Stephan Hallmann, Hauptredaktion Politik und Zeitgeschehen/Außenpolitik
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Moderne Technik sprengt alte Fesseln
Die Revolution in der arabischen Welt

Das Jahr 2011 wird vielleicht als Geburtsstunde der modernen arabischen Welt in die Geschichte eingehen. Wie aus dem Nichts stürzten Herrscher vom Thron, deren Macht in Stein gehauen schien: Ägyptens »Pharao« Hosni Mubarak, Libyens »König der Könige« Muammar al-Gaddafi oder Tunesiens Zine el-Abidine Ben Ali. Was war geschehen?

Ich habe sie lange Zeit nicht verstanden, die Zeichen der Zeit. Wie oft bin ich an einem der im Orient zu Hunderten aus dem Boden schießenden »Internetcafes« vorbeigegangen, in denen die Jugendlichen dicht gedrängt vor den Computermonitoren saßen. In ärmlichen Gegenden oder auf dem Land ist es oft nur ein karger kleiner Raum mit Plastikstühlen vor einem halben Dutzend abgenutzter PCs mit ihren flimmernden Mattscheiben, die für die Jugendlichen das Fenster zur Welt sind. Ich dachte im Vorbeigehen über die verschiedenen Traumwelten nach, in die sich die Kids da wohl flüchten mochten. Aber welche Veränderungen die Bilder und Nachrichten aus dem World Wide Web in kurzer Zeit schon bewirken würden, welche Kräfte freisetzen, das hatte ich mir nicht träumen lassen.

Ist es also das »Internet-Virus«, das die arabische Welt befallen hat und in kürzester Zeit zum Sturz einiger der mächtigsten Herrscher führte? Sind am Ende gar Bill Gates und Steve Jobs die Geburtshelfer der »Arabellion«, die wir publikumswirksam bereits gerne als »Internetrevolution« bezeichnen?

Revolutionen finden nicht im Internet, sondern auf der Straße statt – mit Massendemonstrationen, Aktionen des Ungehorsams gegen die herrschende Ordnung, mit bloßen Händen, Steinen oder Kalaschnikows bewaffnet. Aber das Internet hat zusammen mit den jungen internationalen arabischen Satellitenkanälen wie Al-Jazeera entscheidend dazu beigetragen, die Revolution in den Köpfen der Menschen zu entfachen. Ohne diese die Grenzen und die jeweilige Zensur überschreitenden elektronischen Medien wäre es 2011 wohl kaum so weit gekommen. Aber, wie weit ist es denn gekommen?

Mutige Menschen in Ägypten, Libyen, Tunesien, Syrien, Bahrain und dem Yemen haben aus Verzweiflung begonnen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und gegen ihre allmächtigen Herrscher zu rebellieren. Es bleibt abzuwarten, ob die gestürzten Regime wirklich Platz machen für moderne, demokratischere Gesellschaften, die stärker auf die Partizipation der Bevölkerung und deren Bedürfnisse ausgerichtet sind. In Libyen, wo die radikalsten Veränderungen bisher stattgefunden haben, ist das noch offen. In Tunesien ebenfalls. In Ägypten ist das seit bald 60 Jahren dort herrschende Militär immer noch an der Macht.

Die »Arabellion« hat viele Wurzeln, viele Anlässe, die sie letztlich ausgelöst haben. In Ägypten standen ganz am Anfang Arbeiterstreiks in den Industriestädten im Landesinnern gegen die aberwitzig niedrigen Löhne dort. Wir haben in unseren Informationssendungen immer wieder über die Explosion der Lebensmittelpreise und das Bevölkerungswachstum in den Ländern der arabischen Welt berichtet. Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen dort gehört zu der höchsten weltweit. Eine hoffnungslose Situation. Zumal jede wirtschaftliche Modernisierung dieser Länder durch die maßlose Bereicherung und Korruption staatlich protegierter Eliten aufgesogen wird.

Es war ein armer Tropf in einem abgelegenen Winkel der arabischen Welt, der das Fass zum Überlaufen brachte. Muhammad Bouazizi, ein kleiner Gemüsehändler in einem tunesischen Provinzkaff, hielt die Erniedrigung und die Demütigungen einfach nicht mehr aus, mit denen ihm die Behörden und die Polizei das Leben schwer machten. Seine verzweifelte Selbstverbrennung legte Anfang Januar die Lunte an die Zündschnur, die die arabische Welt im Frühling 2011 explodieren ließ. Ein Schicksal, das Millionen Menschen der Region sehr gut nachvollziehen konnten: Auch, wenn man eine noch so arme und unbedeutende »Randfigur« ist, nicht einmal dann bleibt man verschont von Korruption und Willkürherrschaft.

