – Angebote an den aktiven Zuschauer. Kein Abholen und An-die-Hand-Nehmen um jeden Preis, also kein Fernsehen als Blindenhund. Nicht umsonst ist ARTE so erfolgreich auf allen Festivals der Welt mit Programmen von Profil, die das Profil des Senders schärfen.

»Bei der Schöpfung gab Gott den Europäern die Uhr, den Afrikanern gab er Zeit«, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Da geht es bei ARTE wohl ziemlich afrikanisch zu. »Der Dokumentarfilm«, »Welt im Blick«, »Spätvorstellung« und die Themenabende – hier können Autoren ihre Geschichten erzählen, weitgehend unformatiert, ohne pädagogischen Zeigefinger, keine Erklär­stücke. Die eigene Handschrift ist erwünscht. Die Filme sind von einer großen Kreativität und Vitalität, die es zu verteidigen gilt, verschwinden sie doch immer mehr aus dem Fernsehgeschehen.

Die eigene Handschrift erwarten wir auch bei den Doku-Soaps, die 2004 ins Programm aufgenommen wurden, um auf dem schwierigsten Sendeplatz um 20.15 Uhr vor allem in Deutschland mit einem kurzen Format den Fernsehabend einzuläuten. Das Spektrum der erzählten Geschichten ist groß. Wir sind nah an den Menschen, gehen offen und fair mit ihnen um. Niemand wird vorgeführt oder lächerlich gemacht. Wir setzen das Thema spielerisch um, servieren aber keine flotten, oberflächlichen Häppchen, sondern gehen dokumentarisch in die Tiefe. Wir nehmen uns Zeit für die Protagonisten. Leider goutiert der Zuschauer das zu selten, sodass 2006 weniger Reihen in Produktion gingen. Wie es weitergeht, bleibt abzuwarten. Die Programmkonferenz in Straßburg hat die Entscheidung. Leicht wird es niemand auf diesem Sendeplatz haben, wenn er Qualität bietet.

Unsere Redaktion konnte in diesem Jahr vier besondere Reihen vorstellen. Wir haben uns mit ziemlich erfolgreichen Fußballerinnen aus München beschäftigt, mit dem Entstehen der neuen Ikea-Filiale in Erfurt, mit drei UNHCR-Flüchtlingshelfern im Südsudan und sechs pubertierenden Kindern in Leipzig und Bayern – eine schöne hauseigene Bandbreite.

»Das Ende der Kindheit« heißt die letztgenannte Reihe, die mit dem ZDF koproduziert wurde. Zwei Jahre lang haben sich Dominique Klughammer und Wolfgang Klauser mitten in das Leben von sechs Kindern und ihren Familien begeben. Davor aber stand die Auswahl. 2004 wurden Flyer an Schulen in Leipzig und Bayern verteilt. Die Wahl fiel auf Florine, Moritz und Renke in Leipzig und auf Rebecca, Susanne und Benni in Bayern. Die bayerischen Kinder wurden von Dominique Klughammer und ihrem Team begleitet und die Leipziger Kinder von Wolfgang Klauser. Außerdem bekamen die Kinder eine DV-Kamera, mit der sie »Tagebuch« führen sollten. Ein Abenteuer begann. Die Reihe erzählt vom ganz normalen Wahnsinn der Pubertät und zeigt, wie aus sechs Kindern zwischen elf und 13 Jahren langsam junge Erwachsene werden. Die beiden Autoren haben in der Zeit ein enges Vertrauensverhältnis auch zur Familie, Schule und Clique aufbauen können, sonst hätte es nicht funktioniert. Das persönliche Erleben der Kinder stand aber immer im Mittelpunkt, ihre körperliche, geistige und emotionale Entwicklung, wenn die Gefühle Achterbahn fahren und die Launen im Sekundentakt wechseln. Die Kamera zeichnet sich durch große Liebe zum Detail aus, der szenische Schnitt und die ganz auf die Protagonisten bezogenen Kompositionen von »Superstring« tun ein Übriges. Die Reihe beobachtet nah und respektvoll und lässt sich ganz auf die erlebten Situationen ein, aber sie wertet und erklärt nicht. Mit Humor macht sie es dem Zuschauer leicht, sich in die Situationen einzufinden, sich zu erinnern, Anteil zu nehmen und sich zu wundern. Eine filmische Langzeitbeobachtung zum Thema Pubertät – das hat es noch nie gegeben. Zwei Jahre, eine wahnsinnig lange Zeit in einem jungen Leben.

