Armin Coerper, Leiter des ZDF-Studios Warschau
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Fußball ist unser Leben
Die »EURO 2012« in Polen

Vielleicht schafft das nur König Fußball: Die »EURO 2012« hat Polen neues Selbstbewusstsein gegeben. Beim ersten großen Sportereignis in Zentral-Osteuropa konnte der Gastgeber glänzen und sein Image aufpolieren. Ob das jedoch uralte Wunden und Komplexe nachhaltig heilen kann?

Es ist der 8. Juni 2012, der Tag, auf den Polen fünf Jahre lang hingearbeitet hat. Damals, vor fünf Jahren, hatte die UEFA die »EURO 2012« an Polen und die Ukraine vergeben. Seitdem schaute ganz Europa kritisch auf die beiden Gastgeberländer. Würden die Stadien fertig werden? Bringt Polen endlich seine marode Infrastruktur auf Vordermann? Wird das Land Autobahnen bauen? Und last but not least: Wird nicht die ganze Europameisterschaft beim ersten Fußballfest in Osteuropa im Chaos versinken?

Um es gleich vorwegzunehmen: Das erwartete Chaos blieb aus. An diesem 8. Juni 2012 ist Warschau vor allem voll. 60 000 Gäste aus ganz Europa sind in der Stadt. Die meisten Schulen im Stadtzentrum bleiben geschlossen, die meisten Firmen haben ihren Mitarbeitern frei gegeben. In der Stadt gibt es kaum ein Durchkommen. Seit dem Morgen schieben sich Fußballfans durch die Straßen, mittags ist Warschau in Weiß-Rot getaucht. In Polens Nationalfarben erstrahlt auch das neu gebaute und pünktlich fertiggestellte Stadion: ein Fußballtempel. Die Kosten dafür sind jedoch völlig aus dem Ruder gelaufen: Am Ende kostete der Bau fast 500 Millionen Euro (die vergleichbare Allianz Arena in München kostete 340 Millionen Euro). Er zählt damit zu den teuersten Stadien, die jemals in Europa gebaut wurden. Doch das soll Polen erst nach der Europameisterschaft beschäftigen.

Vor der EM reisen wir, das Team vom ZDF-Studio Warschau, quer durch »unser« Land. Zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen aus Moskau wollen wir einen 60-minütigen Film drehen, der kurz vor Beginn der Europameisterschaft ausgestrahlt werden soll, um den deutschen Zuschauern die beiden Gastgeberländer vorzustellen. Der Film wird »Rendezvous im wilden Osten« heißen: »Polen, Ukraine und das Sommermärchen«. Gemeint ist damit die Verabredung der Gastgeberländer zum Fußball, aber auch das Treffen der Korrespondenten aus Warschau und Moskau am Ende des Films an einem provisorischen Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine.

Für uns liegt in dem Projekt die Chance, in den letzten Wochen vor dem Turnier die Stimmung im ganzen Land aufzuspüren. Denn in Polen verhält es sich ganz ähnlich wie in Deutschland: Warschau, die Hauptstadt, ist gleichzeitig Zentrum des Landes und doch auf eine spezielle Art und Weise im Abseits. Die Menschen hier beschäftigen oft ganz andere Themen als die im Rest des Landes. Vieles, was dort von Bedeutung ist, findet gar keinen Eingang in das Bewusstsein der etwas elitären Hauptstädter.

Unsere Drehreise beginnt im äußersten Westen Polens, im EM-Austragungsort Posen, unweit der deutschen Grenze. Sie führt uns weiter nach Danzig, in eine Stadt, die wie kaum eine andere für die schwierige Geschichte zwischen Deutschen und Polen steht, weiter durch Masuren, das alte Ostpreußen, über Warschau in die Karpaten bis an die Grenze zur Ukraine. Was uns zuerst auffällt: Polen ist bestens auf die EM vorbereitet. Jeder Spielort hat ein neues Flughafenterminal eingeweiht, die Stadien sind fertig (drei von vier wurden komplett neu gebaut). Auch, was die Straßen angeht, hat das Land einen Riesensprung gemacht. Nur ein Beispiel: Vor gar nicht langer Zeit mussten wir für eine Autofahrt von Warschau nach Danzig sieben Stunden kalkulieren, jetzt schaffen wir es in viereinhalb.

Wir nehmen jedoch noch andere Erkenntnisse von unserer Reise mit. Kurz vor der Fußball-Europameisterschaft hat sich die Stimmung in Polen gewandelt. Polen strotzt auf einmal vor Selbstbewusstsein. Jetzt sieht die Mehrheit im Land die EM als Chance, das Image zu ändern, Polen im Rest Europas bekannter zu machen und vielleicht sogar als Reiseland etablieren zu können. Zwei typisch polnische Eigenschaften treten in den Vordergrund und überdecken alle Komplexe: das uralte polnische Talent, Geschäfte zu machen, das den Menschen hier in schweren Zeiten immer geholfen hat, und die legendäre polnische Gastfreundlichkeit. An jedem Spielort sind riesengroße Plakate angebracht »Polen – wir alle sind Gastgeber«. Wer das jemals vergessen sollte, wird flächendeckend daran erinnert. Die Verbindung dieser beiden Eigenschaften manifestiert sich im Wohnungsmarkt: Überall treffen wir Menschen, die ihre Wohnungen räumen und an Fußballfans vermieten wollen. Viele ziehen das gleich im großen Rahmen auf und gründen Vermittlungsagenturen. Die Idee dazu kam wohl auf, nachdem in den Medien von horrenden Hotelpreisen zur EM die Rede war. Diese Behauptung entpuppte sich zwar als Ammenmärchen, denn die Hotelpreise bewegten sich am Ende völlig im Rahmen. Aber egal: Die Geschäftsidee war geboren.

