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Michael Schmitz

Arbeitsbedingungen in den neuen EU-Ländern

 
Michael Schmitz
Michael Schmitz
              
 

Es ist für uns schon leichter, wenn wir jetzt über die Grenze fahren: in die Slowakei, nach Slowenien, Tschechien oder Ungarn. Vor dem Beitritt dieser Länder zur EU mussten wir oft stundenlang warten, bis der Zoll alle Formalitäten erledigt hatte. Jedes technische Gerät, Kamera, Objektive, Ton-Geräte, Schnitt-Einheit, mussten wir registrieren lassen. Damit der Zoll bei der Ausreise überprüfen konnte, ob wir alles, was wir eingeführt hatten, auch wieder ausführten.

Zöllner behandelten uns oft so, als seien wir auf ihre Gnade angewiesen. Sie bauten sich auf wie Kafkas Torhüter vor dem Gesetz. Sie ließen uns spüren, dass es von ihrem Willen und ihren Launen abhing, wann wir weiterreisen konnten. Am schlimmsten führten sich die Slowaken auf. Sie schienen ihre Macht am meisten zu genießen. Die Grenzer traten uns noch im Jahre 2004 entgegen wie zu den Zeiten, als sie das sozialistische Regime repräsentierten. Viele schienen ihre Karriere in dieser Zeit begonnen zu haben – im Bewusstsein, wie viel unkontrollierter Einfluss damit auf sie übertragen wurde. Aus, vorbei. Seit dem Mai 2004. Die Zollformalitäten sind für uns weggefallen. Es gelten die gleichen Regeln wie überall sonst innerhalb der Europäischen Union.

Das meiste freilich geschieht nicht abrupt. Der Fortschritt ist eine Schnecke. In den neuen EU-Ländern hat er sich schon vor einiger Zeit auf den Weg gemacht. Und er ist auch noch eine ganze Zeit unterwegs. Die Slowakei hat zuletzt den Anschluss geschafft. Später als die anderen haben die Slowaken sich ernsthaft um Mitgliedschaft bemüht und eingesehen, was sie in ihrer Gesellschaft und ihrem politischen System ändern müssen, um dabei sein zu können. Dann aber haben sie nachgeholt, was sie in den ersten Jahren nach der Wende versäumt hatten. Sozusagen als Renn-Schnecken. Die konservativ-liberale Regierung unter Dzurinda machte sich an fällige Reformen. Als Vordenker erwies sich Ivan Mikloš, der Finanzminister.

Die globale Finanzwelt feiert ihn als Star. Er hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Slowakei ein attraktiver Standort für Investitionen geworden ist. Das Herzstück der Mikloš-Reformen: die Flat Tax. Flache 19 Prozent Steuern für alle, Arbeiter wie Unternehmer. Abgeschafft hat er Steuergeschenke, Ausnahmeregelungen und Privilegien. Das System ist einfach und durchschaubar.

Ivan Mikloš ist ein Mann, der seine Politik auch »verkaufen« kann. Er weiß: Zustimmung für seinen Kurs bekommt er nur, wenn die Menschen verstehen, dass seine Reformen ihnen Vorteile bringen. Mikloš ist deshalb stets bemüht, seine Politik zu kommunizieren. Er pflegt ein modernes und offenes Verhältnis zu den Medien. Er ist einer, der uns Journalisten die Arbeit leichter macht. Er ist zugänglich, bereit, sich kritischen Fragen zu stellen, und er versteht, dass Fernsehjournalisten ihre Geschichten in Bildern erzählen wollen. Leute wie Ivan Mikloš tragen, durch ihren Erfolg und durch die Aufmerksamkeit in den Medien, dazu bei, neue Maßstäbe zu setzen.

Früher, als der Sozialismus regierte, und noch Jahre danach, fanden es Politiker nicht so normal, sich kritischen Fragen zu stellen. Selbst wenn sie aus Oppositionsbewegungen kamen. Und dass Fernsehjournalisten mehr brauchen als ein Interview, mochten viele nicht verstehen. Doch Ansichten und Einsichten ändern sich. Langsam werden die neuen EU-Länder auch zu Mediengesellschaften.

Als Viktor Orban noch in Ungarn (bis Mai 2002) regierte, glaubte er, die Presse unter Kontrolle halten und für seine Propaganda ausnützen zu können. Im staatlichen Fernsehen und Rundfunk förderte er seine Günstlinge, ließ Kritiker abservieren und sogar eine Liste ausländischer Korrespondenten erstellen, die kritisch berichteten und deshalb von offiziellen Stellen auf Distanz gehalten werden sollten. Auch der Weg in die Zivilgesellschaft führt durch die Mühen der Ebene.

