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Michael Opoczynski, Leiter der Hauptredaktion Wirtschaft, Recht, Soziales und Umwelt

Wirtschaftsberichterstattung in Zeiten der Krise
Eine journalistische Herausforderung

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Michael Opoczynski
Michael Opoczynski



»Verzockt, verloren, verstaatlicht ...«: Aktionäre demonstrieren gegen die Verstaatlichung der Hypo Real Estate
»Verzockt, verloren, verstaatlicht ...«: Aktionäre demonstrieren gegen die Verstaatlichung der Hypo Real Estate


Die Zentrale in München
Die Zentrale in München
 

Nach der Krise? Vor der Krise? Die Unsicherheit ist groß. Ökonomen liefern jedes denkbare Szenario – vom beginnenden goldenen Jahrzehnt für Deutschland bis zur baldigen Rückkehr der Rezession. Das ist Theorie, doch Wirtschaftsberichterstattung muss zu den Menschen gehen, in die Unternehmen schauen. Wir schildern, was dort passiert und wie gehandelt wird.

»Island ist die zukunftsfähigste Region Europas«, urteilt die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit, im Jahr 2008. Vor allem die scheinbar so dynamischen isländischen Banken haben es der renommierten Institution angetan. Wenig später sind diese Banken unter Getöse in sich zusammengefallen. Zurück bleiben gewaltige Schulden und betrogene Geldanleger. Der Staat Island selbst geht pleite. Die regierenden Politiker werden davongejagt. Bis heute hat sich die Insel nicht erholt. Die OECD hat ein grandioses Fehlurteil gefällt und lässt sich nicht gerne daran erinnern.

»Das Jahr 2010 wird grottenschlecht«, urteilt Professor Hans-Werner Sinn. Der angesehene Ökonom sagt das im Juni des Jahres 2009 und blickt dabei auch auf China, Indien und die anderen jungen Industriestaaten. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt könne im Jahr 2010 um 0,3 Prozent zurückgehen. Heute wissen wir: Er liegt daneben! Falsch war also die Vorhersage für China, falsch war sie auch für Deutschland. Allerdings ist Professor Sinn nicht allein, denn niemand sah die Erholung in ihrer Stärke kommen.

Das Jahr 2010 wird mit über drei Prozent Wachstum zu einem der besten der deutschen Wirtschaft. Kräftige Erholung! Große Exporterfolge! Sinkende Arbeitslosigkeit! In China sehen wir zweistelliges Wachstum. Teure deutsche Autos sind dort gefragt. Deswegen werden hier Sonderschichten gefahren, wo eben noch die Fließbänder der Premiumhersteller stillstanden. Das hat der Professor, wie viele andere seiner Zunft, überhaupt nicht kommen sehen.

So falsch können die Fachleute vorhersagen, wenn es um wirtschaftliche Entwicklungen geht. Auf dieser Basis sollen Journalisten über die Wirtschaft berichten? Wenn schon Experten nicht richtig liegen, was sollen dann die Berichterstatter weitergeben? Vielleicht ist es manchmal besser, die Theoretiker ihren Theorien zu überlassen und sich die Wirtschaft dort anzusehen, wo sie passiert: im Betrieb, bei den Unternehmern, unter den Arbeitnehmern, bei den Konsumenten. Die wissen manchmal mehr über hier und jetzt und über das, was morgen kommen kann als die professionellen Beobachter.

Ich schaue auf den Berichtszeitraum: Das Jahr 2010 beginnt in der Krise und endet im Aufschwung. Dazwischen ist viel passiert. Wie sind wir damit umgegangen?

»Die Schwabenschmiede« nennt Marcus Niehaves seine Serie für »WISO«. Es sind kurze Magazinbeiträge, die in einem mittelständischen Betrieb, einer schwäbischen Gesenkschmiede, spielen: bei den Arbeitern, beim Chef, in den Familien der Mitarbeiter. Ein kleiner Betrieb – anfangs mitten im Sturm der Krise. Arbeit bleibt aus. Kurzarbeit wird angeordnet. Die Leute haben weniger zu tun und weniger im Geldbeutel, aber sie behalten die Arbeitsplätze und bleiben mit ihrem Fachwissen dem Betrieb erhalten. Bis es wieder aufwärts geht.