Was uns noch auffiel: Bei diesem Fußballfest rückten die Nachbarn Polen und Deutschland noch enger zusammen. Nachdem man in Polen seit Jahrzehnten unter dem mangelnden Interesse der Deutschen litt, kamen jetzt die Nachbarn in Scharen, und die Mehrheit in Polen sah das positiv. In Danzig fragten wir einen jungen Mann, wie das denn für ihn sei, wenn deutsche Fußballfans mit deutschen Fahnen durch Danzig zögen – durch die Stadt, in der Deutschland den Zweiten Weltkrieg begonnen hatte. »Die anderen werden auch mit Fahnen kommen, warum also sollten die Deutschen das nicht dürfen?«, war die Antwort. »Die Deutschen sollen herkommen, am besten gegen uns spielen, verlieren und dann mit uns feiern.« Dazu kam es am Ende nicht: Im Viertelfinale spielte die deutsche Mannschaft in Danzig gegen Griechenland. Polens Nationalelf war da leider schon aus dem Turnier ausgeschieden, was, und auch das ist bemerkenswert, der Stimmung kaum einen Abbruch tat. Ein Rentner, der den Krieg noch als Kind miterlebt hatte und nun seine Wohnung vermieten wollte, zeigte uns aus dem 14. Stock seines Hochhaus-Apartments die Westerplatte, jene Halbinsel, die die Deutschen am 1. September 1939 angriffen. »Diesmal kommen die doch nur zum Fußball«, meinte der alte Herr auf unsere Nachfrage. »Die schauen sich vielleicht an, wie es hier heute aussieht. Aber die bleiben ja nicht.«

Auch Polens Politik wurde seit Monaten von dem nahenden Fußballereignis dominiert, schließlich galt das Turnier als größte Herausforderung, vor der das Land seit dem Ende des Kommunismus stand. Seit Monaten wurden Streiks und Boykotte angekündigt. So drohten die Taxifahrer am Tag des Eröffnungsspiels in Warschau mit Streik. Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski, bekannt für schrille Töne, kündigte an, die Stadt am Eröffnungstag mit einer Großdemonstration gegen die Rentenreform der Regierung und Kürzungen im Sozialwesen lahmzulegen. Nichts von alledem passierte. Vier Wochen Fußball-EM in Polen hieß am Ende: vier Wochen Schweigen der Politik. Vielleicht war gerade deshalb die Stimmung so ausgelassen, so fröhlich wie kaum jemals zuvor. Endlich einmal Ruhe von all den Grabenkämpfen, von all den Beschimpfungen zwischen Politikern, die dazu führten, dass die Wahlbeteiligung in Polen unter die 50-Prozent-Marke zu sinken drohte. Die einzige Politikerin, die täglich im Fernsehen auftrat, war Joanna Mucha, Polens Sportministerin. Premier Donald Tusk hatte sie extra für die »EURO« ins Amt berufen und machte sie damit zum Gesicht der EM. Der Plan ging auf: Die schöne Ministerin strahlte dem Land und seinen Besuchern tagtäglich aus dem Fernsehen entgegen.

Die Spielorte sahen aus wie Partyzonen. In Warschau feierten bei jedem Spiel der polnischen Mannschaft 100 000 Fans auf der größten Fanmeile dieser EM im Schatten des Kulturpalastes, jenes Kolosses, der 1955 als zweithöchstes Gebäude Europas von Josef Stalin als Monument seiner Macht wie ein Stachel mitten ins Herz der polnischen Hauptstadt gesetzt wurde. Jetzt zeigte hier das junge Polen, dass eine neue Ära für das ganze Land beginnen konnte. Bei jedem Spiel der Polen war die Fanmeile ein Meer in Weiß-Rot. Soziologen erklärten später, dass die junge Generation bei diesem Fußballfest aus dem Schatten der alten getreten sei, dass die Zufriedenen den Unzufriedenen die Flagge des Patriotismus entrissen hätten. Überhaupt zeigte sich hier ein völlig neues Lebensgefühl: Zum ersten Mal gingen die Polen zu Tausenden auf die Straße, um zu feiern und nicht, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Solche Menschenmassen im öffentlichen Raum hatte es bisher nur aus zweierlei Gründen gegeben: entweder, um sich gegen die Sowjetdiktatur zu stemmen, oder, weil die Kirche dazu aufgerufen hatte. Immer wieder wurde in den Medien die Stimmung am Eröffnungstag mit der von 1979 verglichen, als Papst Johannes Paul II, der Pole aus dem Vatikan, zum ersten Mal in die Heimat zurückkehrte. Doch es war mehr als Fußball, was diese Atmosphäre hervorbrachte. Die EM war in Polen ein Erwachen, ein Wendepunkt, an dem die alten Komplexe über Bord geworfen werden konnten, um sich Europa als weltoffen, modern und zutiefst europäisch zu präsentieren.

