Gottfried Langenstein, Direktor Europäische Satellitenprogramme
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Die Demokratisierung der Kultur im Web 2.0
Bei ZDFkultur, 3sat und ARTE wird der Rezipient zur Avantgarde

Das digitale Zeitalter eröffnet Chancen für die Demokratisierung der Kultur. Neue Zuschauergruppen können für anspruchsvolle kulturelle Angebote gewonnen werden. Zuschauer und Nutzer werden zu Akteuren. Netzwerke tragen spezifische Inhalte zu einer breiten Resonanz und vereinigen in großer Geschwindigkeit gesellschaftliche Gruppierungen hinter neuen Ideen. Das ist eine Chance für die außerordentliche Vielfalt Europas und für die Zukunft des europäischen Einigungsprozesses.

Das zurückliegende Jahr rückte zwei große Entwicklungsprozesse in den Mittelpunkt der Berichterstattung, die auch die Zielvorstellung für die Programme der Direktion Europäische Satellitenprogramme, ZDFkultur, 3sat und ARTE, verändern werden. Die »Facebook-Revolutionen« in Nordafrika zeigten, welche – auch politische – Kraft die neuen digitalen Medien entwickeln können. Und zwar nicht nur als Forum der Aufständischen zum Zweck der Mobilisierung und als Austauschplattform für Informationen, Bilder und O-Töne. Lange bevor am 17. Dezember 2010 die Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Muhammad Bouazizi zum Zündfunken für die Erhebung der Völker der Magreb-Zone wurde, hatten Internet und Soziale Netzwerke Ideale und Freiheitsgedanken der europäischen Aufklärung in eine gebildete, lebensbejahende, aber gefühlt perspektivlose junge Generation getragen. Inspiriert von westlicher Kultur, Denk-, Lebens- und Wirtschaftsweise forderten die jungen Menschen von ihren Machthabern ebenfalls neue Freiheiten und echte Perspektiven. Sie haben dabei die eingefahrenen Denkmuster hinter sich gelassen und sich an internationalen Informationsquellen orientiert. ARTE hat in den Ländern Nordafrikas eine große Resonanz. ARTE wird hier nicht als Sender der früheren Kolonial- und Kriegsherren Frankreich oder Deutschland wahrgenommen, sondern als ein über nationalen Interessen stehender Sender Europas.

Partizipative Netzwerke spielten bei den Revolutionen des Arabischen Frühlings eine Schlüsselrolle. Sie transportierten kleinste Informationssplitter und halfen, ein gemeinsames Handlungsziel über breite Bevölkerungskreise zu definieren. Das wird auch auf die politischen Ordnungen nördlich der Mittelmeerzone ausstrahlen. Das spontane Entstehen von Parteien und das hoch volatile Schwanken der politischen Gunst sind Phänomene, die auch die Länder des alten Europa einholen werden. Ob daraus plebiszitäre Wogen oder tragfähige gesellschaftliche Entwicklungen werden, liegt in unserer Hand.

Die klassischen Medien, Fernsehsender wie Verlage, werden ihre Bedeutung nur behalten, wenn es ihnen gelingt, den Nutzern inhaltlich überzeugende, charaktervolle Angebote zu liefern und jene gleichzeitig als Akteure einzuladen. Dies gilt in besonderem Maße auch für den kulturellen Raum, der immer mehr Raum zur Selbstdefinition und der eigenen geistigen Entwicklung wird.

In Frankreich ist »Demokratisierung der Kultur« längst zum politischen Ziel geworden. ARTE hat – stimuliert durch die französische Dynamik – deshalb besonders früh auf das Netz und partizipative Netzwerke gesetzt, um junge Zuschauergruppen zur Arbeit an der Kultur von morgen einzuladen. ARTE gehört mit über 400 000 Fans bei Facebook für seinen Auftritt und mit 780 000 Fans insgesamt zu den erfolgreichsten Fernsehangeboten in Deutschland und Frankreich. Die Grenzen zwischen Rezeption und Partizipation, zwischen Kunstgenuss und eigener Kreativität verschwimmen im Netzzeitalter der kommunikativen Plattformen. Der Rezipient wird selbst zur Avantgarde. Und wir sind Zeugen auf YouTube, Facebook oder Twitter, in welcher Breite humorvolle, intelligente, künstlerische Entwürfe ans Licht kommen.

Das in diesem Jahr neu geschaffene Kulturprogramm ZDFkultur setzt als junger Pop- und Netzkulturkanal gerade auf diese neue Kreativität der Zuschauer, und das nicht nur im Netz, sondern auch auf dem Sender. Die preisgekrönten Sender-Idents sind einzigartig in der deutschen Fernsehlandschaft. Sie verwirklichen Ideen, die junge Künstler über das Netz eingereicht haben und die nun das Bild des Senders prägen. Die Zuschauer werden damit zu Mitgestaltern des Angebots. ZDFkultur ist im wörtlichen Sinne ihr Sender. ZDFkultur setzt bewusst auf eine junge Zuschaueransprache und stellt das Entwerfen, das Entstehen von Kultur in den Mittelpunkt. Die zentrale tägliche Sendung »Der Marker« führt uns jeden Tag vor, wie mit ungewöhnlicher Freiheit und durch das kulturell aufgeladene Auge der Macher die Welt auf äußerst intelligente wie humorvolle Weise erklärt werden kann. Und bei tape.tv erleben wir, wie ein Kulturformat parallel als Netzereignis und Fernsehereignis gefahren wird, mit hoher Beteiligung des Publikums. ZDFkultur als Aktionsraum in der Formensprache der jungen Netzgeneration.

