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Wolfgang Bergmann

Eintrag ins kulturelle Gedächtnis
Elf Jahre Theatertreffen, zehn Jahre 3sat-Preis: Die Fernsehbühne lebt

 
Wolfgang Bergmann
Wolfgang Bergmann


»Iwanow«: Birgit Minichmayr und Silvia Rieger
»Iwanow«: Birgit Minichmayr und Silvia Rieger


Samuel Finzi, Almut Zilcher und Birgit Minichmayr
Samuel Finzi, Almut Zilcher und Birgit Minichmayr


Milan Peschel und Samuel Finzi in »Iwanow«
Milan Peschel und Samuel Finzi in »Iwanow«
 

»Im Arsch ist finster!«, schallt es von der Bühne. Glucksendes Gelächter aus dem Zuschauerraum, in dem sich dicht gedrängt und (fast) ohne Anzeichen von Erschöpfung knapp 1 000 Theaterfreunde zusammengefunden haben, um einem mit Spannung erwarteten Gastspiel des Wiener Burgtheaters beizuwohnen. Wir schreiben in etwa die Stunde vier einer knapp sechsstündigen Aufführung in der Regie des Ausnahmeregisseurs Einar Schleef. Gegeben wird »Ein Sportstück«, und die Worte stammen aus der Meisterfeder zeitgenössischer deutschsprachiger Dramatik.

Elfriede Jelinek hatte diese Suada auf den Sportwahn als Allegorie auf eine sich im alltäglichen Wahnsinn selbst überrundende Welt geschrieben. Einige Jahre später wird die umstrittene Autorin den Literaturnobelpreis verliehen bekommen. Hier dichtet sie das Motto einer weiteren Saison unserer Arbeit auf schwierigstem Terrain: »Im Arsch ist finster«. Das Gelächter im Übertragungswagen ist groß.

Es ist wieder Theatertreffen in Berlin. Die zehn herausragendsten Inszenierungen der zurückliegenden Spielzeit sind von einer Kritikerjury bestimmt und nach Berlin eingeladen worden, um dort innerhalb eines Zeitraums von drei Wochen allesamt aufgeführt zu werden. Das Fernsehen ist dabei und überträgt einige der Gastspiele live, andere werden aufgezeichnet, um später im Jahr im Programm von 3sat gezeigt zu werden. Theater im Fernsehen, da kann es schon mal etwas dunkler werden. Aber so finster war es nie. Einar Schleef, der Theaterberserker der 90er Jahre, hatte mit seinem »Sportstück« nicht nur für die Theatersensation der Saison gesorgt, sondern auch für einen fernsehaufnahmetechnischen GAU: zehn Minuten absolute Dunkelheit auf der Bühne, dann ein Lichtspalt und weitere zehn Minuten Hörspiel auf dem Bildschirm.

»Künstler müssen keine guten Menschen sein«, hatte mich Walter Konrad gewarnt, damals Direktor für 3sat und ARTE – und Mentor der »Initiative Theater im Fernsehen«. Nun, Einar Schleef war bestimmt kein schlechter Mensch, aber er war unerbittlich in der Durchsetzung seiner Kunst, ein kompromissloser Überzeugungstäter, unmäßig in seinen Vorstellungen und unerbittlich sich selbst und anderen gegenüber, wenn es um deren Umsetzung ging. Und für seine Inszenierung des Jelinek-Textes hatte er eben 20 Minuten Dunkelheit vorgesehen, warum auch immer, es musste sein, da war ihm das Fernsehen vollständig egal. Ein von Torsten Maß, dem damaligen Leiter des Theatertreffens organisiertes Krisenmahl mit Schleef in einem preisgünstigen chinesischen Speiselokal verlief ergebnislos. Schleef zeigte an der geplanten Fernsehübertragung kein erkennbares Interesse, ja, er sprach sich sogar eher dagegen aus. Kein Gedanke daran, die uns so quälende Finsternis auch nur ein ganz klein wenig aufzuhellen, um dem Fernsehpublikum wenigstens den Eindruck eines kompletten Bildausfalls zu ersparen. Und überhaupt: keine Änderungen am Theaterlicht oder an irgendetwas sonst. Verzweifelt traben wir zurück ins Hotel, als plötzlich Schleef auf seinem berühmten Oldtimer-Fahrrad neben uns auftaucht, sein Tempo verringert und eine Weile wortlos neben uns herrollt. »Ich bin schwierig, nicht?«, fragt er schließlich rhetorisch – und beschleunigt in Richtung Charlottenburg. Ja, denke ich bei mir. Aber wir werden es trotzdem machen ...

