Wolfgang Bergmann, Koordinator ARTE
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Neues Programmschema, robuste Akzeptanzentwicklung, enorme Zuwachsraten im Netz und spannende crossmediale Formatentwicklungen: ARTE geht mit neuem Leitungsteam ins dritte Jahrzehnt seiner Sendetätigkeit. Ein Rückblick auf 20 besondere Fernsehjahre von Wolfgang Bergmann, ARTE-Koordinator im ZDF.

Blickt ein Jubilar in eitler Selbstzufriedenheit bloß selig in das Album der Erinnerungen, dann hat er für gewöhnlich den überwiegenden Teil seiner Zukunft hinter sich. Das gilt für Deutsche wie für Franzosen – und erst recht, wenn es sich um ein Medienunternehmen handelt, das im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts (und darüber hinaus) bestehen will. Selbst dann, wenn man sich ARTE nennen darf und damit eine Marke verkörpert, die es in den nunmehr 20 Jahren ihres Bestehens geschafft hat, zum Synonym für Niveau und Weltoffenheit in der europäischen Fernsehlandschaft zu werden. So ist das Senderjubiläum also auch Ansporn, in die Zukunft zu denken.

Wenn wir an dieser Stelle zunächst aber doch den Blick zurück in das Jahr 1992 richten, dann nicht nur, um an die Gründerväter des europäischen Kulturkanals zu erinnern und ihnen zu danken, obwohl es Politiker waren, deren Einflussnahme auf unser Medium wir uns ja für gewöhnlich verbitten. Es lohnt sich auch deshalb, weil 1992, aus heutiger Sicht betrachtet, in der technologischen Steinzeit liegt, aber gleichsam den Beginn einer neuen Ära markiert, die mit der Einführung von ARTE erst einmal gar nichts zu tun hatte.

Anno 1992 – man fasst es heute kaum – ging der Mensch noch ohne Mobiltelefon durchs Leben. Das Internet nutzte nur, wer Wissenschaftler oder Computerfreak der Extraklasse war, und Schriftstücke übermittelte man mit einer quietschendpiependen elektronischen Nudelmaschine, dem Telefax – in seiner Behäbigkeit der unmittelbare Nachfolger der Buschtrommel. Menschen sprachen in öffentlichen Nahverkehrsmitteln noch direkt miteinander, fanden ihren Weg mit dem Auto oder zu Fuß noch intuitiv aus dem Gedächtnis oder konsultierten Landkarten und Stadtpläne.

Wissen wurde in 25-bändigen Folianten gesammelt – Lexikon genannt. Im Kino drehten sich gewaltige Filmrollen aus Zelluloid, und das Fernsehprogramm wurde von großen Magnetbändern abgespielt, noch überwiegend per Funk übertragen und über Antennen empfangen. Wir sprechen vom Beginn der 90er Jahre. Seither haben insbesondere die Einführung der mobilen Kommunikationselektronik und die Internet-Revolution unser Leben so grundlegend verändert wie kaum eine andere technische Innovation in der Geschichte der Menschheit. Und das in knapp 20 Jahren! Und während die ARTE-Gründerinnen und -Gründer darüber sinnierten, ob und wie sich Deutsche und Franzosen in einem gemeinsamen Fernsehprogramm für ein integriertes Europa miteinander arrangieren und sich am Ende noch Zuschauer dafür finden lassen, experimentierte die Medien-Avantgarde auf der Documenta IX bereits mit einer »Piazza virtuale«, die das elektronische Dorf, das »global village« mit der Vernetzung von Telekommunikation, Information und Medienunterhaltung bereits sichtbar werden ließ – für die, die es sehen und verstehen konnten, ein Erweckungserlebnis!

Gegen die Dynamik von GSM-Mobilfunknetz, Internet, Mobile Computing und schließlich den modernen Smartphones und Multimediaportalen nimmt sich das »ambitionierteste Experiment des Jahres«, wie Heinz Ungureit seinen ARTE-Gründungsaufsatz im ZDF-Jahrbuch 1992 titelte, wie ein rührendes Retro-Bauwerk der europäischen Medien-Antike an. Umständlich, verspielt, verliebt in seine Inhalte und von überkommener europäischer Aussöhnungs- und Integrationsromantik geprägt.

Aber ARTE hat eine Erfolgsstory sondergleichen geschrieben und steht heute besser, moderner und angesehener da, als es sich seine Erfinder hätten träumen lassen, obwohl es eigentlich nichts anderes ist als eines unter inzwischen unüberschaubar vielen Fernsehprogrammen in einem bis zum Ende ausgereizten Medienmarkt.

Das Rezept dieser Erfolgsgeschichte ist so simpel wie der Name ARTE gut: auf Qualität setzen in einem sich absehbar verflachenden Markt. Die Glaubwürdigkeit wahren, wo Information zur Ware verkommt. Die Kultur in den Mittelpunkt des europäischen Integrationsgedankens rücken, während sich im Wald der Krise die Sicht auf den europäischen Baum der Erkenntnis zu verlieren droht.