Die Menschen haben durch die Ausbreitung des Internets und der elektronischen Medien, so scheint es, viel von ihrer Naivität verloren. Der ungenierte, oft unverdiente Reichtum der Eliten im Gegensatz zu den ärmlichen Lebensverhältnissen der Masse der Bevölkerung, demütigende Behandlung und Schikane durch Behörden und Polizei, das alles sind alte Bekannte einer Untertanengesellschaft wie Ägypten oder Libyen. Aber das lässt sich nicht mehr so ohne Weiteres aufrechterhalten in einer Welt, in der auch »Provinzler« und »arme Schlucker« plötzlich einen bisher nie dagewesenen Zugang zu Information und Kommunikation haben.

Und hier kommt neben dem Internet vor allem den arabischen Satellitensendern wie Al-Arabiya und vor allem Al-Jazeera enorme Bedeutung zu. Ihre Verbreitung ist immer noch weit größer als die des Internets, und ihre weitgehend ungefilterte Berichterstattung ermöglicht es vielen, Vergleiche zu ziehen und kritische Stimmen aus aller Welt zu hören. Das hat dazu beigetragen, in der arabischen Welt die Öffentlichkeit zu schaffen, die den »Arabischen Frühling« erst möglich machte.

Der »Nationalstolz«, den autoritäre Regime geschickt nutzen, sozusagen als »ideelle Kompensation« für ihre in ärmlichen Verhältnissen lebende Bevölkerung, dieser sorgsam gehegte Stolz kann zu einem Bumerang werden, wenn der Blick über Landes- und Zensurgrenzen hinweg das Bild trübt. Das Bild Ägyptens in der arabischen Welt, nicht mehr als Leitnation, die es einmal war, sondern als bezahlter »Eckpfeiler der US-Politik im Nahen Osten«, mag dazu beigetragen haben, dass mancher den letzten Respekt vor den Herrschern am Nil verloren hat. Die Libyer konnten ihrerseits sehen, wie sich die Welt über ihren »Bruder« Muammar al-Gaddafi lustig machte und außerdem Einzelheiten über den glamourösen Lebensstil der Familie Gaddafi im Ausland erfahren, die Millionen für Privatpartys in der Karibik ausgab. Den Tunesiern lieferte das Internet genauere Zahlen über das von der Präsidentenfamilie zur Seite geschaffte enorme Vermögen.

Nicht zu vergessen die »neue Leichtigkeit« der Kommunikation. Vor einigen Jahren haben wir noch staunend wahrgenommen, dass der »Kameltreiber« an den Pyramiden in Kairo ein Handy besaß. Inzwischen verwundert uns das nicht mehr. Das Handy ist – auch – zum »Telefon des armen Mannes« geworden, weil es weit billiger und einfacher zu bekommen ist als bisher ein privater Telefonanschluss.

Die Zeiten, in denen vom Regime gesteuerte Medien filtern, zensieren und totschweigen können, was passiert, sind vorbei. Die Geschichte vom verzweifelten Selbstmord des tunesischen Gemüsehändlers verbreitete sich im digitalen Zeitalter wie das seit alters her beschworene »Lauffeuer«. Auf zehn Millionen Tunesier kommen rein rechnerisch neun Millionen Handys, jeder Dritte nutzt das Internet, jeder Vierte kommuniziert per Facebook. Und selbst im Land der Pharaonen surft laut Statistik inzwischen fast jeder Vierte der 84 Millionen Ägypter im Internet. In Libyen spielte das Internet, vom »Bruder Oberst« klein gehalten, weit weniger eine Rolle. Hier halfen die regionalen Unterschiede zwischen Ost und West, dass der Protest gegen das Regime so plötzlich und heftig ausbrechen konnte.

Bei allen Unterschieden in den verschiedenen Ländern, es ist eine Art »bürgerliche Revolution«, die sich die arabische Welt nachzuholen anschickt. Die Forderung nach fairer Bezahlung, Gerechtigkeit und menschenwürdiger Behandlung durch Polizei und Behörden laufen auf nichts anderes hinaus als auf das, was die Menschen in Europa und den USA für sich in Anspruch nehmen.

