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Alexander Hesse, Hauptredaktion Kultur und Wissenschaft, Redaktionsleiter Geschichte und Gesellschaft

Die neue Liebe zum eigenen Land und »Terra X«

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Alexander Hesse
Alexander Hesse



»Superbauten – Schloss Neu-schwanstein«: König Ludwig II. (Jon G. Goldsworthy, links) überwacht jeden Bauabschnitt seines Schlossbaus
»Superbauten – Schloss Neu-schwanstein«: König Ludwig II. (Jon G. Goldsworthy, links) überwacht jeden Bauabschnitt seines Schlossbaus


»Deutschland von oben«: Das Münchner Oktoberfest bei Nacht
»Deutschland von oben«: Das Münchner Oktoberfest bei Nacht


Hallig Nordstrand in der Nordsee
Hallig Nordstrand in der Nordsee


»Deutschland von oben«: Der Leuchtturm von Westerhever
»Deutschland von oben«: Der Leuchtturm von Westerhever


Solaranlage Lieberose in Brandenburg
Solaranlage Lieberose in Brandenburg
 
 

Es mag sonderbar klingen, den Trend zu deutschen Themen bei »Terra X« und im Dokumentargenre mit einem Rundblick in die Welt zu veranschaulichen. Aber es hilft weiter. Der Fokus auf »Home Sweet Home« im Fernsehen ist ein internationales Phänomen: Doch das Interesse an heimischen Gefilden und nationaler Geschichte eint das globale Publikum nur scheinbar, denn die Beweggründe der Sendervertreter wie der Zuschauer aus den verschiedenen Kulturkreisen sind so unterschiedlich wie die Titel ihrer Lieblingssendungen.

Auszug aus einem Gespräch mit den Kollegen vom National Geographic Channel:
»An was wird in Amerika momentan gearbeitet, was läuft gut, hat die besten Quoten im Doku-Bereich?«
»Factual Entertainment, nach wie vor. Die härtesten Trucker, die waghalsigsten Fischer, die verwegensten Antiquitätensucher und Selbstversuche aller Art. Wir machen immer weniger Dokumentationen ohne Erlebnisfaktor.«
»Und wo soll der Erlebnisfaktor eingefangen werden – rein geografisch?«
»Das amerikanische Publikum will amerikanische Protagonisten in amerikanischer Umgebung.«

Na, klar: Je näher die eigene Lebenswirklichkeit abgebildet wird, umso besser. Auf diese Formel können sich alle Programm-Macher der Welt sicher einigen. Aber die Erzählformen und dramaturgischen Vorlieben unterscheiden sich in den unterschiedlichen Ländern fundamental: Amerikanische Autoren präsentieren die Resultate ihrer Arbeit am liebsten marktschreierisch direkt am Anfang, während wir Deutschen uns die Ergebnisse gerne bis zum Ende aufsparen – wir lieben eben in allen Genres den Krimi. In England stellt sich die Frage nicht, Hauptsache, das Programm ist zu jeder Zeit möglichst unterhaltsam. Für die Franzosen kann es wiederum nicht originell genug sein, was eine Zusammenarbeit mit den Kollegen aus den Vereinigten Staaten fast unmöglich macht, denn die Amerikaner setzen vor allem auf Fakten mit Abenteuer. Und noch eine Hürde liegt im Weg: Wenn die amerikanischen Dokuersteller beispielsweise an ihr Publikum denken, dann haben sie vor allem jüngere Männer vor Augen, während in der Alten Welt auch die Älteren angesprochen werden sollten.

Treffen mit den Kollegen vom History Channel:
»Wie sind die Gestaltungskriterien für die Dokus vom History Channel?«
»Schnell geschnitten, schnell zum Punkt, viele Rekapitulationen.«
»Was bleibt noch für Koproduktionen?«
»Wenn wir etwas Klassisches finden, dann gerne, möchte man denn in Deutschland etwas aus Ägypten, Südamerika oder Wildlife-Programme sehen?«

Die Antike, Archäologie und Naturprogramme – das war traditionell der gemeinsame Nenner, wenn es um kostenattraktive internationale Koproduktionen ging. Aber die Schnittmengen werden kleiner – für alle. Denn wenn Amerikaner beispielsweise kühne Regionen als Drehorte suchen, dann bleiben sie mittlerweile zuhause, es ist ja abenteuerlich genug zwischen Alaska (Eispanzer, noch) und dem Golf von Mexiko (Ölteppich, wieder). Die Briten begnügen sich im Natursektor mit verfilmten Bilderbüchern – wir aber nicht! Die Franzosen setzen weiterhin auf opulente Dokudramen, die hierzulande wie in England und Amerika schon lange nicht mehr en vogue sind. Grundsätzlich will jeder Partner bei gemeinsamen Projekten den Ton angeben und den Bezug zu seiner Heimat hergestellt wissen – und da ist der Produktionsort natürlich ein großer Verhandlungspunkt. So wie die Auswahl der Experten. Keine Koproduktion ohne Gefeilsche, wer wie viele muttersprachliche O-Ton-Geber bekommt. Keine Koproduktion ohne Gerangel, wo welche Umschaltpunkte bedient werden müssen. Keine Koproduktion ohne Gezerre um »Look and Feel« für seinen Slot.

Gedächtnisprotokoll des Gesprächs mit der BBC:
»Welches Dokuprogramm läuft im UK, das besonders auffällig ist?«
»Unsere Premiumprogramme aus dem Naturbereich. Aber auch ›Digging for Britain‹.«
»Digging for Britain?«
»Alle wichtigen archäologischen Ausgrabungen in England werden besucht, sehr jung.«
»Moderiert oder unmoderiert?«
»Moderiert: Eine 37-jährige Journalistin führt durchs Programm. Auch moderiert: Unsere ›Story of England‹ Michael Woods, ein bekannter Historiker, erklärt anhand eines Dorfes in Leicestershire die gesamte Geschichte Englands. Sehr erfolgreich!«.

