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2004  
ZDF Jahrbuch
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Markus Schächter

Kraftzentrum auch in Krisenzeiten
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Zeiten des Umbruchs

 
Markus Schächter
Markus Schächter
              
 

Im Jahr 2004 ist das Duale Rundfunksystem 20 Jahre alt geworden. Es hat sich durch seine Vielfalt, Ausgewogenheit und Qualität als eines der weltweit anspruchsvollsten bewährt. Dennoch ist die Statik des Systems ins Wanken geraten. Der 8. Oktober 2004 mit den Beschlüssen der Ministerpräsidenten zu Fragen der Struktur und Finanzierung unserer Medienordnung ist Ausdruck einer Zäsur: Er markiert den Beginn einer neuen, ebenso breit angelegten wie tief greifenden Diskussion um die Neuordnung unseres medialen Systems. Dessen Grundlage, erst zehn Jahre zuvor in Karlsruhe in scharfer Kontur und unmissverständlicher Klarheit untermauert, ist in Schieflage geraten. Von einer »Medienkrise« ist die Rede. Die medienpolitische Krise des Systems ist für den wiedererstarkten öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine Chance, sein erfolgreiches Qualitätsprofil weiter zu schärfen und es in seiner Unverzichtbarkeit für die Gesellschaft zu behaupten.

Die Krise konkretisiert sich in fünf Kräften oder Kraftfeldern, die mit neuer Dynamik auf das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland einwirken. Sie greifen auf unterschiedlichen Ebenen und aus unterschiedlichen Richtungen an, sind globaler, europäischer, nationaler, technologischer sowie marktstrategischer Natur:

1. Kraftfeld: Welthandelsorganisation/GATS

Das scheinbar fernste, aber in seinen konkreten Auswirkungen immer näher rückende Kraftfeld ist ein Produkt der Globalisierung und betrifft die globale Dimension des Welthandels. Bislang in ihrer Wirkmacht eher unterschätzt, hat die Welthandelsorganisation WTO mit ihrem Vertragswerk zu GATS ein richtungsweisendes Signal gesetzt: Als Fortschreibung des GATT-Vertrages, der den liberalen Handel mit Waren regelt, soll GATS auch einen weltweit liberalen Handel mit Dienstleistungen ermöglichen. Dies bedeutet: Die Maßstäbe für Wirtschaftsgüter sollen fortan auch für Kulturgüter und damit für alle Medienleistungen gelten. Der gesamte audiovisuelle Sektor, also auch Fernsehprogramme, sollen als Waren unterschiedslos den Mechanismen des Freien Marktes überlassen werden. Eine weltweite Liberalisierung und Deregulierung nach amerikanischem Muster steht bevor.

In dieser Auslegung bedeutet Globalisierung nicht nur völlige Ökonomisierung, sondern auch kulturelle Nivellierung. Kulturelle Vielfalt würde einer alles vereinnahmenden Kulturindustrie geopfert. Öffentlich-rechtliche Kulturprogramme würden alsdann zu Nischenprogrammen und sähen sich mit geringen Marktanteilen wie das Public Service Broadcasting in den USA von wettbewerbsstarken Majors an den Rand gedrängt. In dieser Richtung droht der GATS-Vertrag zu einem unberechenbaren Selbstläufer zu werden, wenn nicht die Politik als Korrektiv gegensteuert. Auf politischer Ebene allerdings stoßen die beiden Kraftfelder der europäischen und der deutschen Medienpolitik in unterschiedlicher Ausrichtung aufeinander.

2. Kraftfeld: EU-Kommission Brüssel

Während die Europäische Union nach außen hin gegenüber GATS lange Zeit die Werte einer kulturellen Vielfalt zu verteidigen gesucht hat, betreibt sie europaintern eine ähnliche Ökonomisierung wie die WTO. In Brüssel findet derzeit unter dem allherrschenden Schlagwort »Wettbewerb« ein massiver Richtungswechsel statt: Noch nie waren die Spitzen der EU-Kommission gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in ihrem Vorgehen so hartnäckig und in der Tonlage so inquisitorisch, ja aggressiv, wie seit Ostern 2004. Die Dynamik und Logik der geradezu ökonomistischen Argumentation folgt dabei der Auffassung, Gebühren zur Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks seien, außerhalb eines eng und streng definierten öffentlich-rechtlichen Kulturauftrags, unrechtmäßige staatliche Beihilfen, die eine Wettbewerbsverzerrung bedeuteten.