Aus seinem vermutlichen Handicap, nicht »lean« zu sein, nicht zentral organisiert, sondern komplex strukturiert, bilingual und unterschiedlichen Sehgewohnheiten verschieden geprägter Publika verpflichtet, wurde ein »Vorteil ARTE«, der Hoffnung macht – über das Gelingen eines integrierten Fernsehprogramms hinaus. Denn es ist so geblieben, wie es Heinz Ungureit bereits 1992 angekündigt hatte: »Aus Häme und Kulturkampf ist Diskussion geworden«. ARTE bietet dazu Form und Forum. Und es ist vollkommen unstrittig, dass es eines solchen Forums bedarf, wenn wir es mit Europa ernst meinen und die deutsch-französische Achse als Meridian des europäischen Dialogs begreifen.

ARTE hat auch 20 Jahre nach seinem Sendestart keinen Sendeplatz ausgelassen, diesen Dialog auf angemessenem Niveau zu führen, die Probleme Europas beim Namen zu nennen, Perspektiven und Lösungsansätze aufzuzeigen und die kulturelle Vielfalt als das Alleinstellungsmerkmal unseres Kontinents dabei hervorzuheben, anstatt sie zu verwischen.

ARTE tut dies mit seinen europäischen Partnern und kann auf ein weltweites Produzentennetz vertrauen, das für Filme, Dokumentationen und Beiträge aus unterschiedlichsten Blickwinkeln sorgt.

Einem in sich auf internationale Partnerschaft angewiesenen Unternehmen wie ARTE fällt es möglicherweise leichter, sich eher als eine offene Plattform für Meinungen und Vermittlungsforum unterschiedlicher Provenienz zu verstehen, denn als geschlossenes System. Und so ist ARTE schon als einfacher Fernsehsender stets ein Portal gewesen, eine Dachmarke für Qualitätsprodukte aus unterschiedlichen Fernsehsendern, Medienschmieden und Künstlermanufakturen.

Vielleicht fällt ARTE aus dieser Tradition heraus der Schritt ins multimediale Zeitalter daher auch leichter als anderen. Die Marke trägt auch im Netz und wird gesucht – um zu verstehen, um zu reden oder sich bei ARTE kreativ künstlerisch zu artikulieren. Das Eindringen der Nachhaltigkeitsdebatte in die Beurteilung des Mediums Fernsehen und seine Angebote kommt ARTE entgegen und kann uns nur recht sein. Nachhaltigkeit kann man besonders gut an der Nachnutzung herausragender Beiträge in ARTE+7, der Mediathek von ARTE, ablesen. Im Durchschnitt ist sie um einen Faktor fünf intensiver als bei vergleichbaren Sendern! Die Sozialen Netzwerke verbreiten schnell, wenn ARTE etwas Virulentes zeigt – ob eine Dokumentation über Goldman Sachs, die Euro-Krise, die Untiefen der Nahrungsmittelproduktion, vergiftetes Spielzeug oder in die Tiefe gründliche Porträts der amerikanischen Präsidentschaftskandidaten.

Und: ARTE hat viel gelernt in Sachen Leichtigkeit. Wer Kulturfernsehen bislang als bleierne Zeit empfunden hat, der erlebt bei ARTE sein blaues Wunder: Kultur im Fernsehen macht Spaß, kennt viele Formen, spricht unterschiedliche Vorlieben an und verlangt weniger Vorbildung als Neugierde. Gerade deshalb kommt ARTE nachhaltig beim Publikum an. Tanz in 3D, eine Kunst-Masterclass und eine Operninszenierung als Casting-Show, Festspielgroßereignisse von Hochkultur in Salzburg bis Heavy Metal in Wacken, die Erkenntnis, dass Popkultur längst ein Generationen und Ländergrenzen übergreifendes kulturelles Erbe ist sowie die Öffnung des Programms für internationale fiktionale Serien – eines der vielleicht kreativsten Segmente der jüngeren Popkultur – gehören zu den Schrittmachern des neuen ARTE-Programms in einer Medienwelt, die sich unvermindert schnell weiterentwickelt.

Doch zu den in gewisser Weise auch beruhigenden Erkenntnissen aus der ARTE-Geschichte und -Gegenwart gehört, dass analoges Denken auch im digitalen Zeitalter nicht an Wert verliert. Ein stummer Film kann mehr Nachhaltigkeit verbreiten als hohles Rundumgetöse in Dolby total, und bleibende Aufmerksamkeit erreicht man nach wie vor ausschließlich durch gut erzählte Geschichten und das Bewusstsein erweiternde und vertiefende Inhalte. ARTE ist das Fernsehprädikat für dieses Bemühen!

Wolfgang Bergmann
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