Kai Niklasch, ZDF-Studio Brüssel
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Deutschland entscheidet über die Zukunft des Euro
Merkel, Brüssel und die Eurokraten

Transferunion gegen Stabilitätsunion – oder geht beides? Die Europäer ziehen an einem Strang, aber leider nicht immer in dieselbe Richtung. Die Bundesregierung will vor allem die Staatshaushalte kontrollieren, Schulden abbauen und solides Wachstum in Europa. Die Südeuropäer drängen auf gemeinschaftliche Staatsanleihen (Eurobonds) und hätten nichts gegen eine Schuldenunion. In diesem Spannungsfeld fanden die letzten EU-Gipfel statt. Spannende Gipfelthemen für das Studio Brüssel.

Die Bundeskanzlerin hat erklärt, es gebe keine Blaupause, um in der Euro-Krise zu handeln. Das ist richtig und erklärt, warum die Europäische Union einige Zeit benötigt hat, um wichtige Weichen zu stellen.

Im Mai 2010 wurde für Griechenland ein Hilfspaket im Umfang von 110 Milliarden Euro von EU, Internationalem Währungsfonds und aus bilateralen Krediten der Euro-Partner geschnürt. Der erste Rettungsschirm im Gesamtvolumen von 500 Milliarden Euro war ein klares Zeichen der Solidarität, wenn auch ein Zeichen, das nur mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds zustande kam.

Hintergründiges und warum Deutschland eine bestimmte Position bekleidet, erfährt die Journalistenschar in Brüssel oft im kleinen Kreis bei einem Mittagessen. Hier wird in der Regel gezielt eingeladen. Aber auch Hintergrundgespräche vor EU-Gipfeln sind sehr beliebt. Hier versammeln sich die in Brüssel akkreditierten Journalisten meistens in der Deutschen Botschaft und lauschen einer Berliner Runde in der Bundespressekonferenz. Von Regierungsseite nehmen in der Regel der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, und der Leiter Europapolitik im Bundeskanzleramt, Nikolaus Meyer-Landrut teil. Die Brüsseler Journalisten formulieren über einen Computer ihre Fragen, die der Leiter der Bundespressekonferenz verliest und von den Experten der Bundesregierung beantwortet werden.

Diese Runden helfen, die deutsche Position in der einen oder anderen Frage zu verstehen. Um die gesamteuropäische Sicht der Dinge zu hören, stehen die Hintergrundkreise von Kommissionspräsident José Manuel Barroso und dem permanenten EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy hoch im Kurs.

Was darüber hinaus hilft, sind Briefings der anderen Nationen, aber auch Gespräche mit Journalisten aus den betroffenen Ländern. Griechische Journalisten etwa haben mir immer wieder sehr interessante Dinge über die griechische Mentalität und ihre Hoffnungen zur Überwindung der Krise verraten. Natürlich sind dies nur Einzelmeinungen. Aber aus vielen Einzelmeinungen setzt sich oft ein interessantes Bild zusammen.

Woran krankt der Koloss Europa?
Die EU hat sich den Euro ohne politische Union, ja, ohne ein ausreichendes demokratisches Fundament geleistet. Die Kanzlerin hat in letzter Zeit immer wieder auf die Konstruktionsfehler des Euro verwiesen. Für diese Konstruktionsfehler stehen die damaligen Staats- und Regierungschefs in der Verantwortung. Frankreich etwa wollte nach dem Mauerfall eine Vormachtstellung der Deutschen Mark verhindern, Deutschland jeden Eindruck vermeiden, daran Interesse zu haben. Der Euro hat viele Segnungen, aber eben auch Konstruktionsfehler. Die Bundesregierung hat versucht, mangelnde Eingriffsmöglichkeiten in nationale Haushalte zu korrigieren. Der Stabilitätspakt ist das Stichwort hierfür.

Das Europäische Parlament hat in den letzten Jahren immer mehr Macht bekommen. Aber die Kernkompetenzen, die ein Parlament wirklich benötigt, um sich noch mehr Respekt und Ansehen zu erarbeiten, fehlen nach wie vor: Das EU-Parlament kann keine Regierung wählen. Es hat nicht das Recht, Gesetze auf den Weg zu bringen (Gesetzgebungsinitiative), es darf aber am Gesetzgebungsverfahren mitwirken. EU-Parlamentswahlen, bei denen es wirklich um Macht in Europa ginge, könnten der europäischen Idee einen enormen Schub geben.

Stattdessen leistet sich die EU eine Kommission, deren Bürokratie sich ausdehnt. Deren oft kluge Köpfe von den EU-Bürgerinnen und -Bürgern aber nicht gewählt wurden. Das macht ohnmächtig und vergrößert die Kluft zwischen einem bürokratischen Monstrum und dem einfachen EU-Bürger. In Deutschland gibt es einen Länderfinanzausgleich zwischen Nord und Süd und Ost und West. Früher empfing Bayern Geld, heute zahlt es an andere. Das verbindet. Wer den Euro will, müsse auch Eurobonds und die Transferunion befürworten, meint etwa François Hollande, der französische Staatspräsident. Sonst ginge der Euro unter.

