Peter Arens, Leiter der Hauptredaktion Kultur und Wissenschaft/Redaktionsleiter der Sendung »Terra X«
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Nur wenige Programme in der deutschen Fernsehlandschaft konnten vom Pionier eines Genres zu einem Dauerbrenner werden. »Terra X« ist diese Erfolgsgeschichte gelungen. Die Marke wurde zum Vorzeigeformat der Kulturdokumentationen und hat dem Genre Dokumentation eine neue Dimension eröffnet.

19.30 Uhr am Sonntag ist seit 30 Jahren »Terra X«-Zeit. Der Sendeplatz blieb all die Jahre unverändert, die Redaktion auch, ihre Leiter haben in sehr maßvollen Abständen gewechselt. Ohne Unterlass haben sich Redakteure mit Autoren, Regisseuren und Produzenten besprochen und sich Programme für den nächsten Spielplan ausgedacht. Hunderte Pressemappen wurden erstellt, fast genauso viele Pressekonferenzen abgehalten, und regelmäßig wurden zu runden Jubiläen neue Texte verfasst. Wenn also die entspannte Routine eine ihrer entscheidenden Herstellungsmerkmale ist, wie konnte »Terra X« eine derart dynamische Marke werden? Die erfolgreichste Dokumentationsreihe im deutschen Fernsehen, mit einem Publikum, das von allen ZDF-Sendungen eins der jüngsten ist? Ein paar Antworten darauf gibt es.

Unsere Geschichte beginnt 1982. Die ersten großen Ausstellungen deutscher Museen mit Millionen von Besuchern ließen den Hunger der Deutschen nach Weltwissen bereits erahnen. Kostspielige Fernreisen konnten sich damals nur wenige leisten. Mit der Unterzeile »Expeditionen ins Unbekannte« brachte »Terra X« plötzlich die Atolle der Südsee, die Anden oder die großen Wüsten der Erde direkt ins Wohnzimmer. Am 17. Januar 1982 erreichte der Film »Südseeinseln aus Götterhand« 30 Prozent Marktanteil und unfassbare elf Millionen Zuschauer. Abenteuerliche Reisen zu Terra Incognita, zu versunkenen Kulturen und den Wurzeln der Menschheitsgeschichte waren ab sofort als Erfolgsformel identifiziert. Das war ein Jahr nach »Wetten, dass ..?« und zwei Jahre, bevor das Privatfernsehen seine erste Sendeminute ausstrahlte.

Die Karriere von »Terra X« ist ein gutes Beispiel dafür, wie im schnelllebigen Medium Fernsehen kluge Entschleunigung der Königsweg sein kann. Sendeplatzwechsel sind nicht immer die beste Strategie. Bei »Terra X« haben die ZDF-Programmdirektoren dieser Versuchung stets widerstanden. Durch seinen verlässlichen Sendeplatz am Sonntag um 19.30 Uhr hat sich »Terra X« – wie der »Tatort« – zu einer Marke entwickeln können, die in Deutschland einen extrem hohen Bekanntheitsgrad aufweist. Eigentlich haben wir in all der Zeit nur eine wesentliche Neuerung durchgeführt, als wir 2008 den Sendeplatz einheitlich in die Dachmarke »Terra X« umbenannten. Vorher waren dort Reihen wie »Schliemanns Erben«, »Sphinx« oder »Tauchfahrt in die Vergangenheit« angesiedelt. Die wiedererkennbare Identität einer Fernsehmarke wird künftig angesichts konkurrierender Plattformen noch entscheidender sein als je zuvor.

Dazu gehört, dass eine Marke wie »Terra X« immer wieder das so genannte positive Vorurteil, also unverminderte Qualität, erfüllen muss. Für uns war wichtig, dass wir konzentriert und unaufgeregt unserer journalistischen Arbeit nachgehen konnten, ohne dass uns branchentypische Eitelkeiten oder Störfeuer von außen behinderten. Show und Fiktion stehen wesentlich mehr im Rampenlicht von TV-Stars, Produzenten und Fernsehkritikern, womit der eigentlichen Programmarbeit nicht immer gedient ist.