Für Aufsehen hatte im Vorfeld eine Dokumentation der BBC mit dem Titel »Stadien des Hasses« gesorgt. Darin prangerte der Autor mangelnde Sicherheitsvorkehrungen an, ferner die Gewaltbereitschaft der polnischen Hooligans sowie das antisemitische und fremdenfeindliche Gedankengut der Szene. Ein farbiger britischer Nationalspieler sagte in dem Film, er könne seinen Landsleuten nur raten, nicht zu diesem Turnier zu reisen, man sei in Polen nicht sicher. Auch in deutschen Medien gab es immer wieder Berichte über drohende Ausschreitungen von Hooligans, die es insbesondere auf Deutsche abgesehen hätten. In der Tat gab es Anlass zur Sorge: Immer wieder war es in der polnischen Liga zu Zusammenstößen zwischen Fans der gegeneinander antretenden Clubs gekommen. In Polen wurde die Berichterstattung jedoch als Versuch der anderen Europäer aufgenommen, die EM bereits im Vorfeld schlechtzureden. Entschieden verwahrten sich Premier- und Außenminister gegen die Negativkampagne. Am Ende blieb es ein friedliches Fußballfest, bis auf eine Ausnahme: Als am russischen Nationalfeiertag die Elf aus Russland in Warschau gegen Polen antrat, kam es tatsächlich zu den befürchteten Krawallen. Russische Fans hatten darauf bestanden, ihren Feiertag in der polnischen Hauptstadt zu begehen, und zwar mit einem Marsch zum Stadion. Damit waren die Sicherheitskräfte überfordert. Polnische Hooligans attackierten die Russen, es kam zu zahlreichen Verletzten und Festnahmen. Auch der Fußball konnte über die jahrhundertealte Feindschaft der beiden Länder nicht hinwegtäuschen. An dem Tag zeigte sich, dass Fußball in einem Land wie Polen viel erreichen kann, dass vielleicht kein anderes Ereignis die Menschen so mobilisiert und ihre Herzen erobert. Doch, wo Hass über Generationen weitergegeben wird, ist auch der Fußball machtlos.

Was hat die »EURO 2012« Polen letztendlich gebracht? Definitiv einen Zivilisationssprung, der sich in der Infrastruktur zeigt. Daneben haben die Menschen wenigstens einen Teil der alten Komplexe ablegen können. Vielleicht geht man heute ein bisschen entspannter mit sich und den Nachbarn um, nicht mehr jede Äußerung aus Deutschland wird so streng interpretiert, nicht mehr jede politische Auseinandersetzung wird so verbissen geführt. Wenn das in der polnischen Politik zu einem neuen Stil führt, dann hat Fußball ein Wunder bewirkt. Immerhin zeigte sich an einer der Folgen dieser »EURO« durchaus ein Stück neuer Souveränität: Im Nachgang drohte über 100 Baufirmen die Pleite. Viele waren zum Beispiel den explodierten Kosten beim Bau des Nationalstadions zum Opfer gefallen, da die Bauträger die kleineren Zulieferer nicht bezahlten. Der Auftraggeber für den Bau, die öffentliche Hand, hatte Nachverhandlungen im Preis vertraglich ausgeschlossen. Doch die Regierung handelte schnell und pragmatisch, auch die Opposition verzichtete darauf, die Not der Firmen für ihre Zwecke auszuschlachten. Vielleicht ist Polen, auch in der Politik, an der »EURO« gereift.

Im ZDF-Studio Warschau waren die Monate vor und während der Fußball-Europameisterschaft eine aufregende Zeit: So groß war das Interesse an Berichten aus Polen noch nie. Wenn das Land das Ziel hatte, sich selbst bekannter zu machen, dann ging das, zumindest soweit es uns betrifft, voll auf. Mit drei großen Dokumentationen und Reportagen, die zur besten Sendezeit ausgestrahlt wurden, hatten wir die Chance, den Deutschen Polen näherzubringen. Mit unserer »ZDF. reportage: Warschau feiert Fußball« konnten wir eine Stadt zeigen, die von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde wie keine zweite in Europa und die ihr Fußballfest als Wendepunkt in ihrer Geschichte zelebriert. Mit über 300 Sendeminuten allein im EM-Monat Juni sollte es uns hoffentlich gelungen sein, den deutschen Zuschauern ein neues Polen zu zeigen, ein Land, das seine Geschichte niemals vergisst, doch das mit großem Optimismus in die Zukunft blickt.

Armin Coerper
Das EM-Team um Studioleiter Armin Coerper