Die Kernfrage
Die Kernfrage lautet: Verbindet Deutsche jetzt oder zukünftig ähnlich viel mit Franzosen wie Bayern mit Norddeutschen? Wenn die Frage mit »Ja« beantwortet wird, scheinen weitere Integrationsschritte für ein neues Europa unausweichlich. Für ihre Schulden sind die Krisenländer selbst verantwortlich. Doch es ist nicht klug, Partner wie Bittsteller zu behandeln. Das haben die »Geberländer« erkannt.

Deutschland profitiert von der Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den letzten zehn Jahren. Andere europäische Partner haben wichtige Entwicklungen verschlafen. Früher glichen Länder wie Italien und Spanien ihre Fehler durch die Abwertung von Lira und Peseten aus. Das geht mit dem Euro nicht mehr

Mit dem permanenten Rettungsschirm ESM sind die Weichen für eine Transferunion gestellt. Eine Transferunion auf Probe sozusagen, mit dem überschaubaren Einsatz von 700 Milliarden Euro. Doch jetzt kommen wirkliche Nagelproben für die Transferunion. Die Staaten der Eurozone müssen sich entscheiden, ob sie Eurobonds, einer Bankenunion mit gemeinschaftlicher Haftung und einer »kreativen« Geldpolitik der Europäischen Zentralbank zustimmen wollen. All das fordert der IWF, aber auch Frankreich, Italien und Spanien, die drei größten Volkswirtschaften neben Deutschland.

Die Bundesregierung will jedoch zuerst die politische Union und eventuell danach weitere gezielte Transfer- und Hilfsmaßnahmen. Doch benötigt sie für ihre Politik Verbündete. Der Sozialist Hollande, Frankreichs Regierungschef, hat sich auf den Gipfeln Ende Juni und Mitte Oktober 2012 mit Italien und Spanien verbündet. Deutschland und Frankreich haben in den letzten Monaten keine Politik aus einem Guss gemacht, wie das noch zu Zeiten Nicolas Sarkozys der Fall war.

Wie funktioniert eigentlich unsere Arbeit auf EU-Gipfeln?
Bei Gipfeln berichten wir über die Ankünfte der Staats- und Regierungschefs. Das sind dann die ersten offiziellen Aussagen, die wir nach all den Hintergrundgesprächen erhalten. Sind Angela Merkel und François Hollande einer Meinung, decken sich ihre Aussagen? Beim Gipfel Mitte Oktober 2012 wurden deutliche Dissonanzen erkennbar. Frankreich setzte sich für die Interessen der Südeuropäer Spanien und Italien ein. Das wurde bereits in der Frage deutlich, wann die Bankenaufsicht voll funktionstüchtig sein sollte. Frankreich bestand auf den 1. Januar 2013, Deutschland war das zu früh. Die Kanzlerin argumentierte, eine derart komplexe Aufgabe für die Europäische Zentralbank könne nicht in zweieinhalb Monaten bewältigt werden. François Hollande sagte, man habe genug geredet und wolle Nägel mit Köpfen machen. Hintergrund war der Wunsch Spaniens, seine Banken zum 1. Januar 2013 direkt mit Krediten aus dem permanenten Rettungsschirm, dem ESM, zu versorgen. Das hätte für Spanien den Vorteil gehabt, Bankkredite nicht auf die spanische Staatsschuld anrechnen zu müssen. Das wiederum hätte spanische Staatsanleihen verbilligt. Frankreich machte sich zum Anwalt der spanischen Interessen, blitzte aber bei der Bundeskanzlerin ab. Wir vom Studio Brüssel und alle anderen Kollegen mussten in der Gipfelnacht lange warten. Dann einigten sich die Teilnehmer, die Bundeskanzlerin und die anderen Delegationen gaben ihre Pressekonferenzen. Gegen vier Uhr morgens verabschiedete sich die Kanzlerin mit den Worten »bis später« in ihre Limousine. Denn nur fünf Stunden später stand sie bereits wieder vor den Kamerateams, um den zweiten Gipfeltag mit ihrem Eingangsstatement zu eröffnen.

Wir berichteten in allen Nachrichtensendungen von der nächtlichen Einigung und konnten bereits für das »ZDF-Morgenmagazin« um 5.30 Uhr die Ergebnisse servieren. Da hatte die Crew bereits einen 20-stündigen Arbeitstag hinter sich.

Während wir noch am »heute-journal« bastelten, war Angela Merkel am Abend des zweiten Gipfeltages bereits wieder Gastrednerin in Bayern beim CSU-Parteitag. Die EU muss sich entscheiden, ob sie die Politik der kleinen Schritte gehen will, oder ob die Kraft zu einem großen Wurf, zu einer neuen Europäischen Union, reicht.

Im Moment hat die Politik der kleinen Schritte etwas zur Beruhigung der Märkte beigetragen. So falsch können die Maßnahmen also nicht gewesen sein. Damit wurde erst einmal Zeit gewonnen. Doch schon bald könnten grundlegende Entscheidungen anstehen, über die wir weiterhin aus dem Studio Brüssel berichten werden.

Kai Niklasch, ZDF-Studio Brüssel