Die Erwartungshaltung der Zuschauer an »Terra X« haben wir mit der Zeit immer besser verstanden. Die Unterschiedlichkeit unserer Reihen aus Geschichte, Naturwissenschaft, Archäologie, Wildlife und Kulturgeschichte lässt sich dennoch in einem Begriff vereinen, dessen altertümlichen Charme ich buchstäblich genieße: Bildung. Wenn wir unsere Filme Bildungsdokumentationen nennen, sind Fernsehkritiker der jüngeren Generation und Freunde des Privatfernsehens oft fassungslos. Bei allem Edutainment und Living History und Factual Entertainment trifft Bildung den Sachverhalt allerdings im Kern, da sowohl die älteren als auch die jüngeren Zuschauer aus unseren Dokumentationen aktives Wissen beziehen wollen. Bei »Terra X« suchen sie nicht Alltagswissen, das in trendigen Magazinsendungen aufblitzt, nicht Tagesgeschehnisse, die zu Nachrichtenfilmen gerinnen, sondern hier geht es ihnen um von Moden unabhängige, nachhaltige Erkenntnis. Die Neugierde und der Wissenshunger der Zuschauer als ein virulenter Einschaltimpuls werden von uns Fernsehmachern unterschätzt. Wir lassen uns gelegentlich von Medienforschungs- und Programmschemafragen ablenken, statt wirklich zu begreifen, dass eine Mehrheit von Zuschauern den Fernseher einschaltet, um etwas zu lernen. Klar wollen sie gedanklich und auch mit dem Herzen bei »Terra X« mitreisen, spielen Eskapismus und Abenteuerlust mit hinein. Doch entscheidender ist ihre Wissbegier, das haben wir immer wieder beobachtet. Sonst wäre der große Erfolg lexikalisch aufgebauter Bildungsmehrteiler wie »Die Deutschen« (zehn Folgen, 2008) oder Kerkelings »Unterwegs in der Weltgeschichte« (sechs Folgen, 2011) insbesondere bei den unter 50-Jährigen nicht zu erklären.

Dabei haben unsere Themen in der Regel einen internationalen Zugriff. Das rückt uns in die Nähe von Partnern wie der BBC in England und National Geographic Television in den USA, die ein ähnliches Konzept verfolgen: wissenschaftliche Sachverhalte zu großen, erkennbar aufwändigen Programmen machen, die eine gemeinsame internationale Sprache sprechen und über nationale Kulturgrenzen hinaus funktionieren. Wir sind auf einem globalen Markt unterwegs, anders als der deutsche Fernsehfilm, dessen Geschichten in Deutschland spielen und der selten Koproduktionspartner sucht. »Terra X« platziert seit rund zehn Jahren eigene Projekte bei internationalen Partnern. Unser auffälligstes Programm war vor fünf Jahren »2057 – Die Welt in 50 Jahren« über die Gesellschaft der Zukunft. Der Dreiteiler spielte in Paris, New York und China. Die Hälfte des Budgets stammte von internationalen Partnern, vornehmlich vom Discovery Channel US. Doch nicht nur das wertvolle Koproduktionsgeld kommt uns bei solchen Projekten zugute, sondern auch der kreative Austausch mit Machern aus England, Frankreich und Amerika, der immer wieder neue Programminhalte und Gestaltungsformen entstehen lässt.

Mitte der 90er Jahre begann die Epoche der Inszenierungen, besonders bei den Geschichtsreihen. Die so genannten Re-Enactments (englisch für »wiederaufführen«), also die Rekonstruktion historischer Ereignisse mit Hilfe von Darstellern, reichten von ersten, tastenden Versuchen mit kostümierten Statisten bis zu durchkomponierten Szenen mit Dialogen, die von professionellen Schauspielern gesprochen werden.

Zugleich griff der Computer ein. Nicht nur im Kino, sondern auch im Fernsehen wurde es bezahlbar, untergegangene Schauplätze der Geschichte wieder auferstehen zu lassen. 1998 hatte die BBC mit ihrem weltweiten Megaerfolg »Walking with Dinosaurs« den neuen Maßstab gesetzt: die Geschichte der Dinosaurier, komplett animiert. Vier Jahre später nutzten wir die neue Technik, um die Geschichte der germanischen Völkerwanderung realistisch zu erzählen (»Sturm über Europa«). Erstmals konnten große Menschenmassen über CGI (Computer Generated Imagery) dargestellt werden.

