Aus einer Dokumentation für die ZDF tivi-Reihe »Stark!« wird eine Langzeitbeobachtung
für »37°«. Die Geschichte von Moritz und
seiner kranken Schwester Luca bewegt nicht
nur die Zuschauer im Kinderfernsehen, sondern
schafft es dank eines Preisregens auch
ins Hauptprogramm. Autorin Simone Grabs
gibt Einblicke in die Entwicklung dieser einfühlsamen
Dokumentation.
Diese Mischung aus Nachdenklichkeit und Lebensfreude
fasziniert mich. Beim ersten Treffen ist
Moritz 14 und eher schüchtern. Eigentlich hat er
keine Lust, seine Geschichte vor der Kamera zu
erzählen. »Ich will nicht, dass die Leute Mitleid
haben.« Seine Schwester Luca ist elf, sitzt im Rollstuhl
und kann nicht mehr sprechen. Sie leidet an
Mukopolysaccharidose, einer tödlichen Stoffwechselkrankheit.
Moritz und ich kicken ein bisschen
vor dem Haus und plaudern. Fußballer will er
werden. Wenn es nicht klappt, vielleicht Arzt. Da
kann man kranken Menschen helfen, zumindest
denen mit einer heilbaren Krankheit.
Darf man im Kinderprogramm einen Dokumentarfilm
über das Sterben zeigen? Diese Frage hat
mich schon beschäftigt, bevor ich im Frühjahr
2007 den Auftrag bekomme. Die Macher der ZDF
tivi-Reihe »Stark! Kinder erzählen ihre Geschichte«
wollen dieses Wagnis eingehen. Und wir sind uns
einig: Die Geschichte soll aus der Perspektive
eines Jugendlichen erzählt werden, dessen Bruder
oder Schwester an einer tödlichen Krankheit
leidet.
Nachdem ich den Auftrag angenommen habe,
erfahre ich, dass ich schwanger bin. Habe ich den
Mut, mich diesem Thema ausgerechnet jetzt zu
widmen? Ich entscheide mich dafür.
»Stark!« ist eine ZDF tivi-Sendereihe, in der Kinder
mit eigenen Worten ihre ganz persönliche Geschichte
erzählen und die am Sonntagvormittag
im KiKA ausgestrahlt wird. Ein sensibles Format
auf Augenhöhe der Protagonisten, das Eva Radlicki,
Leiterin der Redaktion Information/Hauptredaktion
Kinder und Jugend, vor zehn Jahren ins
Leben gerufen hat und das nun von Jens Ripke
mit feinem Gespür für starke Geschichten geführt
wird. Genau das Richtige für die Geschichte von
Moritz und seiner kranken Schwester Luca.
Unser Wunsch: Der Film soll all jenen Geschwistern
Mut machen, die sich in einer ähnlichen Situation
befinden. Der Gedanke kommt an bei
Moritz. Auch bei den Eltern, Rike und Thomas, die
ihrerseits aus der »37°«-Dokumentation »Mira
mein Stern« zu einem ganz ähnlichen Thema
Kraft geschöpft haben.
Und Luca? Sie kann uns leider nicht antworten.
Schon vor Jahren hat sie das Sprechen verlernt.
Wir versuchen in ihren strahlend blauen Augen zu
lesen. Hoffen, so etwas wie Zustimmung zu erkennen.
Lucas hübsches Puppengesicht und die
tödliche Stoffwechselkrankheit Mukopolysaccharidose
– das will mein Kopf nicht zusammenbringen.
Wie lange wird sie noch leben? MPS Typ III A
ist eine genetisch bedingte Stoffwechselkrankheit,
bei der nach und nach die Gehirnzellen absterben
und die Erkrankten mit der Zeit alle Fähigkeiten
verlernen. Die meisten Betroffenen sterben im
Alter zwischen zwölf und 20 Jahren. Da steht die
Frage im Raum: Wie lange wollen wir die Familie
begleiten? Bis zu Lucas Tod? Keiner will sich diesen
Zeitpunkt vorstellen. Und so schauen wir lieber,
wie sich die Dreharbeiten für beide Seiten
anfühlen und entscheiden später, wie lange wir
wiederkommen.
Falls bei mir Schwangerschaftskomplikationen
auftreten oder sich ein Drehtermin rund um die
Geburt aufdrängt, holen wir Imke Meier als Ko-Autorin ins Boot, eine geschätzte Kollegin, die
schon Erfahrung mit Dokumentationen über das
Thema Tod gesammelt hat. Auch Kameramann
Claus Köppinger und Assistentin Yvonne de Fries
bereichern unser Drehbuch mit wertvollen Ideen.
Der erste Drehtag ist ein Herantasten. Moritz liest
Luca aus einem Kinderbuch vor. Die Szene ist
bewegend. Claus Köppinger macht behutsame
Nahaufnahmen, auf denen Lucas Behinderung
kaum sichtbar ist. Moritz streichelt seiner Schwester
über die Wangen, küsst ihre Stirn. Ich traue
mich langsam, auch heikle Fragen zu stellen: Ob
er manchmal an den Tod seiner Schwester denkt?
»Eigentlich nicht, ich will lieber die Zeit mit Luca
noch genießen.« Und ob er sich vorstellt, was
nach dem Tod kommt? An Himmel und Hölle
glaubt er nicht. »Wäre cool, wenn sie ein Engel
wird ...«, sagt er da.
