Verena von Heereman, Redakteurin in der Hauptredaktion Unterhaltung-Wort
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Der Polizeipsychologe Dr. Vincent Flemming, Protagonist der gleichnamigen Krimiserie, twittert schon seit 2009. Im Sommer 2011 unternahmen die Hauptredaktion Unterhaltung-Wort und die Hauptredaktion Neue Medien den innovativen wie erfolgreichen Versuch, die Serienfigur »Flemming« einen ganzen Krimifall ausschließlich in Tweets erzählen zu lassen: Damit betrat das ZDF das Neuland der »Twitterature«.

Flemming ist eine Plaudertasche, der Redewütige unter den deutschen Ermittlern, in seinen Wortkaskaden vielleicht nur von einer Theaterfigur wie Cyrano de Bergerac übertroffen. Sein Mitteilungsdrang und seine Sprachgewalt machen vor Wenigem Halt. Verbal sprudelnd ermittelt, therapiert, streitet und liebt er. Er teilt sich mit – in Gänze. Dr. Vincent Flemming (Samuel Finzi) ist nicht nur Psychotherapeut und Polizeipsychologe, sondern auch ein Exhibitionist der Seele. Seine Radiosendung »Die Tricks der Seele« spickt er mit privaten Anekdoten, übermütigen Selbstinszenierungen und nutzt sie auch mal zur öffentlichen Liebeserklärung an seine Exfrau und Chefin (Claudia Michelsen), die Kriminalhauptkommissarin Ann Gittel: »Habe ich Ihnen schon gesagt, dass meine geschiedene Frau, die ich sehr liebe, ein Kind bekommt? Das Kind meines Lebens.« Ann, die Vince im Sender zu einem neuen Fall abholt, reagiert trocken und leicht gallig: »Das mit dem Kind hast du schön gesagt, Dr. Flemming.«

Flemming lebt, um davon zu erzählen. Es lag also nahe, die Nachfolgeserie von »Der letzte Zeuge« crossmedial zu erzählen: Vince Flemming twitterte bereits in der ersten Staffel (2009). In der zweiten Staffel, die ab dem 18. März 2011 gezeigt wurde, setzte Flemming auch in der Filmhandlung selbst, also on screen, Tweets auf twitter.com/vinceflemming ab, in denen er Assoziationen, erste Eindrücke bei den Ermittlungen, Zweifel, Momente der Trauer und des Glücks in den vorgegebenen 140 Zeichen preisgab. Hinter Vince Flemming auf Twitter steckte ein hochengagiertes Onlineteam. In Absprache mit dem »Flemming«-Erfinder und Drehbuchautor Gregor Edelmann diskutierten sie als Vince Flemming während der Sendungen und zwischen den einzelnen Folgen über die Fälle, aber auch über Liebe, Tod und Teufel und andere Kleinigkeiten. Die positive Resonanz war unüberlesbar:







Einer der kreativen Onlineredakteure, Till Frommann, schlüpfte so gekonnt und freudig in die Rolle des Berliner Polizeipsychologen, Radiomoderatoren, Buchautoren und Unidozenten Flemming, dass seine Idee, eine »zweieinhalbte« Staffel zu erfinden, das heißt, zwischen der zweiten und dritten Staffel einen Kriminalfall ausschließlich per Twitter zu erzählen, unwiderstehlich und geradezu selbsterklärend schien.

»Flemming«-Autor Gregor Edelmann, ein Meister des elliptischen und verdichteten Erzählens, sah das eiserne Limit der 140 Zeichen pro Tweet als neue Herausforderung und entwickelte mit Till Frommann die Twitter-Krimifolge »Stich ins Herz«. Am 24. Juni 2011 startete diese crossmediale Premiere mit Flemmings Nachricht: »Blutiger Morgen: ein Messer, ein Herzstich, ein Toter. Er war Psychologe. Lag auf dem Boden der Gemeinschaftspraxis, in der er arbeitete.« Bis zur Auflösung des Falles und dem Ende der Privatlinie von Vince und Ann am 30. Juni 2011 verfolgten bis zu 1 300 Follower so hartnäckig hilfsbereit und gewieft die Ermittlungen, dass das »Drehbuch« nur als Orientierungspunkt und Steinbruch dienen konnte. Das Ende des Plots stand zwar von vornherein fest, der Verlauf der Geschichte, die neuen Wendepunkte ergaben sich jedoch durch die raffinierten Fragen der User, die ihre Rollen als Mit-Ermittler und scharfsinnige Zurufer sehr ernst nahmen und der Lösung oft gefährlich nah kamen, sodass es ein großer Spaß war, weitere Haken im Plot zu schlagen.