Kehren wir noch einmal zur »kleinsten« der technischen Errungenschaften zurück, die die arabische Welt erzittern lassen: dem Handy. Es ist mehr und mehr auch zu einem »Telefon mit Auge« geworden, das nicht nur Kindergeburtstage festhält,sondern Bilder von verbotenen Demonstrationen und erlittener Polizeigewalt bis hin zu Massakern dokumentiert. Und natürlich auch Momente von Zivilcourage, die andere begeistern und mitreißen, wie das Bild jenes jungen Mannes, der sich in Kairo ganz allein einem Wasserwerfer der Polizei in den Weg stellte und ihn daran hinderte, gegen Demonstranten eingesetzt zu werden.

Auch wir nutzen diese »Volkskameras« und das, was auf YouTube veröffentlicht wird, zunehmend für unsere Berichterstattung. Bei aller Vorsicht und der Notwendigkeit, solche Aufnahmen zu verifizieren und einzuordnen – wo bekommt man authentischere Fotos und Videoaufnahmen, welche professionelle Kamera wäre dichter am Geschehen? Als ich kurz nach Beginn der Aufstände in Libyen nach Benghasi kam, zeigten mir die Menschen dort Videos, die sie während der ersten zwei Tage mit ihren Handys aufgenommen hatten. Von Massendemonstrationen und Straßenkämpfen, in denen unbewaffnete Männer mit Baufahrzeugen Kasernenmauern durchbrechen. Aufnahmen, die uns halfen, uns in die Lage der Menschen zu versetzen, als sie im Begriff waren, gegen das Gaddafi-Regime aufzustehen. Und im Falle von Syrien, wo das Regime überhaupt keine oder nur ausgewählte ausländische Kameras zulässt, verhalfen mir die Handyvideos syrischer Flüchtlinge im Nordlibanon zu einem Blick über die Grenze auf das Terrorregime Bashar al-Assads.

Oft haben die Machthaber selbst die Nutzung moderner Technik propagiert, um ihre Länder wirtschaftlich zu modernisieren. Dafür erlaubte Hosni Mubarak den Ägyptern Ende der 90er Jahre sogar, sich kostenlos ins Internet einzuwählen. Er unterschätzte die explosive Mischung von freiem Internetzugang, Pressezensur und Polizeiknüppel, die langfristig einfach nicht gutgehen konnte.

Am 25. Januar 2010 hatte die Polizei in Alexandria den Blogger Khaled Said zu Tode geprügelt. Eines der wichtigsten Diskussionsforen im Internet wurde die Facebook-Gruppe »Wir sind alle Khaled Said«. An seinem ersten Todestag im Januar 2011 strahlte bereits das Beispiel Tunesiens, wo der Machthaber Ben Ali gerade aus dem Land gejagt worden war, auf Ägypten als Vorbild aus. In Ägypten wuchs das Selbstvertrauen. Und man nutzte das Internet ganz praktisch als Mittel der Mobilisierung und Organisation. Das Netz bot nicht nur die Möglichkeit zur schnellen und großflächigen Verbreitung von Aufrufen. Es bot auch – wichtig in Polizeistaaten – Anonymität. Anonymisierungssoftware kursierte neben technischen Anleitungen, wie man Blockaden im und die Überwachung des Internets durch Geheimdienste umgeht. Die Teilnehmer an Demonstrationen konnten im Netz erfahren, mit welchen einfachen Mitteln man sich vor Tränengas schützt.

Als das Regime in Ägypten am 27. Januar 2011 versuchte, die Notbremse zu ziehen und das Land für mehrere Tage vom Netz nahm, war es bereits zu spät. Das Internet, Twitter, Facebook, YouTube waren inzwischen zu einem wichtigen Instrument der Mobilisierung geworden. Man kann das Internet nicht einfach wieder abschaffen, wenn es bereits zu einem wichtigen Faktor der Modernisierung von Wirtschaft und Verwaltung des Landes geworden ist.

Der Nachteil für »alte Herrschaften«: Die modernen Kommunikationstechnologien wie Internet, Handy und Satellitenfernsehen beschleunigen gesellschaftliche Prozesse enorm. Auch deshalb wurden so viele – Potentaten und Beobachter – von den Entwicklungen in der arabischen Welt und ihres »Frühlings« überrascht.

Stephan Hallmann
Provisorisches ZDF-Büro in einer ausgebrannten Polizeistation in Benghasi
Blick aus dem »Bürofenster«