Moderiert oder unmoderiert – die Frage steht immer am Anfang einer möglichen Zusammenarbeit. Das präsentierte Programm hat auch bei uns, bei »Terra X«, Karriere gemacht: Maximilian Schell entführt in die märchenhafte »Imperium«-Reihe, Sebastian Koch hat die »Superbauten« erklärt, Frank Schätzing das »Universum der Ozeane«. Und Dirk Steffens nimmt die Zuschauer bei den talentierten Tieren und faszinierenden Orten an die Hand. Mit Moderatoren werden Dokus episodenhafter, direkter und persönlicher – aber bleiben in der Regel unverkäuflich. Jedes Land hat für den Job vor der Kamera seine eigenen Helden, und nur in seltenen Fällen schaffen wir es, zwei Moderatoren aus zwei Ländern durch die gleichen Sets zu schleusen (so wie Thomas Reiter und sein BBC-Pendant Iain Stewart für »Terra X: Expedition Erde« beziehungsweise »Power of the Planet«). Aber der große Vorteil von moderierten Dokus neben den kürzeren Aufmerksamkeitsspannen: Egal, wo und wie der Berichtsgegenstand liegt, der Moderator ist einer von »uns« und sorgt für den Bezug zu seinen Landsleuten und für die Einordnung in »unser« Wertesystem.

Kaum ein Sender, der momentan nicht auf die Geschichte und Kultur des eigenen Landes schaut und – damit gar keine Zweifel aufkommen – die Verortung oft deutlich im Titel herausstreicht: »Story of England«, »History of Britain« (BBC), »America – The History of Us« (History Channel), »Die Deutschen«, »Deutschland von oben« – auch wir haben mit den Geschichten vor der eigenen Haustür viele Zuschauer gewonnen. Ob »Limes« oder die »Superbauten«, »Rungholt« oder »Deutsche Hanse«: Der Zauber hat sich nach und nach von den exotischen und mythischen Plätzen der Welt auf den heimischen Kulturkreis gelegt. Terra Deutschland als spannende Terra Inkognita. Die Welt scheint weitestgehend ausgeleuchtet zu sein: Fernreisen sind längst zur Normalität geworden; im Amazonas-Regenwald gibt es komfortable Führungen; Passagierschiffe fahren fast bis zum Nordpol und in die Antarktis; und die Olympische Flagge war neulich auch auf dem Mount Everest. Es lebe das Heimat-TV!

Treffen mit France Télévisions:
»Was waren in Frankreich im Dokusegment die Hits?«
»Hochwertige Geschichts-Dokumentations-dramen wie »Versailles«, »Les Rois Maudits«
(über französische Könige des 14.
Jahrhunderts). Oder auch »Die französischen Küsten«.
»Was ist neu?«
»Immer mehr Hosts im Programm.«
»Wie lauten denn die thematischen Kriterien?«
»Wir fragen bei jeder Akquisition: Was ist relevant für unsere Zuschauer? Wie berührt es unser Publikum? Was hat es mit unserer Identität, mit unserer Gemeinschaft und mit unserem Kulturkreis zu tun?«

Warum also allenthalben die neue Lust am eigenen Land? Ist es die Gegenbewegung zu vermehrt rational motivierten politischen Gemeinschaften, wirtschaftlichen Bündnissen und erdumspannender Kommunikation? Führen ähnliche Wertewünsche, vereinheitlichte Stadtbilder und der Spagat zwischen globalem Denken, aber zwangsläufig lokalem Fühlen, zur Renaissance der Regionen? Und bekommen die historischen Spuren eines Volkes gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten ein anderes Gewicht, weil sich die ökonomische Unsicherheit Haltepunkte sucht?

In Deutschland musste sich über ein halbes Jahrhundert eine neue nationale Identität entwickeln, der Zweite Weltkrieg aufgearbeitet werden, auch mit Hunderten Dokumentationen, bis der Patient schließlich reif war für frühere Verabredungen mit der Geschichte. Nach Wiedervereinigung und Fußball-WM im eigenen Land (bis heute gilt der 4. Juli 1954 – der Tag, an dem Deutschland zum ersten Mal Fußballweltmeister wurde – als eine Art »inoffizielle« Geburtsstunde der ­Bundesrepublik) scheint das Interesse an den eigenen Wurzeln und Landschaften größer denn je. Denn nur der freimütige Blick in die Vergangenheit erklärt – durch Läuterungen und Lehren – das Hier und Jetzt.

»Wir sind, was Ihr gewesen seid; wir werden sein, was Ihr seid«, besangen schon die Spartaner ihre Verbindung zur Ahnenwelt und zum Vaterland. Hierzulande ist nach wenig Ruhm und viel Reue ein neues Selbstverständnis entstanden. Etwas, dem wir mit der enormen Resonanz an den deutschen Themen bei »Terra X« gerne entgegenkommen.

Treffen mit NHK (Japan):
»Welche Themen wollen denn die Japaner sehen?«
»Alles, was im Weltall spielt. Der Kosmos fasziniert unsere Zuschauer.«
»Tatsächlich? Keine eigene Geschichte und Regionen?«
»Nein, nein. Momentan nicht.«
»Das Weltall-Programm ist ja schließlich genau das Gegenteil von nah und national.«
»Ja, die Dinge sind in Bewegung – ständig. Wenn man glaubt, die Themen-Goldader gefunden zu haben, sollte man schon längst an die nächste denken.«
 
 
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