Johannes Hano, Leiter des ZDF-Studios Peking
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Fukushima und die Folgen
Report einer Katastrophe

Erdbeben, Tsunami und Super-GAU in Fukushima: Wochenlang berichten Johannes Hano und seine Mitarbeiter aus dem Auslandstudio Peking über die Natur- und Atomkatastrophe in Japan. Trotz der unübersichtlichen und sich ständig verändernden Informationslage gelingt es ihnen, die politischen, wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen überlegt einzuordnen – ohne zu dramatisieren.

Tokio, 11. März 2011, 14.46 Uhr. Der Schlag traf Japan, uns alle, die wir da waren, so plötzlich, so unvorbereitet und so hart, dass uns nur noch ein letztes Hoffen blieb. Ausgeliefert, völlig machtlos warteten wir auf unser Schicksal – darauf, was der liebe Gott mit uns vorhat, ob das Hochhaus, in dessen 13. Stock unser Büro liegt, einstürzt oder nicht. Es waren vier, fünf Minuten voller Konzentration darauf, Angst und Panik nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, in dem Bewusstsein, dass wir es selbst nicht mehr in der Hand hatten, ob wir überleben. Unser Haus und die anderen Hochhäuser, die wir aus den Fenstern sehen konnten, bewegten sich wie Grashalme im Wind.

Kurz nach dem ersten Schlag dann die Tsunamiwarnung aus den Lautsprechern auf den Straßen und immer wieder schwere Nachbeben. Unsere Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und das Schlimmste stand uns zu diesem Zeitpunkt noch bevor.

Etwa 250 Kilometer weiter nordöstlich begann sich – zunächst völlig unbemerkt von der Öffentlichkeit – eine Katastrophe zu entwickeln, die bis heute anhält, die nach wie vor die Gefahr birgt, dass ganze Landstriche Japans Hunderte, vielleicht Tausende Jahre nicht mehr bewohnbar sein werden. Der nukleare Notstand, den die japanische Regierung am Abend des 11. März 2011 ausrufen musste, gab diesem Tag für mich eine religiöse Dimension: Da draußen ist etwas, was man nicht hören, riechen, fühlen oder sehen kann, das sofort tötet oder einem langsam, in vielen Jahren, die Organe mit Krebs zerfrisst. Man weiß nicht, ob es erst kommt oder schon wieder gegangen ist. Das Schlimmste aber: Es pflanzt eine Angst ein, die droht, dich von innen aufzufressen, ohne dass es überhaupt bei dir war – es ist das absolut Böse.

Die Angst und Verunsicherung bei vielen Kollegen war so groß, dass wir es ihnen freistellten, in Japan zu bleiben. Mehrere Kollegen nahmen das Angebot an, kaum in Tokio angekommen, in die Heimat zurückzufliegen. Viele internationale Unternehmen evakuierten ihre ausländischen Angestellten und deren Familien. Die deutsche Schule wurde geschlossen, das Abitur in Deutschland gemacht, und die deutsche Botschaft zog bis Ende April komplett in das etwa 800 Kilometer südlich von Fukushima gelegene Osaka um. Als am 15. März nach den Reaktorblöcken 1 und 3 auch noch die Reaktorblöcke 2 und 4 des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi explodierten, entschied auch ich mich dafür, Tokio vorübergehend Richtung Osaka zu verlassen.

Zu diesem Zeitpunkt war völlig unklar, was eigentlich genau passiert war, wie groß die Schäden an den Reaktorkernen waren, ob es eine radioaktive Wolke geben würde, es zur Massenpanik käme, zu Hamsterkäufen. Seit Beginn der Katastrophe und noch immer gibt es widersprüchliche Meldungen von der Betreibergesellschaft Tepco und den japanischen Behörden. Hieß es am Morgen noch, die Atomkraftwerke, auch die in Fukushima, seien nach dem schweren Beben planmäßig heruntergefahren worden, so wurde am Abend plötzlich der nukleare Notstand ausgerufen. Erst hieß es, die Situation sei bei einem Reaktor außer Kontrolle, es sei möglicherweise zu einer Kernschmelze gekommen, die Kühlsysteme würden versagen, dann hieß es plötzlich, die Notkühlung über Dieselgeneratoren würde wieder funktionieren. Wir rätselten, ob die Verantwortlichen wirklich nicht wussten und wissen, was sich gerade in den Reaktoren abspielte, und vieles spricht genau dafür. Auf jede schlechte Meldung folgte eine gute, vermutlich, um die Menschen langsam auf den Super-GAU vorzubereiten.

