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Heiko Holefleisch

Heiko Holefleisch

Aufbrechendes Europa – Programmschwerpunkte auf ARTE

 
Heiko Holefleisch
Heiko Holefleisch
              
 

Die Themenabende sind das Markenzeichen von ARTE, große Dokumentationen seine Königsdisziplin. Seine besondere Auswahl von Kino- und Fernsehfilmen wird als bildermächtiger Spiegel wahrgenommen, Bühne und Konzertsaal auf ARTE als Ereignis. So spielt ARTE auf in einer hoch geachteten, manchmal leicht melancholischen Orchestrierung. Dort, wo es Sinn gibt, bündelt ARTE dann noch seine Kräfte und fügt sie zu großen auffälligen Programmschwerpunkten zusammen. So kann, so soll es gelingen, ein Ereignis, ein Phänomen, ein Werk mit den unterschiedlichsten Instrumentarien unseres Mediums und aus verschiedenen Blickwinkeln sinnvoll und sinnlich zu betrachten. Starke Kontraste wecken die Neugier, überraschende Kombinationen regen die Entdeckungslust unserer Zuschauer an.

Erst schien es abwegig und dann war es umso aufschlussreicher, als ARTE zum Beispiel seinen Schwerpunkt zur Präsidentenwahl in Russland im März mit der Dokumentation »Ein Genie des Bösen?« über den Komponisten Alexander Lokschin aufmachte, der – als Denunziant und vermeintlicher Kollaborateur des sowjetischen Geheimdienstes KGB geächtet – erst 2002 mit der Uraufführung seines Requiems posthum rehabilitiert wurde. Wladimir Putins absehbare Wiederwahl warf auch elementare Fragen nach dem Grad der Wahrhaftigkeit und dem Bestand der Erneuerung auf.

Auftakt des großen EU-Erweiterungsschwerpunkts im Mai waren dann ein Streifzug durch die junge vitale Kulturszene der neuen osteuropäischen Mitgliedsländer in einer extralangen »Metropolis«-Ausgabe und der Omnibus-Film »Europäische Visionen« mit den sehr persönlichen Visionen auch von Fatih Akin, Theo van Gogh, Aki Kaurismäki, Peter Greenaway und Tony Gatlif (beide Programme stammen aus dem ZDF).

Stanley Kubricks Spielfilm »Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben« mit Peter Sellers fügte sich bestens ein in den großen Schwerpunkt zu den Präsidentschaftswahlen in den USA mit allein fünf Themenabenden, Diskussionen, Dokumentationen und Reportagen. Wer diesen Schwerpunkt auf ARTE verfolgt hatte, konnte an der Wiederwahl George W. Bushs eigentlich keinen Zweifel hegen.

Die neunteilige Living History »Die Helden von Olympia« entführte in das antike olympische Athen und war zugleich Einstimmung und Begleitung zum großen sommerlichen Olympia-Schwerpunkt auf ARTE. Die Schattenseiten und Gefahren des kommerzialisierten Hochleistungssports waren dort ebenso Gegenstand wie Legende und Wirklichkeit des durch die »Heimkehr« der Spiele nach Athen besonders häufig strapazierten Olympischen Gedankens.

Programmschwerpunkte auf ARTE leisten weit mehr als strategisches Marketing. Der oft zitierte und wohl trainierte deutsch-französische regard croisé (immerhin mittlerweile auch so etwas wie der Blick mit des anderen Augen) begünstigt und befördert eine Programmstrategie von Schwerpunkten. Deren Maßstäbe resultieren aus der Verankerung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen beider Länder und der Vernetzung mit den besten nationalen und internationalen Produzenten. Gemeinsame Themenabende beispielsweise von ARTE France und MDR, ZDF und ARTE, ARTE France und ZDF oder ARTE und dem polnischen TVP sind längst keine Ausnahme mehr. Das erprobte Zusammenspiel der verschiedenen Gewerke und Genres bei der Erfindung und Erstellung solcher Programmschwerpunkte soll dabei eisernen Prinzipien wie »Klasse statt Masse« oder »vertiefen und nicht verdoppeln« verpflichtet sein.

