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2002  
ZDF Jahrbuch
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Thomas Euting

Die Jahrtausendflut und die (Wieder-)Entdeckung der Gemeinsamkeit

 
Thomas Euting
Thomas Euting




Weesenstein unter Wasser
Weesenstein unter Wasser
              
 

Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs, auf dem Weg zur Arbeit. Am Ufer steht ein alter Mann an einer Staffelei, er malt den Fluss. Er grüßt mich, wir kommen ins Gespräch. Der bald 80-Jährige zieht an seiner Pfeife und zeigt hinaus aufs Wasser: »Ja, so friedlich kann er sein, der große alte Strom, der unser Land vereint – so friedlich, dass wir schnell vergessen, über ihn und uns nachzudenken. Doch dann tritt er plötzlich in schäumender Wut über die Ufer und reißt mit tödlicher Kraft alles fort, was uns sicher schien. Und auf einmal begreift der Mensch, wie winzig klein er ist ...« Das war im Mai 2002, in China, am Fluss Jangtsekiang, den ich für eine Reportage von Shanghai bis zur Grenze nach Tibet bereiste.

Im August bin ich wieder mit dem Fahrrad unterwegs, in Dresden, auf dem Weg zur Arbeit. Die Elbe steigt immer weiter, das Wort von der Jahrtausendflut geht um. Alle Brücken sind zeitweise für den Autoverkehr gesperrt, wer unbedingt unterwegs sein muss, geht zu Fuß oder nimmt das Rad.

In den 17-Uhr-Nachrichten habe ich die Geschichte einer Rentnerin erzählt: Sie steht inmitten eines Gewirrs aus Pumpen und Schläuchen und verteilt jeden Morgen Brötchen an Feuerwehr und THW. 50 Brötchen, ohne Belag. »Mehr kann ich mir mit meiner kleinen Rente nicht leisten«, sagt sie. Und so stehen sie um die alte Dame herum, die Männer aus Hamburg, Frankfurt, München, die erzählen, dass sie seit der Wende eigentlich noch nie so richtig im Osten gewesen sind. »Aber jetzt!«, lachen sie, und winken mit trockenen Brötchen in schmutzig-nassen Händen.

Ein paar Straßen weiter, auf der Augustusbrücke, starrt ein älterer Herr in die lehmig braunen Fluten. »Mein Gott«, sagt er, »ich habe die Bombennächte überlebt, die DDR überstanden, die Wende bejubelt und mir in den Jahren danach einen kleinen Einrichtungsladen in Laubegast aufgebaut. Und jetzt?! Jetzt steht dort das Wasser bis zum zweiten Stock, und ich glaube nicht, dass ich die Kraft haben werde, noch einmal von vorne anzufangen.« Dann macht der alte Mann Fotos von der Elbe, die so breit ist wie noch nie zuvor. »Für die Enkel«, erklärt er uns.

Ein Container treibt vorbei, ein Kühlschrank, ein Hausdach und immer mehr Öl und Benzin. Ebenso schillernd kommt mir plötzlich textliches Treibgut vor, das in manchen Medien angeschwemmt wird: »Der Himmel weint und es versinken Träume in den Fluten«; »Alles geht den Bach runter, aber zum Glück sitzen wir alle im selben Boot«; »Die Stunde Null: Fremde umarmen Fremde«.

Aber da sind auch die Bilder des Jahres, die man nie vergessen wird: Der kleine Hund, den ein Mann in Pirna aus der schmutzigen Flut rettet, die ihm bis zum Hals steht; der geschnitzte Christus, der in der Döbelner Stadtkirche zwischen dem Gestühl schwimmt; die vergessene Lokomotive inmitten eines reißenden Stroms, der durch den Dresdner Hauptbahnhof schießt; und der kleine Junge, der auf dem überfluteten Marktplatz von Schneeberg Karpfen aus den Fluten fischt.

In Dresden komme ich an der nächsten Straßenecke nicht einmal mehr mit dem Fahrrad durch: Zwischen Semperoper, Hofkirche und Elbufer steht der gesamte Theaterplatz unter Wasser; in der Mitte das bronzene Reiterstandbild König Johanns. Dort ist die Dreckbrühe schon anderthalb Meter tief. Zuerst kam das Wasser von dem wildgewordenen Flüsschen Weißeritz, nun erreicht die Elbe ihren höchsten Pegelstand von 9,40 Meter. Fäkalienverseuchtes Wasser spült die Uferböschung hoch.

Auf den Treppen des Haupteingangs der Semperoper steht ein Mann in durchnässten und verschmutzten Turnschuhen. Vor ihm wird der See auf dem Theaterplatz immer größer, hinter ihm, im Inneren der Oper, strömt das Wasser bereits aus den Kellerwänden. Der Intendant der Semperoper, Christoph Albrecht, schildert im ZDF-Interview, was er in den letzten 24 Stunden erlebt hat: »Die erste Flutwelle hatte die Werkstätten getroffen. Es gab nur noch Notstrom, überall rauschte das Wasser, aber die Mitarbeiter gaben nicht auf: Chorsänger stapften in Unterhosen durch das Halbdunkel und brachten das Notenarchiv in Sicherheit. Tänzerinnen schleppten »Schwanensee«-Kostüme in die höheren Stockwerke. Und ein Musiker der Staatskapelle stürzte sich in einem alten NVA-Taucheranzug in das Dreckwasser: ‚Rettet die Pauken!!’, rief er.«

Der 58-jährige Intendant ist einer der erfahrensten Theatermanager Deutschlands. Er hat in seinem Berufsleben so manche Krise erfolgreich bewältigt, doch als er mit ansehen muss, wie wertvolle Steinway-Flügel, historische Cembali und die komplette Schuhgarderobe in der stinkenden Brühe treiben, kommen ihm die Tränen: Die gesamte Unterbühne mit der Millionen Euro teuren Bühnentechnik, mit der man computergesteuert sieben Ebenen in Bewegung setzen konnte, ist unrettbar für immer verloren.