Für uns aber war relativ schnell klar, dass weder Tepco noch die japanische Regierung irgendetwas unter Kontrolle hatten – und dafür musste man kein Atomphysiker sein: explodierende Reaktorgebäude, hilflose Kühlversuche aus der Luft mit Hubschraubern, die entweder ihre Wasserlast überall abließen, nur nicht dort, wo sie gebraucht wurde, nämlich auf den Reaktoren, oder sich gleich ganz zurückziehen mussten, weil die Strahlung zu stark war. Dann Kühlversuche mit einem Wasserwerfer der Polizei, dem einzigen weit und breit.

Als schließlich die US-Navy ihre Schiffe, die sie zur Unterstützung der Rettungsmaßnahmen nach dem Erdbeben und dem Tsunami geschickt hatte, aus Angst vor radioaktiver Strahlung aus dem Gebiet abzog, klingelten bei uns alle Alarmglocken. Dass sich in den Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi der Super-GAU zumindest anbahnte, war für uns offensichtlich – alles deutete darauf hin, aber mit Sicherheit wussten wir eigentlich gar nichts. Wir mussten lernen, zwischen den Zeilen all der öffentlichen Verlautbarungen zu lesen und zu diesem Zweck erst einmal verstehen, wie ein Atomreaktor funktioniert. Wir haben tagelang kaum geschlafen, mussten uns selbst, unsere Familien, Freunde und Kollegen immer wieder beruhigen und versuchen, trotz allem einen klaren Kopf zu bewahren, um keine Fehler zu machen, die uns selbst gefährden oder unsere Zuschauer in Deutschland in Panik versetzen könnten. Um uns ein eigenes, von den offiziellen Informationen unabhängiges Bild machen zu können, war schnell klar, dass wir hoch Richtung Atomkraftwerk mussten. Aber die Situation war völlig unübersichtlich, und so klar es war, dass wir da hoch mussten, so klar war es mir als verantwortlichem Korrespondenten auch, dass ich keinen meiner Kollegen aus Show-Gründen der Gefahr einer radioaktiven Verstrahlung aussetzen würde. Das war ich auch den Familien daheim schuldig. Ich würde niemanden in den Norden schicken, nur damit wir in Deutschland, im medialen Konkurrenzkampf, sagen können: »Schaut mal her, wo wir sind – wir sind ganz nah dran.« Bevor wir also fahren konnten, mussten drei Kriterien erfüllt sein:

Erstens musste die Geschichte einen journalistischen Mehrwert haben, das heißt, nur, um die Zerstörung in der Tsunamiregion zu drehen, fahren wir nicht hin. Solche Bilder liefen seit Tagen rund um die Uhr. Zweitens mussten wir nicht nur wissen, wie wir dort hinkommen, sondern auch, wie wir wieder zurückkommen, sollte es ganz ernst werden. Und drittens brauchten wir Schutzausrüstungen zu unserer Sicherheit. Geigerzähler, die man sich um den Hals hängen kann und die mit einem Piepton warnen, wenn die Strahlung ein gefährliches Level erreicht, weiße, reißfeste Papieranzüge, die radioaktive Partikel davon abhalten, in direkten Kontakt mit dem Körper zu kommen, und Atemmasken, die verhindern, dass wir radioaktiven Staub einatmen. Alles haben wir schließlich bekommen. Die Kollegen aus der »Grotte«1 in Mainz, Marina Kunke, Ralf Zimmermann von Siefart und die vielen anderen, haben alles getan, damit wir diese für uns sehr schwierige Situation unaufgeregt und professionell meistern konnten. Wir sind in den Norden gefahren und tun es bis heute – ausgestattet mit Dosimetern und Geigerzählern, die für uns mittlerweile zur Standard-Arbeitsausrüstung in Japan zählen. Auch wenn das Arbeiten in den verseuchten Gebieten zumeist unproblematisch ist, Geigerzähler und Dosimeter geben uns die Sicherheit, die viele Menschen in den betroffenen Gebieten so sehr vermissen. Denn die Geräte zeigen uns an, wenn es gefährlich wird, wenn die Strahlung dramatisch ansteigt, wenn wir uns in einem so genannten Hot Spot befinden.

