Willi Steul, Intendant des Deutschlandradios
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Alleinstellungsmerkmal, Qualität, Kosten
Zur Strategiediskussion im nationalen Hörfunk

5,7 Millionen Menschen nutzen täglich laut Media-Analyse II 2012 im Radio die so genannten »gehobenen Programme«. In der Terminologie der Medienforschung sind dies die Kultur- und Informationsprogramme der öffentlich-rechtlichen Sender. Die drei Programme von Deutschlandradio haben daran einen Anteil von über einem Drittel: Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur und DRadio Wissen werden täglich von zwei Millionen Menschen gehört. Die über das Internet daneben zur zeitunabhängigen Nutzung angebotenen Sendungen werden pro Monat 18 Millionen Mal abgerufen.

Die Orientierung an absoluten Quotenspitzen und das Erreichen eines immer größeren Millionenpublikums ist jedoch kein primäres Ziel von Deutschlandradio. Ziel ist der optimal erfüllte öffentlich-rechtliche Programmauftrag für den nationalen Hörfunk, der damit eine möglichst große Zahl der an anspruchsvollen Angeboten interessierten Menschen erreichen will. Der Programmauftrag ist wesentlich auf den Kern Information, Kultur und Bildung konzentriert. Die Programme richten sich an Menschen, die an Politik und Kultur, an Entwicklungen der Gesellschaft und auch an den Künsten ein ganz besonders ausgeprägtes Interesse haben. In einer Zeit jedoch, in der der öffentlich-rechtliche Rundfunk insgesamt unter einem zunehmenden Legitimationsdruck steht, muss sich auch Deutschlandradio noch akribischer mit der Überprüfung seiner Leistungen und seiner Strukturen befassen, die gegenüber der uns finanzierenden Öffentlichkeit transparent zu begründen sind. Deutschlandradio wird:

Deutschlandradio prüft seine Leistungen in einem Strategieprozess unter den Vorgaben »Alleinstellungsmerkmal, Qualität und Kosten« mit dem zentralen strategischen Ziel, das öffentlich-rechtliche Profil der Programme noch weiter zu stärken. Die Leitlinien für die Prüfung und weitere Verbesserung der Leistungen, vor allem der beiden hörerstarken Programme Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk, lauten:

Beide Programme müssen sich im Konzept und neben den qualitativ ebenfalls hochwertigen Angeboten der Landesrundfunkanstalten der ARD weiterhin durch ihre bundesweite Orientierung profilieren. Sie werden sich aber inhaltlich in den Programmschemata noch stärker voneinander unterscheiden müssen. Wo die Programme bisher angesichts der schlechten UKW-Verbreitung ohne besonderen Bezug zueinander gestaltet werden konnten, wird infolge der digitalen Entwicklung und damit ihrer zunehmend parallel möglichen Nutzung die komplementäre Ausrichtung zueinander notwendig. Dabei können beide Programme ihr eigenständiges Profil schärfen. Es muss ausgeschlossen sein, dass zur gleichen Zeit thematisch gleichartige Sendungen beziehungsweise Genres ausgestrahlt werden und dadurch die interessierte Hörerschaft zu einer Entscheidung für das eine oder andere Programm gezwungen wird.

Konkurrierende, das jeweilige Profil schärfende Angebote aus dem einen Haus Deutschlandradio sind notwendig, angemessen und wünschenswert, sie dürfen mit Ausnahme der Nachrichten und der aktuellen Information jedoch niemals zur selben Zeit gesendet werden. In beiden Programmen sind die herausragenden, für den öffentlichrechtlichen Auftrag besonders wichtigen Bereiche und thematischen Genres unverzichtbar und qualitativ weiter zu verstärken. Dazu gehören die unterschiedlichen Angebote zu Information, Kultur und Bildung, auch in getrennter Herstellung und Verantwortung. So prägen sich in der täglichen Arbeit die jeweils notwendige eigene Anmutung und die hörbar »spezifische Handschrift« aus, die bleibende Programmerfolge erst möglich machen. Zur gleichen Zeit gesendete identische Sendungen können nur in wenigen Ausnahmefällen richtig sein. Dabei müssen beide Programme, Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur, Vollprogramme bleiben. Sie werden beide die »klassischen« Genres wie zum Beispiel anspruchsvolle Musik, auch in eigener Produktion, Hörspiel, Feature, Dokumentationen, Literatur weiterhin enthalten. Sie werden jedoch künftig in einer abgestimmten Programmstrategie stärker aufeinander Bezug nehmen und als Programme des gemeinsamen Absenders Deutschlandradio auch aufeinander verweisen. Dabei werden beide Programme in ihrer inhaltlichen Exzellenz vor allem durch die Kompetenz von ausgewiesenen Fachredaktionen weiter herausragend bleiben, beziehungsweise in ihrer öffentlich-rechtlichen Qualität noch weiter zu stärken sein.

