Claudia Tronnier, Leiterin der Redaktion Das kleine Fernsehspiel
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Wir leben in digitalen Zeiten. Wir arbeiten, spielen und konsumieren online, wir informieren und verlieben uns im Netz, geben unsere Identität preis und inszenieren sie neu. Doch unsere Körper bleiben analog – offline –, sind angreifbar und vergänglich. Wir leben mit analogen Körpern in digitalen Zeiten. Dieses Spannungsverhältnis hat uns interessiert, als wir am 15. Juni 2009 unsere erste Online-Ausschreibung zum Thema »Bodybits – Analoge Körper in digitalen Zeiten« starteten. Für eine Nachwuchsredaktion, die immer wieder nach neuen Talenten sucht, um mit ihnen Impulse für das Programm zu setzen, ist das Internet eine besondere Herausforderung. Gerade junge Regisseure und User bewegen sich mit großer Selbstverständlichkeit in den neuen Netzwelten. Hier können wir sie ansprechen, mit ihnen kommunizieren und sie am Programm teilhaben lassen.

Bereichsübergreifendes Arbeiten
Es brauchte viele Partner, um eine Online-Projektausschreibung – die erste im ZDF überhaupt – auf die Beine zu stellen und auf mehreren Plattformen stattfinden zu lassen, im Internet, im Fernsehen und auf Veranstaltungen. Deshalb tauschten wir uns als erstes mit der Hauptredaktion Neue Medien/ Zentralredaktion aus, mit der wir bereits seit mehreren Jahren durch so genannte Schnittstellen-Redakteure eng verbunden sind. Als weiteren Partner haben wir das Haus der Kulturen der Welt in Berlin gewonnen. Dort interessierte man sich für das künstlerisch und wissenschaftlich noch kaum erforschte Spannungsverhältnis zwischen analoger und digitaler Welt und kündigten eine Veranstaltungsreihe zu diesem Thema mit namhaften Wissenschaftlern an, darunter der Soziologe Richard Sennett und der Hirnforscher Dr. Gerald Hüther. Diese Experten sollten den Gewinnern der Ausschreibung auch als Projektpaten zur Seite stehen.

Die Ausschreibung
Die »Bodybits«-Ausschreibung war nach »Absolute Beginner – Der erste Job« (2002) und »Agenda 2020 – Wie werden wir leben?« (2006) die dritte Ausschreibung der Nachwuchsredaktion. Gleichzeitig war es die erste, die im Internet stattfand und für alle User die Möglichkeit der Beteiligung bot. Mit einem netzaffinen Thema wollten wir Nachwuchsautoren und -regisseure dazu anregen, sich filmisch damit auseinanderzusetzen, wie das Internet unser Leben verändert. Deshalb veröffentlichten wir die Ausschreibung online in der ZDFmediathek und über unsere Facebook-Seite. Das Besondere daran: Wir haben dafür die Blackbox geöffnet und den Produktionsprozess von der Einreichung über die Auswahl der Projekte bis hin zu den Dreharbeiten auf unserer interaktiven Bodybits-Plattform sichtbar gemacht. Jeder konnte unter bodybits.zdf.de nachvollziehen, wie Entscheidungsprozesse in unserer Redaktion ablaufen und die Ausschreibung in ihren einzelnen Bestandteilen verfolgen.

Wir suchten nach audiovisuellen Vorschlägen für mittellange Filme, die formal überraschen und phantasievoll mit den Möglichkeiten der neuen Medien umgehen. Innerhalb von drei Monaten erreichten uns 120 Bewerbungen auf hohem Niveau.

Zusammen mit den Usern suchten wir 25 Favoriten aus, denen wir weitere Fragen zu ihren Projekten auf dem eigens dafür entwickelten Onlinetool stellten. Die Filmemacher antworteten in Videobotschaften, und im Dezember 2009 standen die Gewinner fest. Erstmals hat die Redaktion eine partizipative Ausschreibung im Netz genutzt, um glaubwürdige Beiträge aus der Netzwelt zu generieren.

