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Giselher Suhr

Wie umgehen mit der Sensation?

 
Giselher Suhr
Giselher Suhr


Warten auf die Flut
Warten auf die Flut
              
 

Die Einsamkeit des ZDF-Reporters, wenn die Flut kommt, ist groß. Er weiß, wie dringend die Betroffenen, die Bedrohten und die Anteilnehmenden auf seine Nachrichten warten. Und natürlich auch die Redaktionen, die dem unerschöpflichen Informationsbedürfnis der Zuschauer Rechnung tragen wollen.

Die Sensation ist da, aber wer sagt ihm, wie er damit umgehen soll? Gerade das live gesprochene Wort vom Ort des Geschehens vermittelt den Eindruck der Allwissenheit. Aber wer kennt die Wege des Wassers? Soll er immer vom Schlimmsten ausgehen, oder bleibt ein Spielraum des Abwägens?

Die Wassermassen von Elbe und Mulde erreichen am 14. August auch Sachsen-Anhalt. Die Menschen hatten in den Tagen zuvor die Bilder des zerstörten Grimma im Fernsehen gesehen. Wie wird die Flut sie treffen, wie werden sie sich vorbereiten? Wir fahren nach Jessnitz an der Mulde, nicht weit entfernt von Dessau. Auf der Muldebrücke haben sich Schaulustige versammelt, ein schwerer Kran versucht, Betonteile aus den Fluten zu hieven, die den Fluss der Mulde hemmen könnten.

Wir erleben eine gespenstische Gelassenheit. Da gibt es ein Sanddepot, wo der eine oder andere ein paar Sandsäcke oder Plastiktüten auffüllt. Ein Kofferraum wird vollgepackt, ein Handwagen, Kinder hängen die Sandfracht an den Fahrradlenker. Dicht am Ufer treffen wir eine Frau im Vorgarten ihres Wassergrundstücks, die ganz und gar nicht wahrhaben will, dass ihr Haus, ihre Einrichtung bedroht ist. Dabei sind die vorhergesagten Pegel eindeutig. Aber was kann ein Reporter mehr tun als zu berichten? Wir drehen unsere Reportage »Vor dem Hochwasser« ab – und noch auf dem Weg zum Schnitt im Studio bestellen wir bei einem Verleih ein Schlauchboot, um für die Berichterstattung am kommenden Tag gerüstet zu sein.

Tatsächlich kommt die Flut über Jessnitz noch in der Nacht und das ZDF-Schlauchboot leistete gute Dienste – nicht nur bei den Dreharbeiten, sondern auch bei der Rettung von Eingeschlossenen. Sogar ein Reh, das zu ertrinken drohte, kommt mit an Bord.

Bei Dessau treffen Mulde und Elbe zusammen. Zwei Flutwellen drohen sich zu vereinigen. Das Muldewasser könnte wie ein Staudamm für die Wassermassen der Elbe wirken. An der Dessauer Muldebrücke beobachtet der ZDF-Reporter immer wieder live den Pegel. Zwischen den Sendungen stellt sich immer wieder die Frage: Wie sehr kann man den Vorhersagen trauen? Schließlich gelingt es, eine verlässliche Verbindung zu den Experten des Landesbetriebs für Hochwasserschutz zu knüpfen. Dabei stellt sich heraus, dass die Prognosen und Szenarien für Sachsen-Anhalt möglicherweise falsch, genauer: viel zu pessimistisch sind. Die Vorhersagen für das Elbe-Hochwasser, heißt es, beruhten auf falschen Messwerten, da auch viele Pegelmessstationen durch die Flut zerstört seien. Aber noch gehen die Offiziellen elbabwärts von unglaublichen Pegelständen aus, die nicht nur für Wittenberg und Magdeburg unausweichlich die Katastrophe bedeuten würden.

So kommt es, dass manche Lageeinschätzung des ZDF-Reporters aus Sachsen-Anhalt weniger dramatisch klingt als die Meldungen anderer. Darf man auf der schmalen Basis eigener Recherchen als Reporter Hoffnung vermitteln? Aber immer wieder zeigt sich, dass gut beraten ist, wer sich nur auf das verlässt, was er selbst recherchiert hat, wer immer wieder den Versuch macht, die Verlässlichkeit seiner Quellen abzuschätzen. Und er ist immer auf der sicheren Seite, wenn er sie auch nennt.