Später werden Fachleute weltweit den Erfolg der deutschen Kurzarbeit studieren. Sie hat es ermöglicht, als das Wachstum ungestüm zurückkommt, dass die Unternehmen die Produktion problemlos hochfahren können. Sie müssen nicht mühsam nach Leuten suchen. Ein deutsches Erfolgsmodell, das zunächst dem Staat, den Unternehmen und den Mitarbeitern Einbußen abverlangt. Dabei steht das Modell Kurzarbeit im Fokus internationaler und nationaler Kritik: zu konsensbehaftet, zu langsam, typisch deutsch. Heute sind die Kritiker still geworden. Und die »Schwabenschmiede« schmiedet wieder.

Im Jahr 2010 wird weltweit das Modell der umgangssprachlich »Abwrackprämie« genannten Förderung für die Automobilindustrie gefeiert werden. Das habe genau dann für Käufer gesorgt, als der Markt zusammenzubrechen drohte. Die Autohersteller konnten vor dem Schlimmsten bewahrt werden. Heute ist die Abwrackprämie fast unumstritten und von anderen Ländern nachvollzogen. Noch im Vorjahr gab es viel Kritik an diesem Konjunkturprogramm. Auch von uns Journalisten.

Das Jahr 2010 ist für Wirtschaftsjournalisten ein Jahr mit zwei Gesichtern. Eine andere Krise bricht aus. Der Euro zeigt Schwäche. Als die Unsicherheit groß ist, ob Griechenland seine Schulden wird bedienen können, müssen alle Euroländer etwas tun, was sie versprochen haben, nie zu tun: Sie müssen Garantien übernehmen. Plötzlich wird das griechische Wirtschaften zum deutschen Problem: »Wir sind Griechenland – unser Euro in der Krise«. Es berichten Stefan Hanf, Udo van Kampen, Stephan Merseburger und Peter Sydow in einer 30-minütigen Dokumentation und in Magazinbeiträgen in »WISO«. Die Angst um die eigene Währung sitzt tief im deutschen Gedächtnis. Jetzt herrscht Sorge um den Euro, manche trauern um die Deutsche Mark, andere kaufen Gold. Vielleicht ist dies bezeichnend für das Jahr 2010: Es gibt Krise und Erholung nebeneinander, zeitgleich.

Auch die deutschen Banken zeigen sich in unterschiedlicher Verfassung: die Deutsche Bank stolz mit einem Milliardengewinn. Im Mai zeigt sich Josef Ackermann selbstbewusst bei Maybrit Illner und antwortet gelassen auf ihre Fragen nach der gesellschaftlichen Verantwortung der Banker. Auf der anderen Seite die Hypo Real Estate: Schon wieder vor dem Untergang, ruft sie nach weiteren staatlichen Milliardengarantien. Michael Haselrieder und Karl Hinterleitner nennen ihre Dokumentation »Verzockt, verloren, verstaatlicht – was kostet uns die Hypo Real Estate?«. Viel kostet sie uns. Immer mehr. Ein Fass ohne Boden.

Zu denen, die vor der Krise ganz besonders falsch liegen, gehören die großen und beherrschenden Ratingagenturen. Sie drücken ihr positives Siegel noch auf zwielichtige Produkte, als die Blase platzt. Dafür sind sie umso kritischer, wenn es um das Beurteilen von Euroländern geht. So verschärfen sie die Krise um Griechenland, Portugal und andere Länder. Heike Slansky schildert in »WISO« die zweifelhafte Rolle dieser Ratingagenturen und den Beginn der Debatte, die die Gründung einer europäischen Agentur als Gegengewicht zum Thema hat.

Gegen Ende des Jahres, als die guten Wirtschaftsmeldungen alles überstrahlen und die Aktienkurse Höchststände erreichen, müssen Millionen Kunden den Niedergang der offenen Immobilienfonds hinnehmen. Viele verlieren viel Geld. Das bestärkt noch mehr Menschen in dem Glauben, es bringe nichts, zu sparen oder an die Altersvorsorge zu denken. Obwohl wir intensiv in unseren Beiträgen immer wieder für private Vorsorge eintreten, nimmt die Zahl der Sparer ab, Lebensversicherungen werden gekündigt, Riester-Verträge beendet. Es bleibt eine journalistische Herausforderung, weiterhin die problematischen Folgen dieses Verhaltens zu schildern. Die führenden deutschen Wirtschaftsinstitute sehen optimistisch in das Jahr 2011. Vielleicht wird es so kommen, vielleicht auch nicht.
 
 
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