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2004  
ZDF Jahrbuch
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Nikolaus Brender

Das neue Europa – eine Herausforderung für die Programm-Macher

 
Nikolaus Brender
Nikolaus Brender
              
 

Die europäische Einigung ist eine atemberaubende Erfolgsgeschichte. Aus Feinden von einst sind Freunde geworden. Das gemeinsame Europa garantiert seit Jahrzehnten Frieden. 60 Jahre nach Kriegsende kann die historische Leistung der Mütter und Väter dieser Europäischen Union gar nicht hoch genug geschätzt werden.

Doch trotz dieser faszinierenden Wende in der europäischen Geschichte ist das »gemeinsame Haus Europa« vielen Menschen immer noch seltsam fremd. Die Brüsseler Bürokratie ist abstrakt, wir regen uns über Butterberge und Milchseen auf, und selbst gebildete Zeitgenossen kommen ins Schleudern, wenn sie den Wirrwarr der Institutionen erklären sollen.

Im Alltag bemerken die Bürger Europa kaum. Dabei ist es allgegenwärtig: Wir profitieren von wirtschaftlicher Freizügigkeit und genießen die kulturelle Vielfalt. Emsige Eurokraten wachen über den freien Markt und denken sich täglich neue Regeln aus – mehr als die Hälfte aller Gesetze werden heute in Brüssel gemacht.

Europathemen finden dennoch nur mühsam ihren Weg in die Medien. Sie gelten als schwere Kost. Die politischen Prozesse sind für viele nur schwer durchschaubar. Selten erleben wir Debatten auf offener Bühne. Von einer grenzüberschreitenden europäischen Öffentlichkeit kann keine Rede sein.

Politische Nachrichten leben aber gerade von der öffentlich ausgetragenen Kontroverse, von charismatischen Politikern und transparenten Debatten. Europa tut sich schwer damit. Bei aller Begeisterung – Europa ist für die Medien kein einfaches Thema, zumal für das Fernsehen, das auf spannende Bilder angewiesen ist.

Vor diesem Hintergrund war das Europajahr 2004 ein große Herausforderung. Denn gleich mit vier Großereignissen – der Osterweiterung, der Europawahl, der Unterzeichnung der EU-Verfassung und dem Beschluss über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei – markierte 2004 eine Zäsur in der europäischen Geschichte.

Als öffentlich-rechtlicher Sender widmet sich das ZDF bereits mehr als andere Medien der Europapolitik. Neben seinem Engagement bei den Kulturprogrammen ARTE und 3sat präsentiert das ZDF als Teil seiner »heute«-Familie die einzige werktägliche Sendung mit Europanachrichten: »heute – in Europa«. Die Redaktion berichtet stets um 16 Uhr über Politik, Wirtschaft und Kultur aus ganz Europa. Mit diesem Team von »heute – in Europa« konnten wir für die Vorbereitung der Berichterstattung im Europajahr auf eine kompetente und schlagkräftige Mannschaft bauen.

Ziel war es, die herausragenden Ereignisse in eine Informationskampagne einzubetten – ressortübergreifend, quer durch alle Sendungen, verteilt über das ganze Jahr. Wir wollten neugierig machen. Europa sollte nicht auf seine institutionalisierte Form reduziert werden, sondern wir wollten es als gemeinsamen Lebensraum zeigen, der durch die Vielfalt der Menschen und Kulturen geprägt ist – eine spannende Aufgabe. Es sollte um Chancen und Risiken der Erweiterung gehen, um die Hoffnungen, aber auch um die Ängste der Menschen. Selten hat das ZDF ein Thema über einen so langen Zeitraum so konsequent auf die Agenda gesetzt.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen. In weit über 900 Beiträgen und in annähernd 100 Stunden Programm hat das ZDF 2004 über die historischen Ereignisse des Europajahres berichtet: hintergründig und informativ, kritisch und unterhaltsam. Alle Redaktionen haben mitgemacht und dafür gesorgt, dass das Thema Europa in den Köpfen und Herzen der Zuschauer angekommen ist.

Beispielhaft für viele exzellente Beiträge möchte ich die Reportagereise von Marietta Slomka nennen, die für das »heute-journal« einfühlsam die Menschen in den Beitrittsländern in den Mittelpunkt stellte. Ihre Reise war eine gelungene Antwort auf die beschriebene Zuschauerzurückhaltung beim Thema Europa. Die Idee, über ein sympathisches, für den Zuschauer aber mit hoher Kompetenz verbundenes Gesicht um Aufmerksamkeit zu werben, hat gut funktioniert.

Europa fordert aber auch zu kritischen Fragen heraus: Was bringt mir Europa? Ist mein Job noch sicher? Und wie steht es mit der Kriminalität? Auf diese und andere Sorgen stießen unsere Reporter diesseits und jenseits der Grenzen immer wieder. In Interviews, Reportagen und Diskussionsrunden sind wir bei Politikern und Experten auf die Suche nach Antworten gegangen. Doch trotz aller Skepsis überwog bei den meisten die gespannte Erwartung auf die »Neuen«, und der Tag der Erweiterung war ein Anlass zum Feiern. Mit zahlreichen Sondersendungen und Live-Schalten hat das ZDF darüber berichtet. Unsere Eurovisionsgala »Willkommen Europa!« war ein Programmhöhepunkt, der die Menschen in ganz Europa miteinander verbunden hat.

