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Dunja Hayali, Seit 2007 Komoderatorin des »heute-journals«, Hauptmoderatorin des »ZDF-Morgenmagazins«

Haben wir unseren Farbfilm vergessen – oder was ist hier los?
Welche Spuren die Integrationsdebatte hinterlassen hat

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Dunja Hayali
Dunja Hayali
 

Die Debatte um Multikulti und darüber, ob »Deutschland sich abschafft«, wie das ehemalige Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, Thilo Sarrazin, in seinem jüngst erschienenen Buch behauptet, hinterlässt natürlich auch ihre Spuren in der Nachrichtenberichterstattung. Wer könnte glaubwürdiger über die dabei auftretenden Widersprüche, aber auch über das Gelingen berichten als Dunja Hayali, seit 2007 Komoderatorin des »heute-journals« und neuerlich Hauptmoderatorin des »ZDF-Morgenmagazins«.

Haben wir unseren Farbfilm vergessen, oder was ist hier los? Das Jahr 2010 liegt hinter uns, und bei mir ist vor allem ein Satz hängen geblieben: Multikulti ist tot beziehungsweise gescheitert.

Was wollte mir die Politik damit sagen? Dass es in Deutschland keine Vielfalt gibt? Dass die Politik der 80er Jahre Multikulti als Leben und Leben lassen gesehen hat? Wer den Ansatz des multikulturellen Miteinanders so verstanden hat, der trägt die Verantwortung dafür, dass die Integration lange vernachlässigt wurde und jetzt in Zeitlupe passiert. Wer das so gesehen hat, hat die ein- und zugewanderten Menschen vom sozialen Leben sogar ausgeschlossen und macht jetzt sie dafür verantwortlich.

Und wenn Multikulti wirklich tot ist, was ist dann mit den Einwanderern, die das Land vorangebracht haben, die sich hier eingelebt, die Jobs, Freunde, Familie und Beruf haben? Was ist mit all denen? Und was ist mit meiner Familie und mit mir? Bin ich, obwohl in Deutschland geboren und groß geworden, nicht deutsch? Bin ich fremd im eigenen Land? Sicher nicht. Meine Familie und ich sind mit dieser Einstellung vielleicht nicht die Regel, aber sicher sind wir auch nicht mehr die Ausnahme.

Nicht wenige haben sich damals gefragt oder gedacht: »Die hat den Job doch nur wegen ihres Migrationshintergrundes bekommen.« Hätte man das einem Schweden auch unterstellt? Mal abgesehen davon: Wie soll sich ein Sender, ein Unternehmen oder ein Familienbetrieb denn eigentlich verhalten? Auf der einen Seite sollen und wollen sie aktiv für buntere Redaktionen, für Chancengleichheit bei gleicher Vorraussetzung eintreten, auf der anderen Seite schwingt immer noch der Generalverdacht der »Ausländerquote« mit. So lange das in den Köpfen drin steckt, selbst in so vermeintlich aufgeklärten wie in denen von Journalisten, so lange sind wir von einer Normalität weit entfernt. So lange wird es ein Politikum sein, wenn »einer von uns« die Nase vorn hat.

Also muss es um mehr gehen als nur um die Frage, woher jemand kommt und welche Abschlüsse er hat. Es geht um Identität. Denn wer sonst als die »Ausländer« können den Deutschen ihr eigenes Ringen um Identität vor Augen führen? Nicht umsonst wird die Frage »Was ist deutsch?« nicht mehr an und für sich diskutiert (oder nur noch unter Rechtsextremen), sondern in Abgrenzung und/oder Schnittmenge mit Menschen mit Migrationshintergrund. Dieses Gefühl verfestigte sich bei mir in diesem Sommer, als ich lesen musste, dass »Deutschland sich abschafft«. Bisher habe ich immer gesagt: Ich fühle deutsch und arabisch. Denn ich finde, die Zugehörigkeit zu einem Land hat nun mal etwas mit Gefühl, mit Anerkennung und mit Werten zu tun. Doch nach dem Erscheinen des Buches1 und der anschließenden Debatte hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, tatsächlich fremd im eigenen Land zu sein. Auch weil in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden ist, dass es anscheinend jemanden wie Thilo Sarrazin braucht, um auf die problematischen Seiten unserer heterogenen Gesellschaft aufmerksam zu machen. Wer das behauptet, verkennt die Wirklichkeit, auch die politische. Und im Übrigen stand Sarrazin nicht an der Wand, weil er die Probleme der Integration vor allem moslemischer Ausländer – teils zutreffend, teils oberflächlich, teils falsch – beschreibt, sondern weil er als Ursache dieser Probleme die genetische Disposition der Betroffenen benennt. Das ist Unfug und fast schon Zynismus. Und dennoch hat mich all das getrieben.

Identität ist nichts Touristisches, genausowenig wie es Nachrichten sind. Beide sind schon qua Definition international, also voller Migrationshintergründe, »Nachrichten aus aller Welt« eben. Nachrichten bringen die Welt ins Wohnzimmer und ziehen den Zuschauer in die Welt. Die Frage, wer wir sind, lässt sich deshalb auch nur global beantworten. Und Emotionen sind ohnehin grenzüberschreitend; die chilenischen Bergleute hätten auch Koreaner oder Inuit sein können – wo der Mensch ganz zu sich und zu seinem Besten, nämlich der Empathie findet, vergisst er Kleinkariertheit.

Leben ist Veränderung, Politik ist Gestaltung von Veränderung, Nachrichten bilden Wandel und Gestaltung ebenso wie Not und Euphorie ab.

