Nur wenige Programme in der deutschen
Fernsehlandschaft konnten vom Pionier
eines Genres zu einem Dauerbrenner werden.
»Terra X« ist diese Erfolgsgeschichte
gelungen. Die Marke wurde zum Vorzeigeformat
der Kulturdokumentationen und hat dem
Genre Dokumentation eine neue Dimension
eröffnet.
19.30 Uhr am Sonntag ist seit 30 Jahren »Terra
X«-Zeit. Der Sendeplatz blieb all die Jahre unverändert,
die Redaktion auch, ihre Leiter haben in
sehr maßvollen Abständen gewechselt. Ohne
Unterlass haben sich Redakteure mit Autoren,
Regisseuren und Produzenten besprochen und
sich Programme für den nächsten Spielplan ausgedacht.
Hunderte Pressemappen wurden erstellt,
fast genauso viele Pressekonferenzen abgehalten,
und regelmäßig wurden zu runden Jubiläen
neue Texte verfasst. Wenn also die entspannte
Routine eine ihrer entscheidenden Herstellungsmerkmale
ist, wie konnte »Terra X« eine derart
dynamische Marke werden? Die erfolgreichste
Dokumentationsreihe im deutschen Fernsehen,
mit einem Publikum, das von allen ZDF-Sendungen
eins der jüngsten ist? Ein paar Antworten
darauf gibt es.
Unsere Geschichte beginnt 1982. Die ersten großen
Ausstellungen deutscher Museen mit Millionen
von Besuchern ließen den Hunger der Deutschen
nach Weltwissen bereits erahnen. Kostspielige
Fernreisen konnten sich damals nur wenige
leisten. Mit der Unterzeile »Expeditionen ins
Unbekannte« brachte »Terra X« plötzlich die Atolle
der Südsee, die Anden oder die großen Wüsten
der Erde direkt ins Wohnzimmer. Am 17. Januar
1982 erreichte der Film »Südseeinseln aus Götterhand« 30 Prozent Marktanteil und unfassbare elf
Millionen Zuschauer. Abenteuerliche Reisen zu
Terra Incognita, zu versunkenen Kulturen und den
Wurzeln der Menschheitsgeschichte waren ab
sofort als Erfolgsformel identifiziert. Das war ein
Jahr nach »Wetten, dass ..?« und zwei Jahre,
bevor das Privatfernsehen seine erste Sendeminute
ausstrahlte.
Die Karriere von »Terra X« ist ein gutes Beispiel
dafür, wie im schnelllebigen Medium Fernsehen
kluge Entschleunigung der Königsweg sein kann.
Sendeplatzwechsel sind nicht immer die beste
Strategie. Bei »Terra X« haben die ZDF-Programmdirektoren
dieser Versuchung stets widerstanden.
Durch seinen verlässlichen Sendeplatz am Sonntag
um 19.30 Uhr hat sich »Terra X« wie der
»Tatort« zu einer Marke entwickeln können, die in
Deutschland einen extrem hohen Bekanntheitsgrad
aufweist. Eigentlich haben wir in all der Zeit
nur eine wesentliche Neuerung durchgeführt, als
wir 2008 den Sendeplatz einheitlich in die Dachmarke
»Terra X« umbenannten. Vorher waren dort
Reihen wie »Schliemanns Erben«, »Sphinx« oder
»Tauchfahrt in die Vergangenheit« angesiedelt. Die
wiedererkennbare Identität einer Fernsehmarke
wird künftig angesichts konkurrierender Plattformen
noch entscheidender sein als je zuvor.
Dazu gehört, dass eine Marke wie »Terra X« immer
wieder das so genannte positive Vorurteil, also
unverminderte Qualität, erfüllen muss. Für uns war
wichtig, dass wir konzentriert und unaufgeregt
unserer journalistischen Arbeit nachgehen konnten,
ohne dass uns branchentypische Eitelkeiten
oder Störfeuer von außen behinderten. Show und
Fiktion stehen wesentlich mehr im Rampenlicht
von TV-Stars, Produzenten und Fernsehkritikern,
womit der eigentlichen Programmarbeit nicht
immer gedient ist.
Die Erwartungshaltung der Zuschauer an »Terra X«
haben wir mit der Zeit immer besser verstanden.