Kompetent, komplementär und kontrovers wirkte die zentrale Schwerpunkt-Trias des Jahres 2004: RUSSLAND – EUROPA – USA und war damit beispielhaft für zukünftige Unternehmungen; die publizistische Wahrnehmung, der Zuspruch der Zuschauer sprechen dafür. Vielleicht hat ARTE mit ihr sogar mehr vermocht, als ereignisnah komplexe Hintergründe zu liefern. Womöglich hat ARTE damit, in dieser neuen herausragenden Situation nach dem Ende des Irak-Kriegs, an einer langen unsichtbaren Schnur viel (Anschauungs-)Material für den kollektiven und subkutanen europäischen Diskurs bereitgestellt. Nachdem der amerikanische Irak-Krieg die europäische Politik so tief gespalten hatte, hat sich dies Europa vielstimmig und verstört auf die beschwörende Suche nach seiner Identität begeben müssen. »Eine Anrufung des europäischen Subjekts« nannte dies in der taz Isolde Charim und meinte damit nicht allein den Schlüssel- und Auftakttext Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas von Jürgen Habermas und Jacques Derrida. Diese beiden Gladiatoren des intellektuellen Diskurses in Deutschland und Frankreich hatten unter dem frischen Eindruck der europäischen Kriegsallianz der Acht gegen das neue Europa das alte in Stellung gebracht und gemeinsam und zeitgleich in FAZ und Libération zu einer außenpolitischen Erneuerung Europas aufgerufen, die aus ihrer Sicht allerdings nicht ohne eine kulturelle Vision auskommen werde. Eine solche »attraktive, ja ansteckende Vision für ein künftiges Europa« könne dabei »nur aus einem beunruhigenden Empfinden der Ratlosigkeit geboren« werden, »aus der Bedrängnis einer Situation ( ... ), in der wir Europäer auf uns zurückgeworfen sind«. Dieser Befund mochte stimmen, die Kakofonie der Debatte ihn bestätigen, doch die quälenden Fragen blieben, gärten und mehrten sich. Sie wollten und sollten auch auf ARTE aufgegriffen und beantwortet werden.

Riss und Aufbruch in einem! Eine wundersame Liebeserklärung für jenes gerade in doppeltem Sinne aufbrechende Europa und ungefragt auch eine programmatische Ortsbestimmung für das deutsch-französische Projekt ARTE lieferte in dieser Debatte Adolf Muschg in der NZZ: »Für mich als schweizerischen Europäer bleibt die deutsch-französische Versöhnung das noch immer solidere Wunder als das Ende des Kalten Kriegs. Der Kern des alten Europa ist ein Riss, der zum Grundriss eines neuen wurde. Mitten auf historischen Schlachtfeldern sind, von Brüssel über Luxemburg bis Straßburg, die EU-Hauptstädte angesiedelt wie Klammern über einer Wunde, die sich nie mehr öffnen soll. Dieses Kerneuropa hat Frieden mit sich selbst schließen gelernt, à tout prix: Denn der Preis, der dafür bezahlt wurde, bleibt eine immerwährende Verpflichtung Europas und zu Europa.«

ARTE überschätzt sich und seinen Einfluss in diesem fortgesetzten europäischen Diskurs keineswegs, wenn es sich seiner besonderen Verpflichtung bewusst ist und selbstbewusst seine Leistungen herausstellt. Mit wohlpräparierten und kompakten programmatischen Schwerpunkten kann und will ARTE auch in Zukunft seine im Vergleich zu ZDF und ARD größeren Freiheiten nutzen und im Zusammenspiel mit diesen als das öffentlich-rechtliche Fernseh-Forum des geeinten alten und neuen Europas auftreten.

Anlässlich der Erweiterung der Europäischen Union übertrug ARTE in seinem Schwerpunkt am 2. Mai ein festliches Livekonzert aus dem Rudolfinum in Prag, Hauptstadt des frischen Mitgliedslandes Tschechien. Auf dem Programm stand auch Antonín Dvoráks populärstes Werk, die Sinfonie Nr. 9 e-Moll, op. 95. Mit ihr hatte Dvorák gut 100 Jahre zuvor seine Eindrücke und Grüße »Aus der Neuen Welt« musikalisch übermittelt.

War das nun eine Botschaft aus dem alten Amerika an das neue Europa oder eine Botschaft aus dem alten Europa an das neue Amerika?

 
 
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