Auch Moritz‘ Eltern beeindrucken uns. Die Liebe
und Geborgenheit, die Rike und Thomas ihren
Kindern geben, ist allgegenwärtig in ihrem gemütlichen,
rollstuhlgerechten Fachwerkhaus. Kein
Wunder, dass Moritz und sein kleiner Bruder
Lennart trotz all der Sorge um Luca zu fröhlichen
Jungen herangewachsen sind. Ja, es gibt immer
wieder Zeiten, in denen sie zu kurz kommen, weil
die Sorge um Luca im Vordergrund steht. Aber sie
verstehen es, und unterm Strich ist alles gut, wie
es ist. »Die Welt ohne meine Schwester wäre nicht
so schön,« sagt Moritz.
Ein paar Wochen später erleben wir Lucas Probleme
mit dem Schlucken. Sie braucht zehn Minuten,
bis sie ein Glas Wasser getrunken hat. Dass
Schlucken eine lebensnotwendige Fähigkeit ist,
wird mir erst jetzt bewusst. Und was es bedeutet,
einem Kind dabei zuzusehen, wie es nach und
nach alles verlernt. So ist die Magensonde das
Thema der nächsten Monate. Einerseits die Sorge
um die Risiken einer Operation und der innere
Widerstand, dass es die erste lebenserhaltende
Maßnahme wäre. Andererseits die Hoffnung, dass
das Leben danach für alle erst einmal wieder
stressfreier wird. So kommt es dann auch, und
Lucas zwölfter Geburtstag wird entsprechend erleichtert
gefeiert. Ein passendes Ende für die
15-minütige »Stark!«-Doku im KiKA drei Monate
nach Drehbeginn. Cutterin Sandra Ventriglia setzt
den Film mit viel Liebe zum Detail zusammen.
Es folgt ein Preisregen, den keiner von uns erwartet
hat: 14 Auszeichnungen im In- und Ausland,
darunter der Deutsche Sozialpreis, der Erich-Kästner-Preis und der Prix Jeunesse. Auch im
ZDF wird man auf den Film aufmerksam. Im Frühjahr
2010 hat Alexander Hesse, Leiter der Redaktion
Geschichte und Gesellschaft, die Idee zu
einer Langzeitbeobachtung in der Sendereihe
»37°«. Eva Radlicki gibt grünes Licht. Sie setzt sich
schon seit Jahren dafür ein, dass die Sendungen
»Stark!« und »37°« bei Kinderthemen zusammenarbeiten
und Synergieeffekte nutzen.
Martina Nothhorn, meine betreuende »37°«-Redakteurin,
interessiert die Situation der Familie
insgesamt und vor allem, wie sich Moritz Verhältnis
zu Luca im Lauf der Pubertät ändert. Ob es
irgendwann zu Brüchen kommt? Ein erwartbares
Szenario. Und tatsächlich: Moritz zieht sich im
letzten Schuljahr so langsam aus der Familie zurück:
Fußball, Freunde, Ausgehen, für’s Abi lernen.
Das ist sein Alltag mit 17. Und er schmiedet Reisepläne,
will ein freiwilliges soziales Jahr im Ausland
machen. »Ich hab Freunde beneidet, die in
den Ferien nach Mallorca fliegen«. Seine Familie
macht Urlaub im Kinderhospiz, weil Luca dort
versorgt wird und die Eltern sich auch mal ausruhen
können.
Thomas und Rike verstehen Moritz. Er soll rausgehen
in die Welt und sich von der Situation zu
Hause nicht ausbremsen lassen. Eltern, wie man
sie sich wünscht. Doch dann zögert Moritz: »Es
wäre kacke, wenn Luca stirbt und ich bin nicht
da.« Die letzten Wochen und Tage will er unbedingt
bei ihr sein. Und er spürt, dass diese Zeit
bald kommen wird. Moritz ist jetzt 18, Luca feiert
gerade ihren 16. Geburtstag.
Ein junger Mann im Spannungsfeld seiner Bedürfnisse.
Ich ziehe den Hut vor Moritz. Er geht seinen
Weg und verliert dennoch seine kranke Schwester
nicht aus den Augen. Nie hadert er mit dem
Schicksal, selten ein Wort der Frustration. Er
nimmt die Dinge, wie sie sind und hört auf die
Stimme seines Herzen.
Ich ziehe den Hut vor der gesamten Familie. Wie
es die Eltern schaffen, jede Verschlechterung von
Lucas Zustand hinzunehmen, ohne verrückt zu
werden. Wie sie sich Kraft geben, statt in Traurigkeit
zu zerfließen. Und wie normal und unbelastet
ihre Beziehung zu den beiden gesunden Kindern
verläuft, denen sie größtmögliche Selbstverwirklichung
zugestehen. So sind die Drehtage für uns
nie Abstieg in ein Leidensdrama, sondern Anleitung
zum gelungenen Familienleben in besonders
schwierigen Umständen.
Für Moritz, Lennart, Rike und Thomas hoffe ich,
dass ihr Wunsch in Erfüllung geht: Luca gehen
lassen können, wenn die Zeit gekommen ist. »Ich
denke, wir sind stark genug, das gemeinsam zu
tragen«, sagt Moritz.
Ich bin dankbar, dass ich Moritz und seine Familie
kennenlernen und durch die Zusammenarbeit
zwischen den Sendungen »Stark!« und »37°« über
diesen langen Zeitraum begleiten durfte. Gerade
in der Phase der eigenen Familiengründung. Sie
haben mir etwas Wichtiges gegeben: Die Zuversicht,
dass es möglich ist, trotz eines harten
Schicksals ein erfülltes Leben führen zu können.