Susanne Gelhard, Leiterin des ZDF-Studios London
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Ein britisches Sommermärchen
London 2012: Eine Stadt entdeckt sich neu

Es war ein einmaliger Sommer in London: Thronjubiläum, Olympische und Paralympische Spiele. Die größte Show aller Zeiten hatten die Briten versprochen. Und am Ende zeigte die ganze Nation der Welt und sich selbst eine völlig neue Seite: selbstbewusste Gewinner statt höflicher Verlierer.

Um 15 Uhr Ortszeit läuteten am 3. Juni 2012 in London und ganz Großbritannien die Glocken. Es war der Beginn eines Jahrhundertfests. Eine ganze Nation feierte ihre Königin. Mit einer Schiffsparade, so prächtig, wie es sie noch nie auf der Themse gegeben hat, mit zehntausenden Zuschauern an den Ufern und Millionen vor den Fernsehschirmen.

Ganz vorne, auf der königlichen Barkasse: die gesamte »Firma«, wie Prinz Philip sie gerne nennt, die wichtigsten Mitglieder der königlichen Familie inklusive den Glamour-Stars Prinz William und seine Frau Kate. Die Queen hatte trotz Sicherheitsbedenken darauf bestanden, dass alle an ihrer Seite waren.

Da wurde eine Frau geehrt, die sich in 60 Jahren auf dem Thron als derzeit dienstälteste Monarchin der Welt mit ihrer Verlässlichkeit und Berechenbarkeit großen Respekt verschafft hat. Die ihrem Land Stabilität vermittelt, besonders in schweren Zeiten.

Kalter Krieg, der Zerfall des Britischen Empires, Beatles und Minirock, Terroranschläge und Finanzkrise, zwölf britische Premierminister und über 150 ausländische Staats- und Regierungschefs: All das hat sie erlebt. Was auch immer passierte – die Scheidungen ihrer Kinder und jede Menge Skandale: Die Queen hat es durchgestanden.

»Sie ist für uns eine Mutterfigur«, sagte uns Arthur Edwards, der sie seit Jahrzehnten als Fotograf begleitet. »Sie ist auf jeder Münze, auf jedem Geldschein, unsere Schiffe tragen ihren Titel. Die Queen ist wie ein Fels in der Brandung, sie ist allgegenwärtig.«

Nach neuesten Umfragen wollen fast 80 Prozent der Briten Elizabeth II. als ihr Staatsoberhaupt behalten. Auch junge Leute begeistert sie ganz offensichtlich. Für sie ist die Queen ein Vorbild an Disziplin und Pflichterfüllung. Und selbst überzeugte Republikaner meinen, dass sie bei aller Kritik an der Institution Monarchie beeindruckt sind von der Lebensleistung der Queen.

In Dutzenden Beiträgen, einer großen 45-Minuten-Dokumentation und einer 15-minütigen Zusammenfassung am Tag der offiziellen Feierlichkeiten berichtete unser Team vom ZDF-Studio London ausführlich über die Hintergründe, Vorbereitungen und Höhepunkte des Thronjubiläums. Wir sprachen mit Verwandten, Freunden, Zeitzeugen und Experten. Wir ließen begeisterte, aber auch nachdenkliche und kritische Stimmen zu Wort kommen. Wir mischten uns unter die Queen-Fans, um unsere Zuschauer teilhaben zu lassen an diesem fröhlichen, manchmal exzentrischen und sehr britischen Fest.

Vier Tage lang feierte die ganze Nation im Juni 2012 ihre Königin. Und sie feierte damit auch sich selbst. Großbritannien nahm das Jubiläum zum Anlass, um sich mit viel Party und gehörigem Pathos an seine glorreiche Vergangenheit zu erinnern, an die großen Zeiten des die halbe Welt umfassenden Britischen Empire, das Königin Elizabeth II. zu Beginn ihrer Regentschaft im Jahr 1953 noch erlebte.

Das Diamantene Jubiläum war ein Glücksfall für den britischen Premierminister David Cameron, der gehörig unter Druck steht. Seine Regierung kämpft mit den Folgen von Euro- und Finanzkrise und der schlimmsten Rezession seit Jahrzehnten, mit dem Niedergang der britischen Industrie und mit Sparmaßnahmen, die nur schwer zu vermitteln sind. Da hilft ein bisschen Glanz und Glamour, um ganz nebenbei auch das eigene Image aufzupolieren.

Royaler Pomp und Prunk: Ja, sie haben doch so ihre Leidenschaften, die kühlen Briten. Besonders, wenn es um ihre Königin geht und um den Sport. Und somit waren die Olympischen und Paralympischen Spiele in London der zweite große Höhepunkt dieses Sommers, an dessen Ende eine Nation zu bewundern war, die der Welt und sich selbst eine völlig neue Seite zeigte: selbstbewusste Gewinner statt höflicher Verlierer.

Doch zunächst sah alles ganz anders aus. Das großartige olympische Fest, über Jahre vorbereitet und als »größte Show aller Zeiten« angekündigt, drohte im letzten Augenblick zur organisatorischen Katastrophe zu werden. Olympia-Alarm überall: Die Kosten explodierten von drei auf 13 Milliarden Euro. Die Londoner Tube, die älteste U-Bahn der Welt, drohte trotz aller Umbauarbeiten, unter dem Ansturm von elf Millionen Besuchern zu kollabieren. Immer dichtere Staus legten das Zentrum von London völlig lahm. Die Taxifahrer und Busfahrer streikten für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Plötzlich entdeckte die private Security-Firma, die die Spiele sichern sollte, dass ihr Tausende qualifizierte Mitarbeiter fehlten. Und über all dem hing der graue britische Regen.