Die mit dem Netz aufgewachsene Generation gehört weiterhin zu Fernsehkonsumenten, wenn auch mit einem geringeren Zeitbudget, sie hat aber durch das Netz eigenständige Sehgewohnheiten entwickelt. Das betrifft sowohl den kürzeren Zeitbogen der Aufmerksamkeit als auch die spitzere und humorvollere Zurichtung der Stoffe. Wenn alle Information im Netz greifbar ist, sofort und unmittelbar in jeder beliebigen Breite, dann bekommt der persönlich gefärbte, der außergewöhnliche Zugriff auf ein Thema eine neue Bedeutung.

Das Netz wird immer stärker Cluster von Nutzergruppen generieren, die sich um »ihr« Angebot versammeln. Darauf müssen Medienunternehmen eingehen, sie müssen diese Strömungen mit spezifischen Angeboten aufnehmen. Kein Grund, den Untergang des medialen Abendlandes zu fürchten, im Gegenteil: Die Demokratisierung der Kultur birgt gerade auf einem so bunten und vielfältigen Kontinent wie Europa eine außerordentliche Chance. Die Vielfalt der Ästhetik, der kulturellen Konzepte als Ideengenerator. Die »Kulturzeit« bei 3sat und der »Kulturpalast« bei ZDFkultur liefern uns dafür herausragende Beispiele, auch in der unterschiedlichen Ansprache. Hier haben sich 3sat und ZDFkultur mit jeweils klar definierten Markenkernen hervorragend positioniert.

Nicht vergessen darf man bei der Demokratisierung der Kultur die Wissensprogramme. Wissen bleibt der zentrale Faktor für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Die junge Netzwelt-Generation ist dafür zu gewinnen. Ihre Neugier ist groß. Und bei der Netznutzung stellen wir fest, dass bei den zum Abruf vorgehaltenen Programmen Wissensstoffe und Dokumentationen deutlich in Führung liegen.

Die Verunsicherung durch globale Wirtschaftseffekte hat im Jahr der Eurokrise stark zugenommen. Die Vorstellung, dass nationale Regierungen noch in der Lage sind, die Rahmenbedingungen für unsere Lebensverhältnisse zu bestimmen, schwindet. Während für die älteren Generationen das gemeinsame Europa noch eine emotional hohe Bedeutung als friedenssichernde Struktur besitzt, ist bei den jungen Generationen die Friedensdividende kein relevanter Faktor mehr. Die Jüngeren reisen so selbstverständlich zwischen Paris, Berlin und Warschau wie ihre Eltern und Großeltern nur zwischen Hamburg und München oder Lille und Marseille. Sie genießen die Reisefreiheit und den Euro als einheitliches Zahlungsmittel. Sie studieren in Wien, Zürich und Rom, machen Praktika oder Ferienjobs in Brüssel, London oder Madrid. Die Sozialen Netzwerke machen es möglich, Freundschaften in ganz Europa zu pflegen. Für diese jungen Menschen ist das geeinte Europa eine Selbstverständlichkeit. Damit dies so bleibt, damit keine falschen Ressentiments wuchern können, müssen die Medien eine vertiefende Erklärarbeit leisten, die uns näher rückende Kulturräume aufschließen, Angst vor Fremdheit nehmen und globale Wirtschaftsprozesse und Umweltfragen verständlich darstellen.

Viele Zukunftsfragen – Zuwanderung und Integration, die wachsende Bedeutung Asiens, der Austausch und Ausgleich mit anderen Erdteilen – verlangen die Bereitschaft, sich auf andere Kulturen und neues Wissen einzulassen. Um diese Weltoffenheit in breite Bevölkerungsschichten zu tragen, bedarf es einer neuen Demokratisierung der Kultur und des Wissens – im Fernsehen, im Netz und in allen Ausdrucksformen der digitalen Welt. 3sat kommt dabei die Rolle des Qualitätsfeuilletons im deutschsprachigen Raum zu, das klare Orientierungspunkte markiert. ZDFkultur ist das Pop- und Netzkulturprogramm für die junge Generation, die spielerisch und subjektiv mit der Realität umgeht. Und ARTE liefert nicht allein höchsten Kunstgenuss aus ganz Europa und Nordafrika, sondern gibt auch der individuellen Kreativität der Zuschauer aktiv Raum. Die Demokratisierung der Kultur und des Wissens aber ist Aufgabe und Auftrag aller drei Kultursender des ZDF.

Gottfried Langenstein