Nur eine von zahlreichen skurrilen Anekdoten aus zehn Jahren Theatertreffen, fast alle übrigens mit Happy End. Wie auch hier, beim »Sportstück«, dessen Übertragung via 3sat mit in der Spitze sechsstelligen Publikumszahlen und beträchtlichem publizistischem Echo zu den Höhepunkten in der Geschichte der Zusammenarbeit zwischen Theater und Fernsehen gehört, obwohl oder gerade, weil 20 Minuten lang nur abgedunkelte Bühne auf dem Bildschirm zu sehen war und dazu ein beißend scharfer Text aus dem Off. Entscheidend ist, dass mit dieser aufwändig gemachten Fernsehübertragung eine der herausragenden Theaterarbeiten des vergangenen Jahrzehnts festgehalten wurde und heute noch einsehbar ist für diejenigen, die sich mit Einar Schleefs einzigartiger Inszenierungskunst und seiner genuinen Bühnenästhetik vertraut machen wollen, obwohl er bereits vor fünf Jahren, viel zu früh, für immer die Bühne verlassen musste. Diese Inszenierungsaufzeichnung ist nicht mehr und nicht weniger als ein Eintrag in das Gedächtnis unserer Kultur. Eine Fortschreibung dessen, was wir einmal ein bisschen kompliziert die »visuelle Enzyklopädie des deutschsprachigen Theaters« getauft hatten, als es um die Motivation dieser im deutschen Fernsehen einzigartigen Anstrengung für die Erhaltung anspruchsvoller Kulturprogramme ging.

Denn Mitte der 90er Jahre schienen die Tage gezählt, an denen die vollständige Abbildung von Bühneninszenierungen im Programm noch möglich sein sollte. Im Angesicht des sich verschärfenden Wettbewerbs im dualen System wollte oder konnte man sich markante Quotendellen auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht mehr leisten. Auch die letzte überhaupt im Fernsehen verbliebene Reihe mit Theaterstücken, Die aktuelle Inszenierung im ZDF, war nicht mehr zu halten und so kam unsere »Initiative Theater im Fernsehen« mit 3sat und später mit ARTE und dem ZDFtheaterkanal in letzter Minute, um das Genre zu retten. Niemand hätte den totalen Abriss dieser kulturellen Gedächtnisarbeit aufhalten können, wären nicht auf Initiative des ZDF Vertreter der Bühnenverlage, der Theater und Akademien zusammengetreten, um nach einer neuen Grundlage für die Zusammenarbeit zu suchen. Mit dem ebenfalls nach der deutschen Wiedervereinigung in eine Identitätskrise geratenen Berliner Theatertreffen war diese neue Basis dann 1995 gefunden. Das Festival, einst als Werkschau gesamtdeutschen Theaterschaffens im abgeschnittenen Berlin gegründet, hatte im wiedervereinten Deutschland mit einer Sinn- und Finanzkrise im notorisch überschuldeten Berlin zu kämpfen. Die Idee, das Festival endlich zum wirklichen Spitzentreffen des aktuellen Theaters in Deutschland zu machen und ihm via 3sat eine europäische Fernsehöffentlichkeit zu geben, kam da für beide Seiten gerade noch rechtzeitig. Aber die Skepsis war zu Anfang groß. Theater und Fernsehen, das sind doch allenfalls feindliche Brüder, wenn sie überhaupt zusammen gehen.

Werden Liveübertragungen komplexer Theaterinszenierungen am Bildschirm zu den gewünschten Ergebnissen führen? Kann die Ausnahmesituation eines Gastspiels auf ungewohnter Bühne bei der Berliner »Theaterolympiade« die zusätzliche Belastung einer Fernsehübertragung überhaupt verkraften? Wie wird das Publikum auf die vielleicht störende Anwesenheit eines großen Fernsehteams bei der Aufführung reagieren? Entsteht endlich die ersehnte friedliche Kohabitation von Theater und Fernsehen oder geht der Kampf unter diesen Bedingungen erst richtig los?

Insofern waren die Erwartungen so groß wie die Befürchtungen, als Anfang Mai 1996 sich der Vorhang für die Eröffnungsinszenierung des Theatertreffens mit einer Fernseh-Liveübertragung von Shakespeares »Ein Sommernachtstraum« öffnete, in der Inszenierung von Karin Beier vom Düsseldorfer Schauspielhaus. Eine leicht bekleidete, dunkelhäutige Schönheit betrat mit Pfeil und Bogen die Bühne, spannte die Sehne und schoss ihren Pfeil ab – Volltreffer, möchte man zurückblickend sagen. Denn was seither aus dieser Zusammenarbeit zwischen ZDF, 3sat und Berliner Theatertreffen und inzwischen auch dem ZDFtheaterkanal entstanden ist, hat nicht nur Millionen von Zuschauern immer wieder für das Theater begeistert, es ist auch über den Tag hinaus von Wert. Nachhaltiges Fernsehen sozusagen. Etwa 60 vollständige Dokumentationen der wichtigen Theaterinszenierungen des letzten Jahrzehnts sind entstanden, die Bühnengeschichte einer Dekade in herausragenden Beispielen repräsentieren und damit für die Nachwelt verfügbar machen. Das ist eine Wertschöpfung, die das ansonsten schnelllebige Medium Fernsehen nur noch selten erzielt.

