Janek Czechowski, Teamleiter 3D-Grafik im Geschäftsfeld Design
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Kettenreaktion Fukushima
Versuch einer Erklärung

Ein Beben erschüttert Japan und löst damit eine Katastrophe aus. Mit neuesten technischen und gestalterischen Mitteln wie den Erklärräumen im virtuellen Nachrichtenstudio und hochmotivierten Mitarbeitern gelang es dem ZDF, Erklärstücke anzubieten, die mit den Möglichkeiten zeitgemäßer dreidimensionaler Grafiken Vorgänge wie die Kernschmelze im Siedewasserreaktor oder Fragen nach Strahlungsdosis, Trinkwasserversorgung und Endlagerung verdeutlichen.

Als am 11. März dieses Jahres ein Beben der Stärke 9,0 in den frühen Nachmittagsstunden Tokioter Ortszeit gewaltige Erschütterungen vor der japanischen Ostküste und anschließend einen zerstörerischen Tsunami auslöst, da ahnt wohl noch niemand hier in Mitteleuropa – es ist gerade 6.45 Uhr –, dass dieses Beben nicht nur die Erdachse um zehn Zentimeter verschieben, sondern auch die politischen Koordinaten in der Bundesrepublik Deutschland verändern würde. Grund sind neben den beängstigenden Bildern der herannahenden Fluten und deren dramatischen Auswirkungen die erst spärlich einlaufenden, später sich verdichtenden Meldungen eines atomaren Unfalls in Fukushima fast genau 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl.

Was in einem hochentwickelten Industriestaat für ausgeschlossen gehalten wurde, verfestigt sich im Laufe weniger Tage und Wochen zur schrecklichen Wirklichkeit. Die trügerische Sicherheit ist dahin und hat sich vor unseren Augen in mehreren gewaltigen Wasserstoffexplosionen in Rauch aufgelöst. Eine derartige Katastrophe verlangt nach Erklärungen: »Das Charakteristische irrationaler Ereignisse besteht darin, dass sie allem und jedem zugeschrieben werden können (...). In einem derart integrierten System wie dem unseren hat alles dieselbe destabilisierende Wirkung. Alles trägt zum Versagen des Systems bei, das sich unfehlbar gibt«1, schreibt Jean Baudrillard schon viele Jahre vor den Ereignissen hellsichtig. Da war an das sich mehr und mehr offenbarende Ausmaß des Reaktorunglücks noch nicht oder nur als pessimistische Spekulation zu denken.

Erklären mit grafischen Mitteln
Ein Ereignis dieser Dimension löst erst einmal nachvollziehbar Verunsicherung aus. Daher versucht das ZDF, gemäß seinem Sendeauftrag, den Zuschauern Zusammenhänge und Hintergründe verständlich zu erklären, ihnen Ängste zu nehmen und die für die politische Willensbildung notwendigen Informationen zu geben. Wir haben mit dem neuen Nachrichtenstudio bereits 2009 einen neuen Raum dafür geschaffen – den virtuellen Erklärraum.

War Erklären mit grafischen Mitteln schon von Anbeginn des Fernsehens »täglich Brot« für die jeweiligen grafischen Teams und wurden bereits seit dem Ende der 90er Jahre dreidimensionale Grafiken bei uns im Hause für die Aktualität gefertigt, so gibt es mit der Bereitstellung des virtuellen Nachrichtenstudios neue, weiterreichende Möglichkeiten der Informationsvermittlung, die eine deutlich modernere Form der Präsentation entstehen lassen und damit in der Lage sind, eine intensivere Verbindung von Moderation und Gegenstand der Darstellung herzustellen.

Dreidimensionale Grafiken als Mittel zur Verdeutlichung sind heute unverzichtbar, ja, sie treffen aufgrund gewandelter Sehgewohnheiten auf eine geänderte Erwartungshaltung beim Publikum. Regelmäßige Befragungen bestätigen diese Tatsache nicht nur, sondern zeigen auch eine deutliche Akzeptanz dieser neuen Präsentationsform in unserem Sender.

Eine kontinuierliche Entwicklung
Das Ganze war und ist natürlich ein lang anhaltender Lernprozess. Erinnern wir uns nur an die Tsunami-Katastrophe im Pazifik vor gerade einmal fünf Jahren, als die grafischen Mittel nicht den Wunsch der Redaktion nach einer hinreichenden Bebilderung erfüllen konnten. Inzwischen ist viel geschehen. Die technischen Möglichkeiten haben sich rapide gewandelt. Echtzeitanimation hat das mühselige Geschäft »gerenderter« Bilder abgelöst, Mehrprozessortechnologie und verbilligte Speicherkapazitäten haben die Arbeitsweise beschleunigt, Satellitenbilder und Kartensysteme helfen bei der Lokalisierung von Ereignissen in kürzester Zeit. Die Arbeitsabläufe wurden optimiert. Neben erfahrenen Kollegen verstärken junge, hochmotivierte und entsprechend qualifizierte Mitarbeiter das Team nicht nur personell, sondern tragen mit neuen Herangehensweisen und verändertem Erfahrungsschatz zu einer Modernisierung der Bildsprache bei. Die Strukturen sind den Bedürfnissen angeglichen worden, die räumliche Konstellation wie auch die technische Ausstattung wurde in mehreren Investitionsschritten aktualisiert und erweitert.