Die Unterschiedlichkeit unserer Reihen aus Geschichte,
Naturwissenschaft, Archäologie, Wildlife
und Kulturgeschichte lässt sich dennoch in einem
Begriff vereinen, dessen altertümlichen Charme
ich buchstäblich genieße: Bildung. Wenn wir unsere
Filme Bildungsdokumentationen nennen,
sind Fernsehkritiker der jüngeren Generation und
Freunde des Privatfernsehens oft fassungslos. Bei
allem Edutainment und Living History und Factual
Entertainment trifft Bildung den Sachverhalt allerdings
im Kern, da sowohl die älteren als auch die
jüngeren Zuschauer aus unseren Dokumentationen
aktives Wissen beziehen wollen. Bei »Terra
X« suchen sie nicht Alltagswissen, das in trendigen
Magazinsendungen aufblitzt, nicht Tagesgeschehnisse,
die zu Nachrichtenfilmen gerinnen,
sondern hier geht es ihnen um von Moden unabhängige,
nachhaltige Erkenntnis. Die Neugierde
und der Wissenshunger der Zuschauer als ein
virulenter Einschaltimpuls werden von uns Fernsehmachern
unterschätzt. Wir lassen uns gelegentlich
von Medienforschungs- und Programmschemafragen
ablenken, statt wirklich zu begreifen,
dass eine Mehrheit von Zuschauern den
Fernseher einschaltet, um etwas zu lernen. Klar
wollen sie gedanklich und auch mit dem Herzen
bei »Terra X« mitreisen, spielen Eskapismus und
Abenteuerlust mit hinein. Doch entscheidender ist
ihre Wissbegier, das haben wir immer wieder beobachtet.
Sonst wäre der große Erfolg lexikalisch
aufgebauter Bildungsmehrteiler wie »Die Deutschen« (zehn Folgen, 2008) oder Kerkelings »Unterwegs
in der Weltgeschichte« (sechs Folgen,
2011) insbesondere bei den unter 50-Jährigen
nicht zu erklären.
Dabei haben unsere Themen in der Regel einen
internationalen Zugriff. Das rückt uns in die Nähe
von Partnern wie der BBC in England und National
Geographic Television in den USA, die ein ähnliches
Konzept verfolgen: wissenschaftliche Sachverhalte
zu großen, erkennbar aufwändigen Programmen
machen, die eine gemeinsame internationale
Sprache sprechen und über nationale
Kulturgrenzen hinaus funktionieren. Wir sind auf
einem globalen Markt unterwegs, anders als der
deutsche Fernsehfilm, dessen Geschichten in
Deutschland spielen und der selten Koproduktionspartner
sucht. »Terra X« platziert seit rund zehn
Jahren eigene Projekte bei internationalen Partnern.
Unser auffälligstes Programm war vor fünf
Jahren »2057 Die Welt in 50 Jahren« über die
Gesellschaft der Zukunft. Der Dreiteiler spielte in
Paris, New York und China. Die Hälfte des Budgets
stammte von internationalen Partnern, vornehmlich
vom Discovery Channel US. Doch nicht
nur das wertvolle Koproduktionsgeld kommt uns
bei solchen Projekten zugute, sondern auch der
kreative Austausch mit Machern aus England,
Frankreich und Amerika, der immer wieder neue
Programminhalte und Gestaltungsformen entstehen
lässt.
Mitte der 90er Jahre begann die Epoche der Inszenierungen,
besonders bei den Geschichtsreihen.
Die so genannten Re-Enactments (englisch
für »wiederaufführen«), also die Rekonstruktion
historischer Ereignisse mit Hilfe von Darstellern,
reichten von ersten, tastenden Versuchen mit kostümierten
Statisten bis zu durchkomponierten
Szenen mit Dialogen, die von professionellen
Schauspielern gesprochen werden.
Zugleich griff der Computer ein. Nicht nur im Kino,
sondern auch im Fernsehen wurde es bezahlbar,
untergegangene Schauplätze der Geschichte
wieder auferstehen zu lassen. 1998 hatte die BBC
mit ihrem weltweiten Megaerfolg »Walking with
Dinosaurs« den neuen Maßstab gesetzt: die Geschichte
der Dinosaurier, komplett animiert. Vier
Jahre später nutzten wir die neue Technik, um die
Geschichte der germanischen Völkerwanderung
realistisch zu erzählen (»Sturm über Europa«).
Erstmals konnten große Menschenmassen über
CGI (Computer Generated Imagery) dargestellt
werden.
Die neue opulente Bilderwelt von »Terra X« wurde
von der professionellen Fernsehkritik nicht immer
freundlich aufgenommen und war anfangs auch
für manche Fachgelehrte ein Stein des Anstoßes.