Draußen auf dem Platz neben der Semperoper versucht der Haustechniker Fischer ein Nebengebäude zu erreichen. Er steckt bis zur Brust im Wasser und kommt kaum gegen die Strömung an. Und dann ist er plötzlich verschwunden, einfach weg, abgesoffen: »Er war in eines der Siele gefallen, deren Deckel das Grundwasser weggesprengt hatte«, erinnert sich Albrecht. »Zum Glück kam er gleich wieder hoch. Der Mann hat kräftig ausgespuckt und ist dann an Land geschwommen.«

Randnotizen nur, aber die Begegnungen mit den eigentlichen Helden dieser Katastrophe, die keine Schlagzeilen machen, gehen mir nicht aus dem Kopf. Uns allen nicht, die wir im ZDF-Landesstudio Sachsen hinter Sandsackbergen und vor Kassettenstapeln 1 000 Sendeminuten lang Geschichten über die Ostdeutschen in der Flut erzählen: 15 Reporter, 15 Kamerateams, sechs Cutter, zwei Übertragungswagen.

Über Arbeitszeiten spricht niemand. Geschlafen wird auf dem Fußboden oder am Schneidetisch. Jana Bracklow, Sekretärin und Ruhepol im Studio, beschafft Matratzen, Bettzeug, Handtücher, Strümpfe, Unterwäsche, Hemden. Es herrschen Ausnahmezustand und Stress bis zum Umfallen, aber keiner geht dem anderen an die Kehle, kaum ein böses Wort fällt. Fast alle im Dresdner Team sind persönlich betroffen. So oder so. Die Eltern der Reporterin Franziska Wunderlich haben ihren Biergarten am Elbufer verloren, die Familie von Stefan Kelch sitzt vom Wasser eingeschlossen in ihrem Haus wie auf einer Hallig bei Sturm und Hochwasser in der Nordsee. Und der Vater? Der ist unterwegs, völlig durchnässt und mit einer regenbefleckten Brille, die zum Markenzeichen seiner Schaltgespräche geworden ist. Der 42-jährige gebürtige Sachse aus Meißen hatte tagelang aus entlegenen Erzgebirgsdörfern berichtet. »Diese unmittelbare Nähe zur Katastrophe und zum trotzigen Überlebenswillen der Opfer hat mich verändert«, sagt der stellvertretende Leiter des Dresdner ZDF-Studios. »Da war zum Beispiel jene Frau in der Nähe von Flöha ...«

Zwölf Stunden, nachdem eine gewaltige Flutwelle den kleinen Ort Falkenau zerstört hatte, ist Kelch dabei, als Feuerwehr- und Bundeswehreinheiten aus Kassel, Hannover und Bremen versuchen, die Bewohner von Falkenau zu evakuieren. Selbst die größten der Bundeswehr-LKW haben Mühe, sich durch die reißenden Wassermassen auf der Straße zum Dorf durchzukämpfen. Als Retter und ZDF-Team schließlich die ersten Häuser erreichen, winkt ihnen eine Frau zu. Weinend, zerzaust und verdreckt versucht sie vergeblich, mit einem Schneeschieber die Schlammlawine vor ihrem zerstörten Haus wegzuräumen. »Vor einer Stunde noch«, so ist sie später im »heute-journal« zu hören, »war ich in tiefer Verzweiflung und wie gelähmt. Doch dann dachte ich an meinen Mann und unsere drei Kinder, die im Nachbarort in Sicherheit waren, und meine Wut verwandelte sich in Zuversicht!«

»Die Begegnung mit dieser tapferen und starken Frau zählt für mich zu den Fluterlebnissen, die mich am tiefsten bewegt haben«, erinnert sich Reporter Kelch: »Als wäre es das Natürlichste auf der Welt, hatte sie sich mit dem Verlust des gerade fertig renovierten Hauses abgefunden. Nun müssten sie zwar wohl oder übel von vorn anfangen, hat sie vor unserer Kamera gesagt, aber das werde die Familie nur noch enger zusammenschweißen!«

Näher zusammenrücken, gemeinsam das Schlimmste durchstehen und aus den Tiefen der Katastrophe neue Kraft und Hoffnung und Zuversicht schöpfen. Das ist die eigentliche Botschaft, die vor allem das Fernsehen aus den Überflutungsgebieten in alle Welt getragen und die so viele Menschen bewogen hat, mit Spenden in Höhe von einer Viertelmilliarde Euro die Opfer beim Neuanfang zu unterstützen.

Der Bundespräsident hat einmal gesagt, dass sich Ost und West erst in dieser Flut-Krise richtig nahe gekommen sind. Eine Beobachtung, die ich nur teilen kann.

Übrigens auch im Blick auf das Verhältnis zwischen den »Wessis« in den Senderedaktionen der Mainzer Zentrale und den »Ossis« in den von der Flut betroffenen Landesstudios. Beide Seiten haben die große Flutberichterstattung als eine gemeinsame Herausforderung erlebt und auch nur im engen und vertrauensvollen Miteinander bewältigen können. Dieser Erfolg könnte nun auch im Hause ZDF endgültig das zusammenwachsen lassen, was längst schon zusammengehört.

 
 
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