Als der Damm bei Bitterfeld bricht und Mulde-Wasser aus Sachsen in das Tagebaurestloch, die Goitsche, strömt, wechseln sich die Meldungen von Evakuierung und nicht Evakuierung, Überflutung der Innenstadt und der Rettung der Innenstadt, die am Ende verschont blieb, ab. War er nun gefährdet, der Chemiepark Bitterfeld, drohte die Umweltkatastrophe?

Da war es gut, vor Ort zu sein und seinen Augen zu trauen. Tatsächlich wurde Bitterfeld gerettet, weil seine Bürger und engagierte Helfer aus nah und fern einen Sandsackdeich gegen die Flut aus der Goitsche bauen; unermüdlich – auch als es heißt, freiwillige Helfer müssten aus Sicherheitsgründen abgezogen werden. Sie bauten ihren Damm weiter bis zur Höhe von zwei Metern, obwohl die Experten meinen, ein »Sandsackverbau« halte bis maximal 1,5 Meter. Und als die Livereporter vor Ort melden, der Nachschub an Sandsäcken bliebe aus, setzt sich eine wahre Karawane von privaten Kleintransportern in Bewegung. Das wirkt. Dabei haben manche nur ein paar Aldi-Tüten mit Sand dabei.

Wie Nomaden den Weidegründen folgten inzwischen die Reporter der Scheitelwelle der Flut und den vorhergegangenen Schlagzeilen über die bevorstehenden Jahrhundertereignisse. Aber die Elbe, die in Sachsen-Anhalt so viele Umweltschützer zu Freunden hat, bleibt am Ende zwei bis drei Meter unter den zunächst befürchteten Höchstpegeln. Die Innenstädte von Dessau, der Bauhausstadt, Luthers Wittenberg und Magdeburg werden verschont. Das Wörlitzer Gartenreich kommt glimpflich davon. Auch wenn die Schäden an der Parklandschaft in die Millionen gehen, verschonen die Wassermassen die einzigartigen Lustschlösser. Die große Katastrophe bleibt vielen erspart. Dennoch wird für die Berichterstattung jedes Einzelschicksal zählen.

Es gibt nicht nur freiwillige Helfer auf dem Deich. Über Nacht sind sie präsent: Die ZDF-Kolleginnen und -Kollegen aus der Zentrale in Mainz und aus den nicht vom Hochwasser betroffenen Landesstudios – zur Unterstützung der Magdeburger Mannschaft. Sie machen sich auf den Weg zu den Menschen in den 113 überfluteten Ortschaften und Stadtteilen, zu den Bauern, zu den Betrieben. Diese Berichte sind wichtig für die Betroffenen, die erfahren, dass sie nicht allein gelassen werden. Wichtig auch, weil sie jene Anteilnahme wecken, die die beispiellose Spendenbereitschaft in ganz Deutschland möglich macht.

Geblieben sind Erfahrungen der Solidarität und, ganz nebenbei, hoffentlich ein erweiterter geographischer Blick. Viele werden zum ersten Mal gehört haben, welche Schätze in Sachsen-Anhalt den Touristen erwarten. Die Flut bedrohte gleich drei Mal »Weltkulturebe«: Das Bauhaus in Dessau, die Luthergedenkstätten in Wittenberg und das Dessau-Wörlitzer Gartenreich. Sie alle haben ihren Kampf gegen die Flut gewonnen. Aber geblieben ist immer noch eine Nebenwirkung der Berichterstattung: Die Besucher bleiben aus. Aber vielleicht hat ja die unermüdliche Nennung der Schätze dieser bedrohten Regionen auch manchen neugierig gemacht: einmal selbst nachzuschauen, trockenen Fußes natürlich. Sicher wird das ZDF in mancher Sendung immer wieder mit freundlichen Tipps dazu einladen.

 
 
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