Denn inszenierte Vergangenheit, erst recht, wenn
sie weit zurück liegt, behält bei allem Bemühen
um historische Detailtreue immer etwas Spekulatives,
weil man es eben nicht genauer weiß.
Dennoch: Die Inszenierungen öffnen dem Medium
(und den Zuschauern) das weite Feld der
Geschichte, einen Raum, der eigentlich unsichtbar
ist. Ohne diese Filmsprache junge Zuschauer
für Bildungsinhalte gewinnen zu wollen, wäre naiv
und ist nicht mehr verhandelbar. Vom Drehbuchentwurf
bis zum Sendetext können wir uns dabei
auf Experten verlassen. Viele namhafte Wissenschaftler
verschiedenster Fachrichtungen arbeiten
inzwischen mit uns zusammen, auch sie verstehen
sich zunehmend als Kommunikatoren von
Wissenschaft.
Insgesamt gilt, dass sich »Terra X« auch über den
Einsatz aufwändiger filmischer Mittel definiert und
neue Technologien immer nutzen wollte. Als erstes
ZDF-Informationsformat setzten wir ab 1998
konsequent auf das 16:9-Format damals eine
mutige Entscheidung, heute sind wir über den
immer noch einsetzbaren Repertoirewert der frühen
Filme froh. Unser »Michelangelo«-Film 2006
war die erste Dokumentation in HD, dann kamen
in »Deutschland von oben« Aufnahmen mit
wackelfreier Helikopterkamera oder in »Schneller
als das Auge« neueste Kameratechnologie in
Form der Extremzeitlupe. Obwohl die Weiterentwicklung
von computeranimierten Bildern und
neuen Kameraoptiken die Grenzen des Machbaren
immer häufiger aufhebt, haben wir doch
stets die Erfahrung gemacht, dass alle technologische
Revolution ohne überzeugendes Storytelling
und interessante Themen wertlos ist.
Die Reise von »Terra X« wurde zunehmend von
Gastmoderatoren begleitet, die dem Format überraschende
Perspektiven eröffnet haben. Es begann
in den 90er Jahren mit Hajo Friedrichs und
der »Wunderbaren Welt« und wurde fortgesetzt
mit dem einmaligen Maximilian Schell und den
»Imperien«. Der Astronaut Thomas Reiter moderierte
die BBC/ZDF-Koproduktion »Expedition
Erde«, Frank Schätzing das »Universum der Ozeane«, Sebastian Koch die »Superbauten« und
Hape Kerkeling die »Weltgeschichte«. Letzterer
hat dem Format eine augenzwinkernde Note verpasst
– es ging gut aus, so jung war unser Publikum
noch nie. Wiederholungstäter bei »Terra X«
sind der Astrophysiker Harald Lesch, Dirk Steffens
und Andreas Kieling, der mit seinen »Expeditionen
zu den Letzten ihrer Art« sicher einzigartig unter
den deutschen Tierfilmern ist.
Die Zuschauer haben »Terra X« auf dem gemeinsamen
Weg aber auch verändert, was wir extrem
interessant finden. Während sie noch vor einigen
Jahren gewagtere Zugänge wie Ironie nicht goutierten,
weil sie »Terra X« mit dem gebührenden
Ernst behandelt sehen wollten, nehmen sie jetzt
auch die progressiveren Formate an. Sebastian
Kochs hintersinnige Präsentation der Dresdner
Frauenkirche und des Kölner Doms oder die irrwitzige
Technikreihe »Schneller als das Auge« sind
gute Beispiele dafür. Damit erweitert sich der kreative
Spielraum für uns Macher, und »Terra X«
kann zeitgemäß und frisch bleiben. Es wird unsere
wesentliche Aufgabe bleiben, das Bekannte aus
einem neuen, überraschenden Blickwinkel zu
sehen.
30 Jahre sind ein stolzes Alter für ein Programm.
»Terra X« ist längst ein Stück deutsche Fernsehgeschichte
geworden. So sehr wir Verantwortlichen
uns auch mit den Macharten und den Erfolgsfaktoren
von »Terra X« beschäftigen, ist uns dennoch
bewusst, dass sich der Jubilar ein Restgeheimnis
bewahrt hat. Das wollen wir nicht entschlüsseln,
selbst wenn wir es könnten. Beste Voraussetzungen,
um mindestens 50 Jahre alt zu werden.