Als dann kurz vor Eintreffen der ersten Sportler auch noch das Grenzpersonal am Flughafen Heathrow die Arbeit niederlegen wollte, da schienen die Sommerspiele, bevor sie überhaupt begonnen hatten, ins Wasser zu fallen.

»Schluss mit dem Gejammere!«. Mit einem dramatischen Aufruf rief der Londoner Bürgermeister Boris Johnson seine Landsleute zur Ordnung. Und wieder einmal bewies sich das britische Talent, Chaos auf wunderbare Weise zu lichten: mit Einfallsreichtum, Humor und »stiff upper lip«. Die Grenzer sagten ihren Streik ab, Tausende Soldaten sprangen für die Sicherheit ein, viele Londoner flüchteten in den Urlaub und machten Straßen und U-Bahn frei für Touristen und Sportler. Sogar der Regen hörte auf.

Als dann noch die Queen höchstpersönlich bei der Eröffnungsfeier im Olympiastadion am 27. Juli 2012 einen atemberaubenden Auftritt als Bond Girl hinlegte, war endgültig klar: Das werden einmalige Olympische Sommerspiele. Vergessen die Negativschlagzeilen, willkommen im Olympiataumel.

Die Stimmung auf dem Olympiagelände und den anderen Sportstätten stieg mit jedem Tag. Bereits am ersten Wochenende säumten Hunderttausende die Wettkampfstrecken in der Stadt, der britische Sportsgeist steckte alle an. Das Beachvolleyball-Stadion zwischen Downing Street und Buckingham-Palast entwickelte sich zur heißen Partyzone. Beatles-Ikone Paul McCartney jubelte den Sportlern mit »Hey Jude« zu – Seite an Seite mit William und Kate.

Wir vom ZDF-Studio London waren mittendrin. Mit ausführlicher Berichterstattung über das, was nicht nur in den Sportstätten, sondern auch außerhalb stattfand, ergänzten wir die Übertragungen unserer Sportkollegen. Sicherheit und Stimmung, Touristen und Tickets, Organisation in olympischen Zeiten: Das waren unsere Themen in über 100 Beiträgen. Mit einer 30-minütigen Dokumentation »Very British« und einer 30-minütigen Reportage »Hallo London« stimmten wir unsere Zuschauer auf die Olympischen Spiele ein.

Die Stars waren natürlich die Sportler – und die britischen mit an der Spitze. Das Millionen-Förderungsprogramm der britischen Sportförderung zahlte sich aus, Großbritannien erlebte einen wahren Goldregen. Die Zeitungen überschlugen sich mit Jubel-Schlagzeilen und Sonderdrucken. Und Andy Murray, bis dahin ewiger Verlierer bei Wimbledon, gewann dort nun endlich olympisches Gold. Selbst die härtesten Männer brachen vor laufenden Kameras in Tränen aus.

Die britische Klassengesellschaft entdeckte mit den Sommerspielen Multikulti im eigenen Land: den zweifachen Langstrecken-Goldmedaillengewinner Mo Farah, der im Alter von acht Jahren als somalisches Flüchtlingskind ins Land gekommen war, oder die farbige Boxerin Nicole Adams, die am gleichen Tag Gold gewann wie die Dressur-Queen Charlotte Dujardin. Gold überwindet soziale Gräben, jubelte Britannien.

Einmal tief durchatmen – und es folgten die besten Paralympischen Spiele aller Zeiten, wie später nicht nur die Londoner sagten, sondern auch Sportler, Fans und Funktionäre. Es waren Paralympische Spiele der Superlative: Mit 2,7 Millionen Tickets zum ersten Mal ausverkauft, mit Liveübertragungen von nie dagewesenem Ausmaß, auch im ZDF. Der britische Sender Channel 4 stilisierte die Paralympics mit seiner Berichterstattung und einer Werbekampagne zum Kult. »Treffen Sie die Übermenschlichen«, so der Slogan. So mancher Rollstuhlfahrer, der sich täglich mühsam durch London kämpfen muss, konnte da nur hoffen, dass diese Begeisterung auch ihre Auswirkungen auf die Zeit nach den Spielen hat.

»Inspire a Generation« – die Jüngeren inspirieren. Das war Motto und Anliegen dieser Olympischen Spiele. Viele hoffen jetzt, dass die Krise, in der sich das Land befindet, nicht nur für ein paar Wochen weggefeiert wurde, sondern dass der olympische Geist nachhaltig Wirkung zeigt.

So mancher versucht, aus dem olympischen Erfolg politisches Kapital zu schlagen. Boris Johnson zum Beispiel, der Bürgermeister von London, ist zu einem der gefährlichsten Rivalen von Premier David Cameron geworden. Der musste sich auf dem Parteitag der Konservativen im Oktober bereits die guten Ratschläge seines Parteifreundes anhören: »Wir sollten uns die Lektion der Olympischen Spiele zu Herzen nehmen. Den Moment, als wir wiederentdeckten, dass wir ein Land sind, das es kann. Ein kreatives Land voller Zuversicht. So bekommen wir die Goldmedaille der Weltwirtschaft«, meinte Boris Johnson da.

Nach drei Monaten britischem Sommermärchen folgt wieder der schwierige Alltag. Doch vielleicht wird er trotz allem ein bisschen leichter – meinen jedenfalls einige Kommentatoren, beispielsweise der des Independent: »Großbritannien ist jetzt ein besseres, fröhlicheres und selbstbewussteres Land, auch in diesen schweren Zeiten.«

Susanne Gelhard
London im Olympia-Fieber
Das Beachvolleyballstadion an den Royal Horse Guards