Das Gefährliche an der Arbeit ist nämlich nach wie vor, dass man die Strahlung nicht sieht, hört oder riecht, dass sie auf einmal da ist. Gemeinsam mit Yvette Gerner aus der Chefredaktion und dem Arbeitsschutz haben wir Regeln für das Arbeiten in den betroffenen Regionen aufgestellt. Wir haben unsere Mitarbeiter zu Strahlenschutzseminaren und Strahlenuntersuchungen geschickt, um einen möglichst informierten Umgang mit der potenziellen Gefahr sicherzustellen.

All das aber wäre nicht möglich ohne einen Arbeitgeber, zu dessen Unternehmensphilosophie es gehört, auf seine Mitarbeiter zu hören, ihnen zu vertrauen, ihre Ängste ernst zu nehmen und ihre persönliche Unversehrtheit auch im härtesten Wettbewerb über alles zu stellen. Und letztlich zahlt sich das aus. Denn wir können heute, bestens informiert und mit dem Wissen, dass man sich in der Heimat um unsere Fragen und Probleme kümmert, Dinge tun, die andere nicht tun. Wir können aus evakuierten Gebieten mit teils erheblich erhöhter Strahlung berichten, weil wir wissen, wie lange wir uns der Strahlung aussetzen können, bevor es gefährlich wird, weil wir Ausrüstungen haben, die uns im Notfall zumindest Zeit verschaffen. Wir haben den Umgang mit der Gefahr gelernt, aber auch, auf der Hut zu sein davor, die Situation als »normal« anzusehen. Denn sie ist es nicht, auch wenn es in der täglichen Arbeit oft schwer fällt, sich die potenzielle Gefahr zu vergegenwärtigen.

Noch immer ist die Lage in dem zerstörten Atomkraftwerk Fukushima Daiichi nicht unter Kontrolle, noch immer tritt Strahlung zumindest aus einem Reaktor aus. Immer weitere Kreise zieht die radioaktive Belastung von Lebensmitteln, und nach wie vor lässt die Information durch die Behörden mehr als zu wünschen übrig. Die meisten Japaner trauen ihrer Regierung nicht mehr, aber dafür der Berichterstattung des ZDF. Ein »Frontal 21«-Beitrag von Nicola Albrecht und Martin Niessen über die radioaktive Belastung von Lebensmitteln wurde nach der Ausstrahlung von einem Zuschauer mit japanischen Untertiteln versehen und bei YouTube hochgeladen. Der Film hat in Japan für Furore gesorgt, wurde weit über 400 000 Mal abgerufen. Viele Menschen bedankten sich per Mail und Telefon bei uns für Informationen, die sie in Japan sonst nicht bekommen hätten. Ein Professor der Universität Tokio meinte sogar, das ZDF sei, was die Berichterstattung über die Krise angehe, das weltweit beste Medium. Dieser Erfolg hat mich und meine Kolleginnen und Kollegen in Japan schon ein bisschen stolz gemacht, aber er hat auch deutlich gemacht, welche Verantwortung wir bei unserer Berichterstattung in einer immer stärker vernetzten Welt nicht nur für unsere Zuschauer in Deutschland haben. Die großartigste Erfahrung aber war die Hingabe, die Professionalität, das Engagement und der persönliche Einsatz, mit dem Lilo Ohgo, Fuyuko Nishisato, Toby Marshall und Jörg-Hendrik Brase eine saubere und seriöse Berichterstattung in den ersten Tagen rund um die Uhr erst möglich gemacht haben. Das ZDF kann stolz auf solche Mitarbeiter sein.

  1. Die zentrale Koordinierungsstelle für Redaktionen und Reporter im Sendezentrum Mainz
Johannes Hano
Johannes Hano (links sitzend) und sein Team im Studio Tokio