Auf meiner Suche nach Identität sprach ich einige Menschen aus meinem Umfeld an. Ich wollte ein wenig Orientierung, ich wollte mich austauschen und ging zu den Klassikern: zu einem Taxifahrer, zum Schneider, zu meiner Gewürzverkäuferin und zu meinem Gemüsehändler. Ich stellte allerdings fest, dass der Diskurs, den ich führen wollte, manchmal doch etwas einseitig ausfiel. Einige waren der deutschen Sprache nicht wirklich mächtig, jedenfalls nicht mächtig genug, um sich auf ein solches Gespräch einzulassen, und andere wollten sich nicht äußern, weil sie so oder so die Verlierer sind, wie sie sagten.

Das stimmt und das stimmt wiederum nicht. Sie sind nur dann die Verlierer, wenn sie sich nicht einbringen. Wenn sie nicht rausrücken mit der Sprache. Doch dieses Umdenken fällt ihnen nicht leicht, denn jahrelang wurden zwar Pseudodebatten über sie geführt, aber eben nicht mit ihnen. Das ist das Gute an der aktuellen Situation, denn das scheint sich zu ändern. Anfänglich war die Debatte geprägt von »politisch korrekter Verlogenheit, Dummheit, Fremdenfeindlichkeit, bürgerlichem Verdruss über schöngeredete Zustände, falschen Tatsachen, großem Ernst und dem Bemühen um Toleranz«, wie Werner van Bebber schrieb (Tagesspiegel, 28. Oktober 2010), dem ich mich nur anschließen kann. Aber der Weg ist nun frei für eine ehrliche Diskussion über Notwendigkeiten. Und diese Diskussion zu spiegeln, sie einzuordnen, sie kritisch zu hinterfragen, das ist unsere Aufgabe. Die eines jeden Journalisten, eines jeden Senders. Und wenn wir wirklich der Spiegel der Gesellschaft sind, dann ist es auch unsere Aufgabe zu zeigen, dass es keinen Widerspruch zwischen Integration und der Wahrung der eigenen Wurzeln gibt. Wer könnte das glaubwürdiger tun, als die, die für den Sender arbeiten – vor und hinter der Kamera.

Nur wir dürfen einen Fehler nicht wieder begehen, der uns auch schon so oft bei anderen Themen passiert ist, weil wir getrieben von der Aktualität sind – wir dürfen diese Debatte nicht aus den Augen verlieren.

Als die Diskussion um Integration losging, sind alle wie nach Schema F auf das Thema an- und aufgesprungen. Die einen haben reflexartig die Vorzeige-Migranten gesucht, die anderen die, die es auch nach 15 Jahren in diesem Land noch zu nichts gebracht haben. Und so schön das ist, dass wir Mitri Sirin, Tarik El-Kabbani und noch einige andere auf dem Schirm haben, mindestens genauso wichtig ist es, dieses Thema zu begleiten, dauerhaft.

Welchen Einfluss wir Medienschaffenden mit Mi­grationshintergrund oder Migrationsvordergrund haben (ich weiß bis heute nicht, warum meine Geschichte beziehungsweise meine Identität hinter mir steht, aber sei`s drum), möchte ich nur anhand einer Geschichte verdeutlichen, die mir so oder so ähnlich in den letzten dreieinhalb Jahren immer wieder passiert ist. Auf meiner Suche nach Identität sagte ein alter Mann zu mir, dass er mir zur Debatte zwar nichts sagen möchte, aber er schaue ab und zu deutsches Fernsehen. ZDF. Ich fragte ihn, warum ausgerechnet ZDF? Er schmunzelte und sagte, dass seine Tochter glaube, seitdem sie mich gesehen habe, dass es möglich sei, seinen Weg zu gehen.

Die Kraft des Fernsehens in Bezug auf gelebte Integration ist nicht zu unterschätzen, das musste auch ich erst einmal lernen und habe es mehr oder weniger im Gleichschritt mit dem Sender getan. »Das ZDF hat sich geöffnet«, sagte der Mann noch – und wir beide grinsten uns an. Das sind die Momente, in denen ich spüre, dass sich etwas bewegt, dass wir etwas bewegen (können). Die schiere Sichtbarkeit schafft sanft Veränderung. Und es ist an der Zeit, dass es mehr werden, die in der Herkunft eines Menschen einen Mehrwert sehen, die erkennen, dass es um Potenziale und nicht um Religion geht.

Und während die Aussage über den Tod des Multikulturellen noch in meinem Kopf herumschwirrte, wurde die Fortsetzung der Kampagne »Raus mit der Sprache. Rein ins Leben.« von der Bundesregierung bekannt gegeben. Mit dabei: die Politikerin Aygül Özkan, die Turnerin Magdalena Brzeska, der Boxer Artur Abraham, der Fußballer Jérôme Boateng sowie die Rapper Sido und Harris. Auf den Fotos strecken die Botschafterinnen und Botschafter ihre schwarz-rot-goldene Zunge heraus. Die Nachricht ist klar: Die deutsche Sprache ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration.

Und wo wir schon bei Floskeln sind: Integration hatte und hat immer etwas mit fordern und fördern zu tun, Integration ist keine Einbahnstraße. Das alles können die meisten, vor allen Dingen die, die sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigen, kaum noch hören, aber erstens stimmen diese Floskeln und zweitens, sie gebetsmühlenartig herunterzubeten, reicht nicht. Es ist an der Zeit, genau das zu leben und vielleicht auch vorzuleben.

Wenn Moderatoren, Mitri, Tarik oder Dunja heißen, sind wir Zeugnis und Bote zugleich, vor allem aber stellen wir Themen vor, sind aber selbst kein Thema mehr. Das wünsche ich mir für die Zukunft. Aber nichtsdestotrotz: Ich habe und werde meinen Farbfilm nicht vergessen!
1 Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München 2010
 
 
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