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Gottfried Langenstein

Kultur und Medien im erweiterten Europa

 
Gottfried Langenstein
Gottfried Langenstein
              
 

Was wollen und dürfen wir für Europa hoffen? Welche Kultur brauchen wir? Welche Leistung erwarten wir von den Medien? Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, lohnt ein Blick auf die Entwicklung unserer Arbeits- und Lebenswelt in den letzten 50 Jahren.

Das deutsche Wirtschaftswunder entstammte noch einer anderen Gesellschaft. In der jungen Bundesrepublik waren annähernd 50 Prozent der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft und weitere 30 Prozent handwerklich in der Industrie beschäftigt. Die Gesellschaft des gerade angebrochenen Jahrtausends nimmt sich da gänzlich anders aus. Über 70 Prozent sind inzwischen im Handels- und Dienstleistungssektor beschäftigt und nur noch 2,4 Prozent kennen das Landleben aus eigener Tätigkeit.

Gleiche Entwicklungen gab es im Europa der Zwölf, und in den neuen europäischen Beitrittsländern vollzieht sich dieser Prozess nun in beschleunigter Form.

Während die Erfahrung der Arbeitenden nach dem Krieg noch mit den eigenen Sinnen verknüpft war, sind die Arbeitenden des neuen Jahrtausends meist ohne jegliche direkte Erfahrung bei der Herstellung von Gütern. Die Erfahrungswelt wird zur gelernten Welt.

Im persönlichen Lebensbereich vollzieht sich eine ähnliche Entwicklung. Vor 50 Jahren waren Kindheits- und Jugenderlebnisse noch weitgehend aus erster Hand, selbstgelebte Abenteuer in einer Welt mit selbstgefertigten Gegenständen. Gleiches galt für das private Leben der Erwachsenen. Der Medienkonsum war eine kaum relevante Größe.

In den letzten 40 Jahren hat es hier eine dramatische Veränderung gegeben. Der Durchschnitt des Fernsehkonsums stieg kontinuierlich an. Während der deutsche Bundesbürger im Jahr 1960 durchschnittlich nur eine Stunde mit elektronischen Bildmedien verbrachte, ist dieses Pensum im Jahr 2004 auf viereinhalb Stunden in Familien und mehr als fünf Stunden bei Singles gestiegen. Die rasant zunehmende Internetnutzung hat dabei das Fernsehen nicht verdrängt, sondern kommt als neue geistige Beschäftigung noch als zusätzliches Zeitpensum (etwa 80 Minuten pro Tag) dazu.

Heute sind die elektronischen Bildmedien, insbesondere das Fernsehen, der zentrale Faktor unserer Gegenwart und unserer gesellschaftlichen, unserer politischen, unserer geistigen Entwicklung geworden. Nichts prägt so sehr das Denken, die geistige Leistungsfähigkeit und die Orientierung der Generationen von morgen.

In der Geschichte Deutschlands und der deutschen Länder waren die Phasen großen wirtschaftlichen Erfolgs immer auch von Initiativen im Bildungs- und Kulturbereich getragen. Der Aufbau der Museumslandschaft im 19. Jahrhundert als Bildungsorte des Volkes, öffentliche Bibliotheken, die Humboldtsche Universität, die Kaiser-Wilhelm- Institute (heute Max-Planck-Institute), öffentliche Sternwarten und die Urania in Berlin waren Boden und Begleiter des außerordentlichen industriellen wie wissenschaftlichen Aufschwungs, den Deutschland im 19. Jahrhundert erlebte. Bildung und industrielle Dynamik wurden politisch als sich gegenseitig bedingend gesehen und waren ein weltweiter Ausweis für Leistungsfähigkeit und Qualität.

Viele dieser Bildungsfunktionen sind heute im 21. Jahrhundert von den elektronischen Medien übernommen worden. Plutos Mond betrachten wir nicht mehr im Fernrohr der Volkssternwarte, sondern seine Bilder kommen über das Fernsehen oder übers Internet in jede Wohnstube. Die Vermittlung von wissenschaftlichen Prinzipien für die breite Bevölkerung, die im Deutschen Museum in München hervorragend geleistet wurde, erreicht über die elektronischen Medien heute eine noch viel größere Breitenwirkung. Umso erstaunlicher mutet es an, dass die europäische Politik den heute mit Abstand wichtigsten Bildungsfaktor der Gesellschaft unter diesem Gesichtspunkt kaum betrachtet und gestaltet: die Medien.