Der Twitter-Krimi
»Flemming« betrat mit diesem getwitterten Kurzkrimi Neuland: Drehbuchautor Gregor Edelmann führte den szenischen Dialog en miniature in die Tweets ein: »Übernachte bei Ann und Emma. Hoffentlich schläft Emma durch.« »Ach,« sagt Ann. »Und was machen wir dann?«. »Ich könnte das Kamasutra aus dem Keller holen!«, schlage ich vor. »Und entstauben?«, meint Ann. »Sehr lustig, Ann.«

Ein Fall von »Twitterature«: Flemmings Tweets informierten die Follower über den jeweiligen Ermittlungsstand, seinen Eindruck von Zeugen und Mordverdächtigen, die weitere Vorgehensweise und ließen immer wieder aphorismenhafte, literarisch anmutende Beobachtungen anklingen: »Tja, die alte Geschichte. Was für den Einen kaum bemerkbare Gleichgültigkeit ist, ist für den Anderen Grausamkeit in Permanenz.« Auch der im Bonsai-Format inszenierte Reigen einer tragischen Liebeskette, die in der Gemeinschaftspraxis zum Selbstmord führte, liest sich wie der gedichtete Extrakt einer der ohnehin schon stets sehr konzentriert erzählten Folgen der Serie »Flemming«.

Im Unterschied zur Fernsehserie kann Twitter auf ganz eigene Weise mit der Echtzeit spielen. »Bin auf dem langen Flur. Habe ich einen Fehler gemacht? Twittere im Gehen: Vince Flemming auf dem Weg in die Höhle des Lö …«. Es folgt Schweigen, eine große stumme, schwarze Lücke – und mit ihr viel Raum und Zeit für »imaginerary forces«. Kein Tweet, nichts. Stunden später kommt Flemming erst wieder zu sich und erfährt von Ann, dass er dank einer rabiaten Mordverdächtigen zu Boden ging: »Ann sagt, dass es eine afrikanische Fruchtbarbarkeitsfigur war, die mich niederstreckte.« Der Rechtschreibfehler versinnbildlicht launig und drastisch Flemmings bis zur Auflösung des Falls stetig schwindende Kräfte, ja signalisiert den Beginn seiner eigenen Auflösung: »Vince? – Das muss Henner sein. Ich sehe ihn nicht. Dafür weiß ich plötzlich: Der geschrien hat, warst du, Vince. Du!«. Diese Wendung des Plots ist auch eine kleine Edelmann'sche Hommage an das klassische amerikanische Detektiv-Genre, in dem der Held nie sicher sein konnte, ob er die Lösung seines Falls überleben würde.

Schließlich muss Ann das Twittern übernehmen: »Hier ist Ann Gittel. Ich twittere auf dem Handy von Vince Flemming. Vince muss für mindestens vier Wochen ins Krankenhaus. Danach drei Monate zur Reha. Tja und dann …«. »…fahren wir in Urlaub, Emma, Vince und ich! Ach ja: Vince bat mich zu sagen: Er freut sich aufs Wiedersehen mit Ihnen!«. Die Chancen stehen also gut, dass Vince Flemming trotz seiner Dekonstruktion im Zuge der Folge »Stich ins Herz« gerade noch rechtzeitig für die dritte Staffel, die voraussichtlich im Herbst 2012 ausgestrahlt wird, zurück sein wird.

In Flemmings Twittern zeichnet sich ein crossmediales Zukunftsbild des Fernsehens ab – noch in groben Strichen und in 140 Zeichen, aber es ist ein inspirierender Impuls. Das liegt nicht nur daran, dass Flemmings Follower als Ko-Ermittler in die Fiktion eintauchten und somit tragende Rollen übernahmen. Das spannende Wechselspiel von paralleler Echtzeitkommunikation über Kurznachrichtendienst und TV ergibt sich auch aus der Wiederbelebung alter dramaturgischer Mittel im neuen Medium: Dienste wie Twitter schenken dem Fernsehzuschauer die offene Fantasie, indem sie »nur« die Sprachkulisse und die Echtzeithandlung zulassen. Die »imaginary forces«, die schon Shakespeare im »wooden O« des elisabethanischen Theaters beschwor, das seine Räume über die Wortkulisse entstehen ließ, kommen hier auf witzige und aphoristische Weise zu Ehren. Gerade im augenzwinkernden Kontrast zum Medium Fernsehen, das verschwenderisch konkret mit Bild und Ton umgeht, entsteht eine zukunftsweisende crossmediale und interaktive Ästhetik, an deren Anfang wir gerade stehen und die »Flemming« hoffentlich auch weiter begleiten und beeinflussen wird.

Verena von Heereman
Dr. Vincent Flemming (Samuel Finz) im Radiostudio
Das Ermittlerpaar Dr. Vincent Flemming und seine Exfrau, Kriminachhauptkommissarin Ann Gittel (Claudia Michelsen)