Als wir in Ungarn im Sommer 2004 eine Reportage über die Arbeit der Polizei filmen wollten, verschaffte uns »der Apparat« durchaus Zugang. Wir wollten zeigen, wie die Ungarn Kriminalität bekämpfen, mit der sie durch die neue Durchlässigkeit der Ostgrenzen konfrontiert sind. Den Wunsch, eine solche Reportage zu drehen, hatte die österreichische Polizei zuvor übrigens abgelehnt. Obwohl das Problem in Österreich eklatant ist. In Budapest sollten wir dagegen alles beobachten können.

Die in den Vorgesprächen gezeigte Offenheit nährte unsere Hoffnung, einen aufschlussreichen Blick hinter die Kulissen gewährt zu bekommen. Was kann man sich als Reporter Besseres wünschen? Es hat auch geklappt. Aber anders, als wir es uns vorgestellt hatten.

Wir waren unterwegs mit einer Spezialeinheit, einer Art Schneller Eingreiftruppe. Die Polizisten waren nette Leute. Doch bald wurde offensichtlich, dass sie ihre Arbeit nicht sehr effektiv erledigten. Öfter hetzten sie mit falschen Adressen zu Einsatzorten. Als sie einen lang gesuchten Immobiliengangster festnehmen wollten, der nach dem Tipp eines Informanten sicher zu Hause sein sollte, konnten sie sein Haus nicht finden. Stundenlang irrten sie bei Nacht durch einen Vorort von Budapest, steckten immer wieder die Köpfe über dem Stadtplan zusammen, rückten gegen unschuldige Bewohner vor und gaben schließlich ratlos auf.

Schon die Polizei auf Budapests Bahnhöfen erwies sich als wenig geeignet, gegen Diebe vorzugehen, die Touristen gleich bei ihrer Ankunft gerne beklauen. Eine »Razzia«, eher ein demonstrativer Spaziergang uniformierter Beamter über den Bahnhof Keleti, war dem Einsatzleiter am Ende so peinlich, dass er uns ein zuvor versprochenes Interview nicht mehr geben wollte und mit seiner Hand abwehrend das Objektiv unserer Kamera verdeckte.

In internen Berichten, so steckte uns ein Insider, werden solche Aktionen durchaus als Erfolg dargestellt. So wie es schon die sozialistische Ordnung verlangte: Razzia geplant und durchgeführt! Hauptsache, die Statistik stimmt. So wurden wir als Reporter Zeugen, dass es zwar größere Offenheit gibt, sich die Einstellungen allerdings nicht so grundlegend geändert haben.

Die Tschechen gehen den Weg in die Zivilgesellschaft wohl am schnellsten. Ihre Auflehnung gegen autoritäre Obrigkeit hat Tradition. Wenn die Regierung versucht, Fernsehen und Rundfunk zu kontrollieren, protestieren Angestellte, Redakteure und Techniker, gehen auf die Straße. Mittlerweile ist sogar der eher griesgrämige Staatspräsident Václav Klaus für Medien zugänglicher geworden. Wenn er gute Laune hat, antwortet er uns sogar auf Deutsch.

Die Arbeitsbedingungen in Tschechien sind für Journalisten wohl so gut wie in jeder anderen Demokratie. Wir können ohne große Probleme in Betrieben drehen, bei Sportveranstaltungen, in The- atern, im Parlament und auch beim Militär. In den Gesprächen mit den Menschen erfahren wir immer wieder, dass sie sich ganz selbstverständlich zu Europa gehörig fühlen. Als sie im Mai 2004 endlich offiziell in die EU aufgenommen wurden, brach unter ihnen keine Euphorie aus. Für die meisten war es einfach längst Zeit geworden. Mit einer gewissen Ernüchterung stellen sie fest, dass ihnen Freizügigkeiten, wie die freie Wahl des Arbeitsplatzes, noch vorenthalten bleiben. Aber sie wissen: Zur EU gibt es für sie keine Alternative.

Während der Fußball-Europameisterschaft 2004 war auf dem Altstädter Ring in Prag eine große Monitorwand aufgebaut, auf der die Spiele übertragen wurden. Tausende Fans kamen. Aus allen möglichen Ländern. Viele Deutsche waren dabei, die den Tschechen, nachdem die eigene Mannschaft ausgeschieden war, die Daumen drückten. Gewonnen haben, wie wir wissen, trotzdem die Griechen. Aber unter den Fans auf dem Altstädter Ring hat sich doch gezeigt, wie sehr die alten und die neuen Europäer schon zusammengerückt sind.

 
 
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