Deutschland und die industriell hoch entwickelten europäischen Länder werden sich im globalisierten Wettbewerb nur als hoch spezialisierte Dienstleister, als führende Forschungs- und Logistikzentren behaupten können. Um hier entsprechend erfolgreich zu sein, bedarf es freilich einer erneuten breiten Dynamisierung des Bildungsniveaus.

Dieses Ziel steht jedoch in der EU bei Medienfragen nicht im Kern der Diskussion. Deregulierung, Transparenzrichtlinie und Wettbewerbsrecht scheinen stattdessen die einzigen Parameter zu sein, unter denen europäisches politisches Denken sich den Medien zuwendet. Auch bei der neu gebildeten EU-Kommission erleben wir ein verschärftes Verlangen nach einer reinen wettbewerbsrechtlichen Ordnung der Medienlandschaft. Das noch mit maßgeblicher Unterstützung von François Mitterand und Helmut Kohl 1997 verabschiedete Amsterdamer Protokoll scheint bei den neuen Administratoren in Brüssel nur noch wenig Rückhalt zu finden.

Die Bereitschaft der Europäer (mit Ausnahme von Polen und Frankreich), die Steuerungsfähigkeit für das wichtigste gesellschaftliche Bildungssystem aus der Hand zu geben, ist bemerkenswert. Keine große Kultur- und Industrienation verhält sich hier ähnlich freigiebig beim Ausverkauf des eigenen gesellschaftlichen Zentralnervensystems. Weder in China noch in Russland und erst recht nicht in den USA wäre denkbar, dass der Bestand an Medienunternehmen oder ihre Vertriebswege, ihre Kabelnetze, im weltweiten Ausverkauf feilgeboten würden. Zu deutlich ist dort das Verständnis für den hohen strategischen Wert der Medien bei der Positionierung von Ländern und Kulturen in der globalisierten Welt.

Die Subsidiarität, die so wertvolle Dienste für die kulturelle Vielfalt leistet, führt hier ungewollt zu einer politischen Schwäche, wenn Europa nicht auf höchster politischer Ebene konzertiert und proaktiv im eigenen kulturellen Interesse handelt. Es fehlt eindeutig an einer hinreichenden Bündelung des kulturellen Willens.

Bei der Frage der Eigentumsverhältnisse sind die Entwicklungen kaum rückholbar. So wünschenswert die amerikanische FCC-Regulation § 310 (siehe Jahrbuch 2003, Seite 156) mit ihren Eigentümerbeschränkungen für Europa wäre, insbesondere auch bei den Verbreitungswegen – sie wird bei den vielfältigen Interessenslagen der einzelnen EU-Länder nicht mehr durchsetzbar sein. Bei den Kabelnetzen beispielsweise sind die Veräußerungen an außereuropäische Konsortien längst vollzogen. Wir müssen insofern über andere Mechanismen nachdenken, wie man die Medienlandschaft, ihre besondere Qualität und ihre Verfügbarkeit für die Bürger langfristig sichert. Dazu gehört zweifellos, dass auch fremde Eigner sicherstellen müssen, dass die öffentlich finanzierten Bildungs- und Wissensangebote die Bevölkerung auch erreichen. Wer verfolgt hat, wie die BBC bei Murdoch hohe Pfund-Beträge einsetzen musste, um angemessen platziert zu sein und auf den Elektronischen Programmführern (EPG) überhaupt zu erscheinen, weiß, wovon hier die Rede ist. Nur für eine Zeile Programmhinweis in Murdochs EPG zahlt die BBC 75 000 Pfund.

»Panem et circenses« war politisch immer ein lockendes Geschäft, aber langfristig schon seit Römerzeiten stets mit Drall zum Untergang. Die vollständige Boulevardisierung unserer Medienwelt hat eine ähnliche Qualität. Die Silikon-Fassade des Bürgers wird dort in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt und nicht der Inhalt des Kopfes. Es muss uns gelingen, die Gesellschaft wieder in der Breite für Wissen und ein intelligentes Leben zu begeistern, und hier haben die Medien eine zentrale Aufgabe.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat mit den großen Leistungsträgern BBC in England, France 2 in Frankreich, ARD und ZDF in Deutschland sowie ARTE und 3sat im Kulturbereich eine entscheidende Bedeutung für die Aufrechterhaltung eines zukunftsfähigen Bildungsniveaus und als Träger für den kulturellen Diskurs. Noch hat Europa in vielen seiner Länder die besten Fernsehangebote der Welt. Und wir müssen alles tun, dass dies so bleibt.

 
 
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