Nach dieser reinen Marktlogik stünden der Funktionsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland, also unser Duales System und unsere Medienordnung insgesamt, grundlegend infrage. Aus der Schutzzone des Amsterdamer Protokolls von 1997, in dem der öffentlich-rechtliche Rundfunk noch ausdrücklich als Kulturgut definiert wurde, ist der Schwitzkasten von Brüssel geworden, in dem die deutschen Länder und Sender unter massiven Druck gesetzt werden. Nationale Zuständigkeit und Gestaltungsfreiheit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sollen der Brüsseler Definitionshoheit geopfert werden. Das elementare Grundrecht der Rundfunkfreiheit ist nach der Maxime bedroht: »Wer nicht handelt, wird behandelt.«

3. Kraftfeld: die Länder

Auch wenn die deutschen Länder und Sender in der Frage ihrer medienpolitischen Unabhängigkeit gegenüber der EU eine gemeinsame Front bilden, hat sich 2004 das nationale Kraftfeld in zweierlei Hinsicht verstärkt:

  • Zum einen haben sich die Bundesländer in der Gebührendiskussion erstmals über den Vorschlag der unabhängigen Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs (KEF) hinweggesetzt, indem sie den vorgeschlagenen Erhöhungsbetrag von 1,09 Euro angesichts der Wirtschaftslage und Sozialverträglichkeit auf 0,88 Euro gesenkt sowie dessen Inkrafttreten vom 1. Januar auf den 1. April 2005 verschoben haben. Damit hat auch die deutsche Politik in problematischer Weise auf die Rundfunkfreiheit Einfluss genommen. Das Ergebnis ist unbefriedigend für alle Beteiligten: Die Expertenkommission der KEF konnte ihre Empfehlungen nicht durchsetzen und sieht sich desavouiert; die Länder haben ihre unzureichenden Reformankündigungen nicht umsetzen können; und die Sender verfügen über weniger Finanzmittel zu einem späteren Zeitpunkt.
  • Zum anderen war der öffentlich-rechtliche Rundfunk unter dem derzeit verstärkten medienpolitischen Legitimationsdruck nach dem am 1. April 2004 in Kraft getretenen Siebten Rundfunkänderungsstaatsvertrag erstmals aufgefordert, eine öffentliche Selbstverpflichtungserklärung abzugeben. Entsprechend hat das ZDF in seinen »Programmperspektiven 2004 bis 2006« seine Ziele als hochwertiges Qualitätsprogramm konkretisiert und somit einen substanziellen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion über Rolle und Wert des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in unserem Lande geleistet. Das ZDF definiert sich darin als nationaler Sender mit programmlicher Vielfalt als Grundsatz, mit Information als tragender Säule und Kultur als qualitativem Leitprinzip.

4. Kraftfeld: Digitale Revolution

Neben Politik und Ökonomie verändert die Technologie als weitere Kraft unsere Medienlandschaft grundlegend: 2004 hat die zweite Phase der Digitalen Revolution mit forcierter Dynamik eingesetzt. Während die neue Technologie in den ausgehenden 90er Jahren eher in futuristischen Theorien präsent war, als dass sie in der konkreten Praxis greifbar gewesen wäre, greift die Digitalisierung nunmehr mit aller Macht um sich. Der Fortschritt vollzieht sich desto progressiver, je näher die großen Sportereignisse der WM 2006 in Deutschland und der Olympischen Spiele 2008 im digitalversessenen China rücken:

  • Das digitale Kabel entwickelt sich zusehends zum rückkanalfähigen Breitbandspektrum.
  • Die digitale Satellitenübertragung wird die Übertragungskapazitäten weiter vervielfachen.
  • Die klassischen Telefonnetze werden durch DSL zum Multimedia-Dienstleister.
  • Broadband wird zum vierten Verteilungsweg.
  • UMTS, einst als industriepolitischer Flop gegeißelt, wird zur Wachstumsbranche eines multimedia-fähigen Mobilfunks.
  • DVB-T, die neue digitale Terrestrik mit Programmvielfalt, Qualitätsverbesserung und der Möglichkeit mobilen Empfangs ist bereits zu einer nationalen Erfolgsgeschichte geworden.
  • HDTV, das hochauflösende Fernsehen, gewinnt weltweit rasant an Bedeutung.