Parallel zu den Programmüberlegungen hat Deutschlandradio mit einer Prüfung der gesamten Kostenstruktur in allen »Service«-Bereichen begonnen. Deutschlandradio muss die Entwicklung der Programme wie auch eine Modernisierung der Onlineaktivitäten durch interne Umschichtungen gestalten. Die Hoffnung auf eine signifikante Verbesserung der Einnahmen ist wenig realistisch. Bereits in den vergangenen Gebührenperioden lagen die Gebührenanpassungen unterhalb des Ausgleichs der Kostensteigerungen. Trotz der Notwendigkeit zum Ausgleich steigender Kosten spricht nichts dafür, dass sich dies ändert. Oder dass beispielsweise der 2,6-Prozent-Anteil von Deutschlandradio an dem bis Ende 2014 fixierten Rundfunkbeitrag von 17,98 Euro pro Monat auf 2,8 Prozent oder 2,9 Prozent steigen könnte. Der Druck auf alle drei Mitglieder der öffentlich-rechtlichen Familie, ARD, ZDF und Deutschlandradio, nimmt wohl eher zu. Und in dieser Familie hat der Kleinste keineswegs den Bonus des Benjamins.

Für die Strategiediskussion im Deutschlandradio ist eine zentrale Vorgabe formuliert, aus der sich Folgerungen ableiten: Der Deutschlandfunk wird in der Nacht ein Wortprogramm senden anstelle des heute weitgehend von klassischer beziehungsweise anspruchsvoller Musik bestimmten Nachtangebots. Derzeit haben die Nutzer gehobener Programme – mit regionalen Ausnahmen – lediglich die Auswahl zwischen dem (klassischen) Musikangebot des gemeinsamen ARD-Nachtprogramms, den weitgehend ebenso gestalteten Programmen von Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur sowie dem gemeinsamen ARD-Infoprogramm. Eine »DLF-Wortnacht«, auch mit der Zweitausstrahlung bereits am Tage verbreiteter Sendungen, bietet den Hörerinnen und Hörern bundesweit eine echte Alternative, und sie erfüllt und verstärkt den öffentlich-rechtlichen Programmauftrag. Eine »DLF-Wortnacht« unterstreicht zudem das vom anspruchsvollen Wort schon heute geprägte Profil des Deutschlandfunks.

Die Konsequenz einer solchen Entscheidung bedarf sorgfältiger Prüfung. Sie betrifft viele Stunden Musik pro Woche: Klassik, Rock, Pop, Blues, Chanson. Ziel der Analyse ist es, unter Betrachtung beider Kernprogramme – und am Rande auch von DRadio Wissen – die Auswirkungen der Veränderung an anderer Stelle und womöglich auch zu Zeiten mit höherem Hörerpotenzial weitgehend zu kompensieren. Dabei soll die bereits existierende »Musik-Handschrift« von Deutschlandfunk, die weiterhin auch Konzerte aufweisen wird, noch deutlicher durch die musikjournalistische Vermittlung ausgeprägt werden, so beispielsweise auch durch das Musik-Feature. Die »Musik-Handschrift« von Deutschlandradio Kultur soll noch deutlicher auch in der konzertanten Wiedergabe optimiert werden.

Dieser Ansatz folgt nicht vorrangig dem Gedanken einer kostensparenden Wiederholung, zugleich können aber Ressourcen für neue Aufgaben frei werden. Entscheidend ist vielmehr, dass wertvolle Programmteile zu einer anderen Sendezeit erneut angeboten werden und potenziell bisherige Nicht-Hörer von Deutschlandradio erreichen können – ein alternatives Angebot für die Menschen, die derzeit nachts im Radio nur zwischen Info und klassischer Musik wählen können. Deutschlandfunk wird mit dieser Strategie sein Profil »anspruchsvolles Wort« weiter unterstreichen. Der Wortanteil, derzeit rund 70 Prozent des Programms, wird noch einmal signifikant steigen können. Gleichzeitig erhöht sich damit auch noch einmal der Anteil der gesendeten »Deutschlandradio-Unikate« und der Eigenproduktionen am gesamten Sendevolumen. Deutschlandradio Kultur, ein modernes Kulturprogramm mit einem umfassenden Kulturbegriff, zu dem auch Politik und Information zählen, zeichnet sich ebenfalls bereits durch einen hohen Wortanteil aus. Es widmet der Musik schon heute einen großen Raum. Deutschlandradio Kultur wird sein Markenzeichen »Kultur« sowohl durch die Ausweitung der konzertant gestalteten Musikflächen als auch durch die Profilierung der einem Kulturprogramm adäquaten Form der Information weiter stärken können.

Beide Kernprogramme werden innerhalb der Flottenstrategie hochwertige Produktionen und künstlerische Leistungen noch mehr berücksichtigen, zum Beispiel Hörspiele, Features, Dokumentationen und große Reportagen. Dies gilt auch für die Orchester und Chöre der ROC GmbH, die von Deutschlandradio zu 40 Prozent mit mehr als 12 Millionen Euro pro Jahr finanziert werden. Vor allem auf den Feldern Kultur und Musik wird Deutschlandradio verstärkt grenzüberschreitende Kooperationen, zum Beispiel mit Radio France, realisieren. Im Bereich der Information gilt es, sich verstärkt mit der Entwicklung in der EU zu befassen. Als notwendige Voraussetzungen dafür wurden Anfang 2012 die Korrespondentenbüros in Berlin und Brüssel unter die Leitung eines Chefkorrespondenten gestellt. Die Weiterentwicklung von Deutschlandradio wird ohne radikale Brüche in komplementärer Profilierung beider Kernprogramme verfolgt. Die Herausforderungen verlangen, die gesamten Leistungen des öffentlich-rechtlich finanzierten Deutschlandradios zu prüfen, qualitativ weiter zu steigern und dennoch die Kosten zu begrenzen. Nur so werden die Programme als unverzichtbar legitimiert.

Willi Steul