Wir gaben fünf Filme in Auftrag, darunter einen Sonderpreis an den User-Favoriten »Login 2 Life«, der sich mit neuen Möglichkeiten der Kommunikation und Bewegungsfreiheit, unter anderem für körperlich Behinderte, im Web 2.0 auseinandersetzt. »Egal was ich tue, sie lieben es« begleitet einige der bekanntesten YouTuber in Deutschland, die über die Onlineplattform ihren Lebensunterhalt verdienen wollen. »Alice 5.0« ist eine Dystopie über einen Blogger und seinen Marktwert, »Pixelschatten« thematisiert die Rolle von Sozialen Netzwerken für jugendliche Cliquen und »Schwerelos« den Traum einer Raumfahrttechnikerin, ins Weltall zu fliegen und Geschlechtergrenzen aufzulösen – ein komplementärer Seitenblick auf das Thema. Die eigene Identität zu verändern, die Beschränkungen des Körpers aufzulösen und Grenzen zu überwinden, all diese uralten Träume scheint das Internet wahrzumachen. Die meisten Projektvorschläge zeigten einen positiven Blick auf die Chancen der Digitalisierung, ohne Gefahren, Widersprüche und Kollisionen zwischen digitaler und analoger Realität auszusparen. Auch formal spielten sie mit den Mitteln des Internets wie Blogs, Chats und den Räumen des Second Life und wandten sich damit deutlich an ein jüngeres Publikum.

Nachdem wir die Nutzer an der Auswahl der Filme beteiligt hatten, ließen wir sie auch am Entstehungsprozess der Filme teilhaben. Wir luden Making-ofs, VLogs, Texte, Gespräche mit den Paten und eigens für Online gedrehtes Material in das Onlinetool hoch.

Die Auswertung
Vom 28. März bis 1. April 2011 feierten die fertiggestellten Filme Weltpremiere im Haus der Kulturen der Welt – die Filmemacher, Filmteams, Projektpaten und Redakteure waren anwesend. Im Anschluss an die Filmpremieren fanden Podiumsgespräche zu den Themen der Filme statt – ein einzigartiger Dialog zwischen Wissenschaft, Netzwelt und Fernsehen. Die TV-Premieren starteten im Mai 2011 mit dem Dokumentarfilm »Egal was ich tue, sie lieben es«. Der Film über Deutschlands erfolgreichste YouTuber wurde als erster ZDF-Film komplett bei YouTube eingestellt und war mit mehr als 180 000 Abrufen erfolgreich. Alle Filme waren auch in der ZDFmediathek abrufbar. Besonders die Filme, die den Umgang junger Protagonisten mit Sozialen Netzwerken thematisierten, kamen bei den jungen Zuschauerinnen und Zuschauern an.

Das kleine Fernsehspiel erkundet weiter Netzwelten
Wie verändert uns das Netz? Was für ein Erzählen ermöglicht es uns? Wie können wir Internet und Fernsehen verbinden? Welche Form der Zusammenarbeit erfordert das? Das kleine Fernsehspiel experimentiert zusammen mit der Hauptredaktion Neue Medien schon seit einigen Jahren auf dem flirrenden Feld der Verbindung von Fernsehen, Internet und realem Leben. Wir haben die spielerischen, partizipativen und interaktiven Möglichkeiten des Internets ausprobiert. Dafür stehen Projekte wie die Miniserie »Ijon Tichy: Raumpilot«, die Kurzfilmausschreibung »Talentprobe«, die Online-Ausschreibung »Bodybits – Analoge Körper in digitalen Zeiten« und der Internetkrimi »Wer rettet Dina Foxx?«. Wir sind als Nachwuchsredaktion auch weiterhin neugierig auf crossmediale Projekte und neue Formen der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit in der ZDF-Familie. Mit jungen Talenten neues Terrain betreten, dafür steht Das kleine Fernsehspiel seit fast 50 Jahren. Die Erkundung von Netzwelten ist ein weiterer Schritt auf diesem spannenden Weg.

Claudia Tronnier
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