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Susanne Biedenkopf

Fünf Jahre »heute – in Europa«
Über die Entdeckung der europäischen Dimension

 
Susanne Biedenkopf
Susanne Biedenkopf


Hülya Özkan
Hülya Özkan


Andreas Klinner
Andreas Klinner
              
 

Europa bietet so viele Facetten wie Definitionen. Es steht für einen Kontinent, seine Kultur, seine Geschichte, seine Regionen und auch für ein politisches Bündnis – seit der Osterweiterung mit 350 Millionen Menschen. Aber trotz seiner unbestrittenen kulturellen, politischen und auch wirtschaftlichen Vielfalt galt Europa in den Medien lange als schwer darstellbar. Viele Redakteure verbanden mit dem Begriff ein sperrig abstraktes Thema – auch, was die eigenen Hervorbringungen betrifft – und überwiegend deprimierende Einschaltquoten, nämlich den unbarmherzigen Griff des Zuschauers nach der Fernbedienung.

Als sich die Geschäftsleitung des ZDF vor fünf Jahren dennoch entschloss, das werktägliche Europamagazin »heute – in Europa« ins Nachmittagsprogramm zu nehmen, waren die Unkenrufe zahlreich und die Lebensprognosen kurz. »Was wollt Ihr denn da jeden Tag senden?«, fragten uns Kollegen und andere Fernsehkonsumenten ratlos, fast ein wenig mitleidig: »Erklärstücke zum Kohäsionsfonds oder zu Absatz 10 der neuen Wasserrichtlinie? Europa, das ist doch der Abschalter!« Aber wider manche Befürchtung haben wir uns nicht zu einem ungeliebten Belangprogramm entwickelt, das um Konferenzen und Gipfelerklärungen kreist. Im Zentrum unserer Berichterstattung standen vielmehr von Anfang an die europäische Lebenswirklichkeit und jene Fragen, die die Menschen bewegen: »Was bedeutet die Europäische Union für meinen Alltag?« oder ganz einfach: »Was geht mich Europa an?«

Die dramatischen Ereignisse im Kosovo bestimmten die ersten Sendewochen des jungen Europamagazins – und damit auch die Zerreißprobe, die der Krieg für die gemeinsame Europapolitik bedeutete. Die Redaktion versuchte, eigene Schwerpunkte zu setzen, für die in den anderen Nachrichtensendungen oft kein Platz war. Was bedeutete der Krieg für die Menschen in Zentral- und Osteuropa? Warum bedrohte die Blockade der Schifffahrtswege ihre Wirtschaft? Wie stark litten die Griechen unter der Umweltverschmutzung, die die ständige Bombardierung Jugoslawiens verursachte? Und wie gingen unsere Nachbarn mit den Flüchtlingen um?

Mit jedem Bericht entdeckten wir auch selbst ganz neue europäische Gesichter und Dimensionen. Wir nahmen uns die Zeit, die Spielräume zu erkunden, die uns der geografische Begriff Europa von Portugal bis Russland eröffnet. Mit dem Zug fuhren wir von London nach Kiew – zwei Mal umsteigen in 42 Stunden; plötzlich gab es viele neue Verbindungen in Europa. Von der westlichsten Kolonie Europas vor den Toren Neufundlands haben wir berichtet – und von einem kleinen Dorf im Norden Schwedens, wo die Gemeinde eigenmächtig den Euro einführte – unter Berufung auf das Recht der kommunalen Selbstverwaltung. Was regt unsere Nachbarn auf und was beglückt sie – und warum bringen die Finnen selbst ihre Pferde in die Sauna? Wie sehen junge Russen ihre Zukunft? Und warum wird an Schwedens Schulen schon seit Jahren das Fach Aktienkunde gelehrt?

Plötzlich wurde sie offenkundig, die gelebte europäische Wirklichkeit. Der ebenso weise wie pragmatische europäische Gründervater Jean Monnet hat es vor langer Zeit auf den Punkt gebracht: »Konkret anzufangen schafft gemeinsame Interessen.« Und wo es konkret wird, so lässt sich unsere Erfahrung der letzten fünf Jahre zusammenfassen, bleibt auch der Zuschauer am Ball. Die Zuschauer interessieren sich für Europa, sobald die Berichterstattung die abstrakte, appellierende Ebene der Institutionen verlässt und die Vermittlung sich hin zu den Auswirkungen auf die alltägliche Ebene zu Hause bewegt. Was bedeutet Europa für mich? Welche Rechte und Möglichkeiten habe ich in Europa? – hier muss die Berichterstattung ansetzen. Und Berichterstattung über Europa verlangt Vergleiche. Wie gehen unsere Nachbarn mit den Problemen um, die sie genauso betreffen wie uns? Warum kriegen die Franzosen plötzlich wieder mehr Kinder, die katholischen Italiener aber nicht? Was können wir von den Holländern in Sachen Rente lernen? Und warum kommen immer mehr Engländer nach Deutschland, um sich operieren zu lassen? Fragen über Fragen, auf die das Europamagazin immer wieder überraschende Antworten entdeckte.

Am Anfang fürchteten wir noch den Einzug der Langeweile. Aber Europa blieb spannend. In den letzten fünf Jahren erlebten wir eine beispiellose Phase der Konkretisierung europäischer Politik. Visionen wurden zu Fakten und damit buchstäblich greifbar. Inzwischen halten die Europäer den Euro in Händen – und die Osterweiterung ist Wirklichkeit geworden. Das Ringen um eine europäische Sicherheitspolitik hat – bedingt durch die Konflikte rund um den Irak-Krieg – zu Fortschritten geführt, die noch vor wenigen Jahren fast undenkbar waren. Und die Verabschiedung eines gemeinsamen Verfassungsvertrags wird – wenn es denn dazu kommt – zu einer europäischen Gesetzgebung führen, die klarer benannt und damit für Europas Bürger nachvollziehbar ist.