Auf redaktioneller Seite haben die Grafikredakteure die Aufgabe, die inhaltliche Aufbereitung komplexer Erklärungen, wie zum Beispiel den Vorgang einer Kernschmelze in einem Reaktor japanischer Bauart, vorzunehmen und gemeinsam mit den jeweiligen Grafikern Erklärkonzepte zu entwickeln.

Vom Konzept zur Aufzeichnung
Im Rahmen der Umsetzung ist höchste Konzentration vonnöten, ist doch der Zeitdruck zum Teil enorm. Sind die Informationen gesammelt, dann schlägt die Stunde der Grafiker. Das Konzept muss gemeinsam entwickelt, das Storyboard gezeichnet werden. Das Modell wird gebaut, verfeinert, mit Texturen versehen, animiert und im Raum positioniert. Dafür stehen uns mittlerweile vier Erklärräume im Studio zur Verfügung: Jede Nachrichtensendung hat ihre Eigenheiten und Vorgaben. In Rücksprache mit den jeweiligen Moderatoren und den Regisseuren wird eine Inszenierung abgestimmt, dann werden Stopp-Punkte gesetzt, um die Animationsschritte dem jeweiligen Moderationstext anzupassen. Anschließend »tragen« die Kollegen ihre Ergebnisse ins Studio, das heißt, sie transferieren das Ergebnis ihrer Arbeit auf die dafür bereitgestellten Server, die wiederum die Szenen an die einzelnen Kamerazüge verteilen. In jeder Kamera ist jetzt die gleiche Szene vorhanden, die in der nun stattfindenden Regieprobe und anschließenden Aufzeichnung ihre Bewährungsprobe zu bestehen hat. Seltener und in einfacheren Konstellationen kommt es auch zu Livezuspielungen auf die dafür vorgesehenen Informationsträger.

»Bad news are good news«
So könnte man sagen, zumindest was die Achtsamkeit und Leistungsfähigkeit angeht. Alle beteiligten Bereiche im Hause haben das verspürt. Fast jeden Tag waren wir mit Erklärungen auf dem Sender, ganz gleich, ob mit kurzen und prägnanten Schilderungen in den Kurznachrichtensendungen oder mit langen und ausführlichen Moderationsstrecken im »heute-journal«. Denn zu erklären gibt es jede Menge: Was zeichnet den Siedewasserreaktor des Typs BWR/3 (Mark I) aus? Wie läuft eine Kernschmelze ab, und welche Folgen ergeben sich daraus? Was ist ein Abklingbecken, und was macht es gefährlich? Welche Strahlenbelastung ist tolerierbar, und ab wann wird sie gefährlich oder gar tödlich? Wie sehen die regionalen Besonderheiten der Trinkwasserversorgung im Großraum Tokio/Yokohama aus? Alles Fragen, mit denen wir uns auseinandergesetzt haben. Immer bewegten wir uns dabei im Spannungsfeld zwischen sachlicher, wissenschaftlicher Erklärung, Interpretation, politischer Argumentation und emotionaler Ansprache.

Zum Schluss
Bis heute erfahren wir von den schrecklichen Ereignissen in und um Fukushima, hören von Nachbeben, den teilweise fragwürdigen Methoden bei den Aufräumungsarbeiten und den Evakuierungsopfern. Auch wenn es etwas stiller um die Atomanlage geworden ist, viele Fragen bleiben offen: Fragen nach dem, was sein wird, nach den bleibenden Schäden für Menschen, Tiere und Pflanzen, Folgen für die ökonomische Entwicklung und nach den Auswirkungen auf uns selbst.

Hier in Deutschland ist die Erschütterung als ein kleineres Beben angekommen, in Form des endgültigen Atomausstiegs. Auch hier leckten die Wellen an den Fundamenten von Biblis, Krümmel und allen anderen Atomstandorten, nicht zuletzt durch eine breite Diskussion, an der wir uns als öffentlich-rechtlicher Sender beteiligt haben – auch mit interessanten Grafiken.

  1. Jean Baudrillard: Der Terror und die Gegengabe, in Le Monde diplomatique Nr. 6905 15.11.2002
Janek Czechowski
Herstellung eines Erklärstücks zur Reaktorkatastrophe in Fukushima
Claus Kleber vor einer Erklärtafel des Kernreaktors Fukushima
Der »Sarkophag«
Grafik zur Funktion von Kernbrennstäben
Grafik zur Funktion von Kernbrennstäben
Claus Kleber vor einer Erklärtafel zur Kernschmelze
Petra Gerster mit einem Modell der Reaktoranlage Fukushima
Dreidimensionale Grafik zum Reaktorunglück in Fukushima