Es sind Sternstunden des Theaters dabei. Viele davon übrigens auch und gerade am Bildschirm wunderschön anzusehen: Christoph Marthaler, der musikalischste unter den großen Bühnenmelancholikern mit einigen wesentlichen Arbeiten, Frank Castorf und seine mehr als ein Jahrzehnt schon prägende Volksbühnenschule an der Schnittstelle zwischen Ost und West, Thomas Ostermeier von seiner aufregenden Zeit der Entdeckung und des Aufbruchs an der »Baracke« des Deutschen Theaters bis zu seinen gro­ßen Ibsen-Inszenierungen an der Schaubühne, Michael Thalheimers rasante, zeitgeistige und scharf konturierte Theaterbeschleunigungen aus Hamburg und Berlin, Luc Perceval mit seinem un­übertroffenen Shakespeare-Zyklus über die Rosenkriege, »Schlachten«, aus Salzburg/München oder die epochalen Tanztheaterarbeiten von Sasha Waltz und Alain Platel, die den Körper als Altar und Spiegel von Zeit und Befindlichkeiten wieder in den Mittelpunkt rückten.

Aber wir erinnern uns auch an Heiner Müllers letzte Regiearbeit, den bis zum heutigen Tage aufgeführten »Arturo Ui« mit Martin Wuttkes rastlosem Hitler-Höllenhund, an Claus Peymanns »Richard II.« mit Michael Mertens, an Elmar Goerdens Stuttgarter Tschechow-Exerzitien und die psychologisch feingewirkten, hinreißend genau gearbeiteten Inszenierungen von Andrea Breth aus Wien, etwa »Don Carlos« oder »Emilia Galotti«.

Viele der bedeutenden Schauspielerinnen und Schauspieler der jüngeren Theatergeschichte waren in mindestens einer dieser Inszenierungen zu sehen. Manche haben mit diesen Rollen Maßstäbe gesetzt. Denken wir nur an Nina Hoss, an Fritzi Haberlandt und Anne Tismer, Corinna Harfouch, Angela Winkler, Johanna Wokalek, Katharina Schüttler, Sophie Rois, Jule Böwe, an Bernhard Minetti, Otto Sander, Ignaz Kirchner und Gert Voss, Robert Hunger-Bühler und Martin Schwab, Alexander Scheer und viele andere mehr.

Als Ausdruck der besonderen Verbundenheit zwischen 3sat und dem Theatertreffen wurde bereits im zweiten Jahr der Zusammenarbeit die Idee einer Auszeichnung für eine besonders innovative Leistung beim Theatertreffen geboren und umgesetzt. Mit Hilfe der 3sat-Partner ORF und SF DRS und auch der ARD wurde der 3sat-Preis zum Berliner Theatertreffen erstmals 1996 an den Schriftsteller Urs Widmer sowie den Regisseur Volker Hesse und das Ensemble der Inszenierung »Top Dogs« am Neumarkt-Theater in Zürich verliehen. Der Preis ist mit 20 000 DM, heute 10 000 Euro, dotiert und wurde im Jahr 2006 zum zehnten Mal vergeben: an Dimiter Gotscheff für seine Inszenierung des »Iwanow« von Tschechow an der Volksbühne Berlin. Die Liste der Preisträgerinnen und Preisträger qualifiziert die Auszeichnung inzwischen zu einer der renommiertesten Ehrungen, die das deutschsprachige Theater zu vergeben hat. Sie weist Persönlichkeiten aus, die Theatergeschichte geschrieben haben. Einar Schleef gehört zu ihnen, Luc Perceval und Alain Platel, Michael Thalheimer und andere mehr.

In erheblichem Maße zum Erfolg dieser Programm­initiative haben in besonderer Weise die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ZDF beigetragen, die diese Produktionen realisieren. Das liegt nicht nur an den außerordentlichen handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten von Produktion und Aufnahmeteams der eingesetzten Außenübertragungseinheiten. Theater in adäquater Weise für den Bildschirm zu adaptieren, ist keine einfache Aufgabe. Sie stellt an Regie und Kamerateam, an Licht und Ton außerordentliche Anforderungen, die in kürzester Zeit und unter gelegentlich auch erschwerten Produktionsbedingungen (siehe oben) im Zusammenwirken mit nicht immer ganz einfachen Künstlerpersönlichkeiten auf den Punkt genau und in höchster Qualität zu erbringen sind. Mit seinem Einsatz beim Berliner Theatertreffen, aber auch bei zahlreichen anderen Bühnenübertragungen übers Jahr hinweg, hat sich das ZDF hier einen guten Ruf erarbeitet, weil die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur kompetent, sondern in aller Regel auch dezent und mit der nötigen Rücksichtnahme auf die Situation vorgegangen sind. Mit dem rempeligen »Platz da, jetzt kommt das Fernsehen« ist im Theater kein Blumentopf zu gewinnen, da sind Behutsamkeit, Sensibilität und möglichst unauffällige Vorgehensweise die entscheidenden Tugenden. Fernsehen ist im Theater Mittel zum Zweck, niemals Selbstzweck. Selbst dann, wenn es mal ganz finster wird ...

 
 
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