Unmittelbar nach dem 1. Mai begann die Berichterstattung über die Europawahl. Erstmals waren fast 350 Millionen Europäer aufgerufen, ein gemeinsames Parlament zu wählen. Es war die größte Wahl in der Geschichte Europas. Parteien, Programme und viele Basisinformationen über das Funktionieren der EU rückten nun in den Mittelpunkt. Sendungen wie »WISO« oder »drehscheibe Deutschland« erklärten mit anschaulichen Beispielen, welch immensen Einfluss die Europapolitik mittlerweile auf unseren Alltag hat. Und um der europäischen Politik ein Gesicht zu geben, sind in unseren Sendungen viele Europa-Parlamentarier zu Wort gekommen.

Die Europaberichterstattung hat gezeigt, dass sich, wie bei keinem anderen Thema, die klassischen journalistischen Ressortgrenzen von Innen-, Außen-, Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik auflösen. Nur durch eine enge ressortübergreifende Zusammenarbeit können wir die tiefgreifenden Zusammenhänge europäischer Politik deutlich machen. Für die dafür notwendige Koordination konnte das ZDF dank der Redaktion von »heute – in Europa« auf bewährte Strukturen zurückgreifen. Zusammen mit ihrem Projektteam hat Susanne Biedenkopf-Kürten bei der vielfältigen Vernetzung von Kompetenzen, Recherchen und Logistik einen ganz hervorragenden Job gemacht. Ergebnis dieser vernetzten Berichterstattung war nicht nur eine große Effizienz durch die Ausnutzung von Synergieeffekten. Der Diskurs aller Fachredaktionen führte zu einer neuen Vielfalt und damit zu einer Europaberichterstattung ganz neuer Qualität.

Eine herausragende Rolle spielte das ZDF-Onlineangebot in der Informationskampagne. Mit interaktiven Modulen wurden die Organe der Union erklärt, die Kandidaten der Parteien wurden vorgestellt, und mit dem so genannten Wahl-o-Mat konnten sich die Nutzer spielerisch mit den Programmen der Parteien vertraut machen. Mit rund 30 Millionen Klicks war Europa auf »zdf.de« ein großer Erfolg, die EU-Module haben vor allem vielen jungen Leuten Europa schmackhaft gemacht. Damit war die Europaberichterstattung ein Paradebeispiel dafür, wie sich mit den Möglichkeiten des Onlineangebots per Internet die Fernsehberichterstattung sinnvoll ergänzen und vertiefen lässt.

Vertiefung setzt aber auch Tiefgang bei den Machern voraus. Auch manchen Journalisten ist das Raumschiff »Brüssel« ein Rätsel. Bereits seit 2003 bieten wir unseren Kolleginnen und Kollegen daher eine besondere Europafortbildung an. Dank der Unterstützung des Europa-Parlaments, der EU-Kommission und des ZDF-Studios in Brüssel können wir einmal im Jahr eine Gruppe von ZDF-Journalisten zu einem EU-Crashkurs nach Brüssel schicken. Das schafft Hintergrundwissen und Sensibilität für Themen – journalistische Qualität, die sich spürbar im Programm auszahlt.

Nachdem sich am Wahltag um 18 Uhr die Türen der Wahllokale geschlossen hatten, verfolgten in der Spitze über zehn Millionen Zuschauer die »heute spezial«-Sendung mit den ersten Hochrechnungen. Dank der Kombination der Wahlberichterstattung mit der Übertragung der Fußball-EM erlebte die Europawahl ein noch nie da gewesenes Zuschauerinteresse.

2004 bot aber noch einen weiteren Höhepunkt, der in keinem offiziellen Kalender stand. Straßburg war Ende Oktober Schauplatz eines europäischen Polit-Krimis. Das frisch gewählte Parlament trumpfte mit neuem Selbstbewusstsein auf und drohte, die Barroso-Kommission durchfallen zu lassen. Wer glaubte, dass die Abgeordneten am Ende doch einknicken würden, wachte spätestens am 27. Oktober im »ZDF-Morgenmagazin« auf. Nachdem Grüne, Liberale und Sozialisten ihr Nein angekündigt hatten, war klar, dass der Kommissionsvorschlag keine Mehrheit finden würde. Noch am Interviewtisch grübelten der Christdemokrat Hans-Gert Pöttering und der Grüne Daniel Cohn-Bendit, wie die Kuh vom Eis zu holen sei. Das Fernsehstudio wurde zum Vermittlungsausschuss. Das ZDF war an diesem Tag als einziger Sender in Straßburg live vor Ort und konnte von einer großen Stunde in der Geschichte des Parlaments berichten.

Die Abstimmung um die Barroso-Kommission und die lebhafte Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei haben gezeigt, Europa ist ein spannendes Nachrichtenthema, das die Menschen sehr wohl erreicht und bewegt. Europathemen sind keine ferne Außenpolitik; was in Brüssel und Straßburg entschieden wird, geht uns alle an – es ist Innenpolitik neuer Prägung.

Das ZDF wird daher auch nach 2004 in seiner Europaberichterstattung nicht nachlassen – kritisch, informativ und immer nah am Zuschauer. Denn das Verständnis für die komplexen politischen Prozesse ist notwendige Voraussetzung für ein vertrauensvolles Verhältnis der EU-Bürger zu ihren Institutionen und damit für die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit.

 
 
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