Die Folgen der Digitalen Revolution zeichnen sich somit immer konkreter ab: Die technische Konvergenz von TV, PC und Telefon entwickelt sich nach Anlaufschwierigkeiten nunmehr sprunghaft. Wer dabei nicht in der Breite der Angebotspalette mitspringt, hat nicht nur keine Entwicklungschance, sondern auch keine Überlebenschance. Daher gilt für das ZDF: Gerade als Einkanalsender muss es in einer digital veränderten Medienwelt so aufgestellt sein, dass es seine Nutzer, an welchem Endgerät auch immer, erreicht. Es muss prinzipiell auf allen Plattformen vertreten sein, auf denen Informationen nachgefragt werden. Dabei muss das Hauptprogramm als Kern des Unternehmens eine zentrale Leuchtturmfunktion in einem immer unüberschaubareren Medienmarkt behalten.

5. Kraftfeld: kommerzielles Fernsehen

Trotz günstiger Kraftfelder der Globalisierung, Liberalisierung und Modernisierung ist das Lager des kommerziellen Fernsehens ausgerechnet in dieser historisch entscheidenden Phase unverkennbar von einer Krise befallen. Sie hat ihre Ursache nur bedingt, jedenfalls nicht primär in der derzeitigen Wirtschafts- und Werbekrise; sie hat vielmehr drei strukturelle beziehungsweise konzeptionelle Gründe, die innerlich miteinander zusammenhängen:

  • Das klassische Geschäftsmodell der Werbefinanzierung ist zunehmend in Misskredit geraten: Werbespots rechnen sich für eine unzufriedene Werbeindustrie nicht mehr wie bisher und nerven die ebenfalls frustrierten Zuschauer mehr, als dass sie zum Kauf animieren.
  • Das – aus Amerika übernommene – Gesellschaftsmodell einer Zielgruppenfixierung auf die werberelevante Gruppe der 14- bis 49-Jährigen als »Währung der Werbung« ist durch die demographische Entwicklung unserer alternden Gesellschaft weder zeitgemäß noch tragfähig.
  • Das eher hedonistische Wertemodell einer Spaßgesellschaft aus den 90er Jahren ist ebenfalls überholt: Das neue Jahrzehnt mit seinen neuen Themen und Sorgen erfordert eine andere, lebensnähere Grundausrichtung für ein gesellschaftsrelevantes, Orientierung stiftendes Massenmedium.

Alle drei Veränderungen zusammen erklären die Misserfolge des kommerziellen Fernsehens im Jahr 2004. Die daraus resultierende Aggressivität seiner Interessenvertreter hat ihre Stoßrichtung nicht nur in direkten Angriffen gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gesucht, sondern auch in einer Dauerklage bei der EU-Kommission. Die Logik ist ebenso durchsichtig wie hintertrieben: Die öffentlich-rechtliche Konkurrenz soll für selbstverschuldete Fehler des kommerziellen Systems mithaften, soll offiziell abgestraft und dadurch geschwächt werden.

Kraftzentrum: öffentlich-rechtliches Fernsehen

Inmitten des Pentagramms aus fünf Kraftfeldern steht als eigene, unabhängige Kraft der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Er ist Basis und Zentrum unserer Medienordnung und kann insofern als »Kraftzentrum« bezeichnet werden. Abgesehen davon, dass es auch zwischen ARD und ZDF eine Binnenkonkurrenz gibt – die unter größerem Druck von außen auch in sich naturgemäß größer, aber niemals feindlich werden sollte –, kann es doch nur eine gemeinsame Selbstbehauptungsstrategie geben. Sie ist 2004 aufgegangen: Hinter dem ersten Programm der ARD hat das ZDF – zusammen mit RTL – als Marktzweiter abgeschlossen. Als Sender mit dem größten Zuwachs hat es wieder unmittelbar zur Spitze aufgeschlossen. Von Oktober 2004 bis März 2005 hat das ZDF als Marktführer selbst die Spitzenposition eingenommen. Durch konsequente und kontinuierliche Weiterentwicklung seines Programms, auch durch Optimierung und Modernisierung einiger Programmplätze, hat es die Substanz seiner Angebote nachhaltig verbessert und zu seiner Position alter Stärke zurückgefunden. Folglich kann es mit gestärktem Selbstbewusstsein in die Diskussion einer Neuordnung gehen. Dabei sind für das öffentlich-rechtliche System im Ganzen und das ZDF im Besonderen künftig vor allem zwei Aufgaben virulent:

  • Durch die Internationalisierung kommerzieller Programmunternehmen werden dort künftig eher international erprobte Formate so effizient wie möglich in die einzelnen nationalen Märkte eingeführt. In Deutschland wird dies vor dem Hintergrund eigener ökonomischer Probleme noch stärker als bisher der Fall sein. Somit werden auf kommerzieller Seite noch weniger als bisher die nationalen und regionalen Besonderheiten unserer Gesellschaft präsent sein. Umso mehr wird öffentlich-rechtliches Fernsehen die nationale Zeitgeschichte, die regionale Verwurzelung und die kulturelle Identität unseres Volkes darzustellen haben, ohne deshalb zum Lückenbüßer für kommerzielle Marktdefizite zu werden.
  • Durch eine deutlich komplexer und komplizierter werdende politische und soziale Wirklichkeit wird in Zukunft dem Informationsauftrag und der Service-Funktion des Fernsehens eine noch größere Rolle zukommen als bisher: Hartz IV und folgende oder Fragen des Gesundheitssystems werden in Zukunft mehr Erklärungsbedarf erzeugen und mehr Darstellungsraum erfordern, um einer Rat suchenden Gesellschaft in Thementagen und Schwerpunktsendungen Orientierung und Richtung zu geben.

Kräfteverhältnisse

Fernsehen, das primär dem Menschen, nicht dem Markt dient, muss als Leitmedium unserer Gesellschaft Forum und Bühne, Faktor und Motor, Spiegel und auch Wegweiser in der Darstellung und Bewältigung gemeinsamer Probleme sein. Unsere heutigen Probleme sind Zukunftsprobleme. Die Zukunft der Gesellschaft hängt nicht zuletzt auch an der Zukunft unserer Medienordnung. Daraus ergibt sich die Legitimation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die sich nicht weniger, sondern deutlicher und nachdrücklicher denn je abzeichnet und die wir transparenter und nachhaltiger denn je umzusetzen haben. Daher müssen die Kräfteverhältnisse stimmen. Die Weichen müssen rechtzeitig und richtig gestellt werden. Die Richtung ist klar: Unser Ziel ist sowohl die Breite wie auch die Mitte der Gesellschaft. Dies klingt paradox, funktioniert aber parallel: Das ZDF hat im Jahr 2004 ebenso das Jubiläum der 150. Ausgabe von »Wetten, dass …?« als erfolgreichster Unterhaltungssendung des deutschen Fernsehens gefeiert, wie es zugleich mit »Frontal 21« über das erfolgreichste politische Magazin verfügte.

Wer die Mitte sucht, darf nicht randständig sein. In einer Gesellschaft, die sich derzeit neu orientiert und sortiert, können wir von einer »neuen Mitte« sprechen. Was der Medienforscher Horst Stipp 2004 für amerikanische Verhältnisse diagnostiziert hat, stellt der Freizeitforscher Horst W. Opaschowski zu Beginn des Jahres 2005 auch für die deutsche Gesellschaft fest. Danach zeichnet sich immer deutlicher ein Wertewandel ab: von der Spaßgesellschaft zur Informationsgesellschaft, vom Ich-Kult zur sozialen Verantwortung, von einer Revolution der Singles zur Renaissance der Familie, von Wohlstand zu Wohlbefinden, von Lebensstandard zu Lebensqualität, von Lifestyle zu Lebensart, von Körperkultur zur Kultur, von Moden zu Werten, von Kurzfristigkeit zu Nachhaltigkeit, von Werbebotschaften zu Wertebotschaften, von einer Flucht in Sinnlichkeit zur Suche nach Sinn – und man kann ergänzen: vom Markt zur Marke und – zum Menschen.

Bekräftigung

Der freie Markt stößt an seine Grenzen genau zu einem Zeitpunkt, da globale Medienpolitik alle Grenzen fallen lässt und die Medien dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen sucht. Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss sich auf diesem Markt behaupten, aber nicht auf Kosten der Kultur und nicht auf Kosten der Gesellschaft. Im klassischen, aber heute verschärften Dilemma zwischen Kultur und Kommerz muss unsere Maxime lauten: Wettbewerbsfähigkeit ohne Qualitätsverlust. Haushalten, ohne Abstriche am Auftrag. Probleme, Konflikte und Spannungen sind dabei vorprogrammiert. Sie müssen kämpferisch ausgestanden werden. In den allseitigen Kräftefeldern muss und wird das ZDF aus eigener Kraft zeigen, wofür es angetreten ist.

 
 
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