Ein Dokumentarfilm für die Reihe »Spätvorstellung« beschäftigt sich auch mit Kindern. Kindern, denen das Leben vielleicht keine Zeit mehr lässt. »Vor dem Flug zur Erde« von Arunas Matelis erzählt vom Alltag auf einer Kinderkrebsstation in Vilnius. Matelis hatte dort zu einem früheren Zeitpunkt Monate verbracht, als seine eigene kleine Tochter schwer erkrankte. Sie konnte geheilt werden. Was ihn zutiefst beeindruckte, war die Kraft und Lebensfreude der Kinder und die Stärke der Familien, sodass er sich vornahm, wiederzukommen und einen Film zu drehen, auch als Dank. Er sagt: »Für die Kinder ist das Leben nicht vorbei. Sie müssen es nur viel intensiver leben. Man kann über so einfache Dinge glücklich sein. Noch ein Tag, eine Nacht zusammen verbringen zu dürfen, noch einen Sonnenaufgang gemeinsam zu erleben oder sogar einen Regentag. Die Krebsstation wurde für mich und meine Familie zu einem Ort, an dem man die größte Not seines Lebens gespürt und an dem man die hellsten und sinnvollsten Tage erlebt hat.«

Wenn man die Zeit nutzt, wird sie zum Geschenk. Der 14-jährige Andrius lächelt uns an und wartet aufgeregt darauf, dass es nach den Bestrahlungen, der Chemotherapie und der Knochenmarkstransplantation mit dem Gesundwerden endlich losgeht. So viel Geduld hat er schon gehabt, so lange liegt er schon im Krankenhaus. Am Ende fehlt ihm leider die Kraft. Die Zeit heilt die Wunden nicht – auch nicht die der Eltern.

Die Mutter des kleinen Mantas erzählt uns: »Mir wurde gestern klar, dass Mantas nicht weiß, was eine normale Kindheit bedeutet. Er hat sich an diese Nadeln gewöhnt. Ein Stich in die Hand beschäftigt ihn den ganzen Tag. Morgens wurde ihm in den Finger gestochen und ich vergaß, die Watte abzunehmen. Wahrscheinlich drückt er den kleinen Finger noch immer. Wird der Tropf angebracht, bewegt er den Arm nicht. Er hütet die Stelle, wo die Medizin immer reintropft. Ihn bedrückt das Krankenhaus nicht mehr. Er weiß nicht, dass es anders sein kann.« Arunas Matelis ist es gelungen, einen »fröhlichen« Film zu machen über die Schönheit des Lebens, über die Möglichkeiten, Glück zu erleben auf einer Kinderkrebsstation, über den Wert von Liebe, Geduld, Mut und Glauben.

2006 kam ein Dokumentarfilm in die Kinos, der alle in Erstaunen versetzte. 162 Minuten Stille. »Die große Stille«. 162 Minuten statt der vereinbarten 90 Minuten. Ist das ein Mehrwert oder eine Katastrophe fürs Programmschema? Es ist eindeutig ein Glücksfall, ein Kinoereignis, das auch ein Fernsehereignis werden wird.

Bereits 1984 schrieb der Autor Philip Gröning ein Exposé zusammen mit Nicolas Humbert, »Über die Klöster«. Zu der Zeit hatten sie Dom Marcellin kennengelernt, der später als Generalprior der Grande Chartreuse bei Grenoble berufen wurde. Dreharbeiten im Kloster lehnte er ab, die Zeit sei noch nicht reif. Der Kontakt zu ihm brach jedoch nicht ab. Nach 16 Jahren dann der Anruf aus dem Kloster, »ob Gröning noch Interesse hätte«.

Ja. Unser Ja stand jedenfalls sofort fest. Außer ZDF/ARTE stiegen noch der BR und das Schweizer Fernsehen ein, sowie verschiedene Filmförderungen. Gröning wollte über vier Jahreszeiten drehen und lebte sechs Monate des folgenden Jahres im Kloster. Er war nicht nur Autor und Regisseur, sondern auch Kameramann, Cutter und Produzent. Er drehte auf High Definition (HD). Die Auflage des Klosters: kein künstliches Licht, keine zusätzliche Musik, kein Kommentar.

Wie filmt man Beten? Indem man Mönche beim Beten zeigt. Nah, lange, immer wieder. Es stellt sich auch beim Betrachter eine große Ruhe ein. Betrachten als Gebet? Ein Film, »der selbst Kloster wird«. Gröning hat sich viel Zeit genommen. Zeit für die Hand, die die Seite eines Gebetbuches umblättert. Zeit für die Hand, die den Gewandstoff schneidet, ihn glatt streicht. Zeit für Bruder Benjamin, den jungen schwarzen Novizen, der uns lächelnd anschaut, der lernen muss, sich einzufügen in den immer gleichen Tagesablauf. Zeit für das Gespräch mit dem alten blinden Mönch über das Leben im Glauben ohne Angst.

Nach einem Jahr kam Gröning mit 200 Stunden Material zurück. Wie soll der Film aussehen? Welche Struktur soll er haben? Die Zeit vergeht. Zweieinhalb Jahre Schnitt. Gröning hat seinen eigenen Rhythmus und lässt sich von niemand drängen. Man muss warten können, bis man das richtige Gespür für das Material hat. Die grobe Struktur bilden die Jahreszeiten, dazwischen schneidet er intuitiv. Dann 14 Tage Mischung, um das nicht Hörbare hörbar zu machen. »Die große Stille« ist eine strenge, fast stumme Meditation über klösterliches Leben in seiner reinsten Form. Es ist Zeit für die Große Stille.

 
 
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