Die neue opulente Bilderwelt von »Terra X« wurde von der professionellen Fernsehkritik nicht immer freundlich aufgenommen und war anfangs auch für manche Fachgelehrte ein Stein des Anstoßes. Denn inszenierte Vergangenheit, erst recht, wenn sie weit zurück liegt, behält bei allem Bemühen um historische Detailtreue immer etwas Spekulatives, weil man es eben nicht genauer weiß.

Dennoch: Die Inszenierungen öffnen dem Medium (und den Zuschauern) das weite Feld der Geschichte, einen Raum, der eigentlich unsichtbar ist. Ohne diese Filmsprache junge Zuschauer für Bildungsinhalte gewinnen zu wollen, wäre naiv und ist nicht mehr verhandelbar. Vom Drehbuchentwurf bis zum Sendetext können wir uns dabei auf Experten verlassen. Viele namhafte Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen arbeiten inzwischen mit uns zusammen, auch sie verstehen sich zunehmend als Kommunikatoren von Wissenschaft.

Insgesamt gilt, dass sich »Terra X« auch über den Einsatz aufwändiger filmischer Mittel definiert und neue Technologien immer nutzen wollte. Als erstes ZDF-Informationsformat setzten wir ab 1998 konsequent auf das 16:9-Format – damals eine mutige Entscheidung, heute sind wir über den immer noch einsetzbaren Repertoirewert der frühen Filme froh. Unser »Michelangelo«-Film 2006 war die erste Dokumentation in HD, dann kamen in »Deutschland von oben« Aufnahmen mit wackelfreier Helikopterkamera oder in »Schneller als das Auge« neueste Kameratechnologie in Form der Extremzeitlupe. Obwohl die Weiterentwicklung von computeranimierten Bildern und neuen Kameraoptiken die Grenzen des Machbaren immer häufiger aufhebt, haben wir doch stets die Erfahrung gemacht, dass alle technologische Revolution ohne überzeugendes Storytelling und interessante Themen wertlos ist.

Die Reise von »Terra X« wurde zunehmend von Gastmoderatoren begleitet, die dem Format überraschende Perspektiven eröffnet haben. Es begann in den 90er Jahren mit Hajo Friedrichs und der »Wunderbaren Welt« und wurde fortgesetzt mit dem einmaligen Maximilian Schell und den »Imperien«. Der Astronaut Thomas Reiter moderierte die BBC/ZDF-Koproduktion »Expedition Erde«, Frank Schätzing das »Universum der Ozeane«, Sebastian Koch die »Superbauten« und Hape Kerkeling die »Weltgeschichte«. Letzterer hat dem Format eine augenzwinkernde Note verpasst – es ging gut aus, so jung war unser Publikum noch nie. Wiederholungstäter bei »Terra X« sind der Astrophysiker Harald Lesch, Dirk Steffens und Andreas Kieling, der mit seinen »Expeditionen zu den Letzten ihrer Art« sicher einzigartig unter den deutschen Tierfilmern ist.

Die Zuschauer haben »Terra X« auf dem gemeinsamen Weg aber auch verändert, was wir extrem interessant finden. Während sie noch vor einigen Jahren gewagtere Zugänge wie Ironie nicht goutierten, weil sie »Terra X« mit dem gebührenden Ernst behandelt sehen wollten, nehmen sie jetzt auch die progressiveren Formate an. Sebastian Kochs hintersinnige Präsentation der Dresdner Frauenkirche und des Kölner Doms oder die irrwitzige Technikreihe »Schneller als das Auge« sind gute Beispiele dafür. Damit erweitert sich der kreative Spielraum für uns Macher, und »Terra X« kann zeitgemäß und frisch bleiben. Es wird unsere wesentliche Aufgabe bleiben, das Bekannte aus einem neuen, überraschenden Blickwinkel zu sehen.

30 Jahre sind ein stolzes Alter für ein Programm. »Terra X« ist längst ein Stück deutsche Fernsehgeschichte geworden. So sehr wir Verantwortlichen uns auch mit den Macharten und den Erfolgsfaktoren von »Terra X« beschäftigen, ist uns dennoch bewusst, dass sich der Jubilar ein Restgeheimnis bewahrt hat. Das wollen wir nicht entschlüsseln, selbst wenn wir es könnten. Beste Voraussetzungen, um mindestens 50 Jahre alt zu werden.

Peter Arens
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