»Nicht Staaten vereinigen wir, sondern Menschen« – auch dieser viel zitierte Satz Jean Monnets aus der Gründerzeit der Europäischen Union ist heute wichtiger denn je. Aber dazu müssen die Sorgen und Ängste der Menschen auch gehört und ernst genommen werden. »heute – in Europa« hat sich nie als europäisches Jubelmagazin verstanden. Zu einem umfassenden und glaubwürdigen Bild Europas gehört auch die nüchterne Auseinander- setzung mit den Chancen und Risiken des neuen Europas. »heute – in Europa« hat dies – gerade im Hinblick auf die Osterweiterung – systematisch aufzugreifen versucht. Vor allem in Ostdeutschland und den Grenzregionen fürchten die Menschen bis heute, die Erweiterung als wirtschaftliche Verlierer zu erleben oder von wachsender Kriminalität überrollt zu werden. Berücksichtigt wurden aber nicht nur die Sorgen der deutschen EU-Bürger in den Grenzgebieten. Die Redaktion versuchte auch immer wieder, die Anstrengungen zu beleuchten, die der Beitritt den Menschen in den neuen EU-Ländern abverlangt. Denn die Übernahme des »Aquis communautaire«, mit seinen 60 000 Seiten voller EU-Verordnungen erforderte von den Beitrittsländern eine Reformanstrengung, die viele der alten EU-Mitglieder noch nicht geleistet haben.

Europa ist auch Innenpolitik. Viele Facetten der europäischen Wirklichkeit wie die Auswirkungen Brüsseler Politik auf die nationale Innenpolitik oder die Dimensionen europäischer Zusammenarbeit, beispielsweise im Verbraucherschutz, werden von den Zuschauern nicht als europäische Prozesse wahrgenommen. Bei »heute – in Europa« werden sie in ihren europäischen Dimensionen gezeigt, eingeordnet und als europäisch benannt. So werden nicht gängige Vorurteile bedient, sondern Zusammenhänge hergestellt und dem Zuschauer damit neue Aspekte erschlossen. Das ist seit fünf Jahren unser Beitrag zur Entstehung europäischer Öffentlichkeit.

Und es bleibt spannend. Auch in den kommenden Monaten wird Europa uns reichlich Themen bieten. Mit der Ablehnung der ersten Barroso-Kommission hat das erweiterte EU-Parlament schon in seiner ersten Sitzung den Willen bekundet, Europa künftig mit neuer Macht mitzugestalten. Die Europäische Verfassung wird einen komplizierten Prozess der Ratifizierung durchlaufen. Wird es Europas Politikern gelingen, auch die Bürger von der Notwendigkeit eines europäischen Verfassungsvertrags zu überzeugen? Die Auswirkungen der EU-Erweiterung in den Beitrittsländern selbst, wie in den politischen Koalitionen in Brüssel, werden nach und nach sichtbar werden. Die Finanzierung der erweiterten Union muss ebenso diskutiert werden wie die Frage, was die Union im Innersten zusammenhält – und wo ihre künftigen Grenzen verlaufen sollen.

Die Redaktion von »heute – in Europa« hat sich nie als isolierte Programminsel für europäische Belange verstanden. Unser Ziel war es vielmehr, von Beginn an über Kooperationen und Austausch von Ideen europäische Themen zunehmend auch in anderen Sendungen zu verankern. Gemeinsam mit MDR, SWR und WDR gestaltet die Europaredaktion seit mehr als vier Jahren das wöchentliche ARTE-Europamagazin und hat mit einem Anteil von 16 Sendungen in diesem Projekt eine federführende Funktion übernommen.

Anlässlich großer europäischer Ereignisse wie der Europawahl oder der Diskussion um einen möglichen EU-Beitritt der Türkei entwickelte die Redaktion das Konzept der »Langen Nacht der Sterne«, ein mehrstündiges Format, in dem Europapolitiker und -experten die komplexen Aspekte der Thematik systematisch diskutieren. Das Vernetzungskonzept der Redaktion erhielt im Europajahr 2004 eine neue, systematische Qualität. Für das Jahr der Osterweiterung, der Europawahl und der neuen Europäischen Verfassung berief der Chefredakteur ein Projektteam, das die Europaberichterstattung für alle Sendungen der Chefredaktion koordinierte. Alle Redaktionen haben Europabeauftragte nominiert, die sich untereinander absprechen und so eine möglichst große Vielfalt der Europaberichterstattung erarbeiten sollten. Am Anfang des Projekts stand – europatypisch – bei manchen ein leises Unbehagen. Was hat Europa denn zum Beispiel in »hallo deutschland« zu suchen, wurde gefragt, in der »drehscheibe Deutschland« oder in »WISO«? Wie sollen wir es denn hinkriegen, dass alle etwas anderes und es so machen, dass Europa nicht als verordnetes Pflichtprogramm unsere Sendungskonzepte und, schlimmer noch, die Quote zerschlägt?

Doch am Ende wusste Europa wieder zu überzeugen: Es ist zu bunt, um nicht gesehen zu werden, zu spannend und zu relevant. Und so ist die Liste der vielseitigen Europaprogramme beeindruckendes Zeugnis unserer europäischen Wirklichkeit quer durch alle Programme geworden. Eine gute Bilanz für das ZDF – im Europajahr 2004.

 
 
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