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Peter Frey, Chefredakteur des ZDF

Näher an die Zuschauer
Wie das Fernsehen Informationen vermittelt

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Peter Frey
Peter Frey
 

Nachricht oder Show? Polarisierung oder Aufklärung? Mitmachfernsehen oder Programme zum Zurücklehnen? Zwischen Facebook, YouTube und »Scripted Reality« entsteht auch im ZDF ein neues Bild vom Journalismus.

»Berlin direkt« hat seit kurzem eine Rubrik, die zum Abschluss der Sendung mit einem unkommentierten Zitat ein ironisches Schlaglicht auf politische Kommunikation im Medienzeitalter wirft. Am 17. Oktober 2010 war dies der Ausschnitt eines Schaltgesprächs zwischen Claus Kleber und Karl-Theodor zu Guttenberg. Ersterer fragt: »Könnten Sie Kanzler?«. Letzterer antwortet: »Ach, Herr Kleber, Sie wachen ja auch nicht jeden Morgen auf und denken darüber nach, wie man ZDF-Intendant werden könnte.«

Gelesen wirkt der Wortwechsel eher schlicht. Und doch ist er ein Beispiel dafür, was Fernsehen in seinen besten Momenten ausmacht: Nicht die Information allein entscheidet, sondern auch das Dabeisein. Mitzuerleben, wie der Verteidigungsminister schaut, wenn er einer Frage ausweicht, wie die Kanzlerin sich verhält, wenn sie auf Koalitionsquerelen angesprochen wird, wie bürgerliche Demonstranten reagieren, wenn sich die Schutzmacht Polizei gegen sie wendet – all dies beobachtend erfassen zu können, hat einen Wert an sich. Und dieser Wert ist mit der Weiterentwicklung der digitalen Technik sprunghaft gestiegen.

Das Bedürfnis, dabei zu sein, nicht abgehängt zu werden, ist immens, das haben alle Großereignisse dieses Jahres gezeigt. Bei der Wahl des Bundespräsidenten blieben die Zuschauer dran, obwohl zwischen den Ergebnissen der Wahlgänge lange ereignislose Strecken lagen. Millionen Zuschauer verfolgten die Spezialsendungen nach dem Erdbeben von Haiti. Und die Spendenbereitschaft für die Flutopfer von Pakistan stieg spürbar, nachdem wir mit eigenen Reportern die Lage vor Ort bebildern konnten.

Wirklich deutlich wurde die Stärke des Bildmediums Fernsehen jedoch bei der Rettung der Bergleute in Chile. Die »ZDF spezial«-Sendungen waren ein Erfolg, die Nachrichten lagen erheblich über dem Quotenschnitt, und auf zdf.de und heute.de zeigte sich, dass in Situationen wie diesen vielen schon das reine Bild reicht: Mit bis zu 17 600 Sichtungen pro Minute verfolgten Tausende den Livestream der Bergung, sahen die pure Emotion der Geretteten, hörten spanischsprachige Telefonate des chilenischen Präsidenten und erlebten, wie die Rettungskapsel mit jedem Auftauchen mehr Optimismus brachte. Selbst in den Nachtstunden blieb der Livestream fast 10 000 Mal aktiviert. Ereignisse ohne redaktionelle Bearbeitung in dieser Form weiterzugeben, wird nach wie vor die Ausnahme sein. Dennoch zeichnet sich ab: Nicht immer ist es die journalistische Einordnung, die beim Publikum punktet. Manchmal ist es gerade das Unverfälschte, das der Zuschauer erwartet.

Wir stecken mitten im medialen Umbruch, der weit über technische Veränderung hinausgeht und das Ende der tradierten Rollenverteilung in der Medienlandschaft mit sich bringt. Den Flaschenhals Journalismus, der exklusive Informationen in verdaulichen Häppchen an die Menschen weiterreicht, gibt es nicht mehr. Längst teilen sich Presse, Radio und Fernsehen dieses Privileg mit einem Internet, das neben viel Subjektivem und ideologisch gefärbtem Inhalt ebenso viele gut recherchierte Informationen bietet. Und die Verfügbarkeit dieser Informationen steigt täglich mit neuen Endgeräten und Programmen, die den Zugriff schneller, übersichtlicher und bequemer machen. Hinzu kommt, dass sich die Bedürfnisse der Bürger verschieben – vom Rezeptiven ins Partizipative. Was sich im Politischen mit Bürgerprotesten à la »Stuttgart 21« äußert, findet im Informationsbereich seinen Ausdruck in alternativem Informationsaustausch (beispielsweise in Blogs und Foren) und in der Abkehr von klassischen Medien. Gesellschaftliches Engagement und Informationsbeschaffung/-verbreitung verschmelzen.

Und schließlich gibt es auch noch diejenigen, die unter Information längst nicht mehr das verstehen, was der öffentlich-rechtliche Kanon dafür vorsieht: Infotainment war gestern, Reality-Formate und »Scripted Reality« erobern den Markt, Spartensender fragmentieren das Publikum und ziehen stückweise, aber effektiv, Zuschauer ab, und ein breites Unterhaltungsprogramm drängt Informationsformate zunehmend an den Rand der Aufmerksamkeitsskala.

Noch ist nicht entschieden, wo in dieser medial veränderten Gesellschaft die alten neben den neuen Medien ihren Platz finden, welche Funktion sie in Zukunft ausüben werden und wer von ihnen letztlich den Takt im Konzert der politischen Meinungs- und Willensbildung angeben wird. Noch streiten Verlagsverbände mit Öffentlich-Rechtlichen, Blogger mit Printjournalisten, User mit Redaktionen. Immer geht es um die Frage, wer was wann wie vermitteln darf und soll. Und natürlich um die Frage, wer das, was die Endnutzer erwarten, bezahlen soll. Klar ist nur: Wer diese Fragen nicht schlüssig beantworten kann, verliert den Anschluss an die Lebenswelt und die Informationsgewohnheiten der heranwachsenden Generationen.

Und doch gibt es keinen Grund zu Pessimismus. Gabor Steingart stellte kürzlich für die Printmedien fest: »Wir reden von Medienkrise, und in Wahrheit erreichen alle Traditionstitel, von BILD über Spiegel bis zum Handelsblatt doppelt so viele Menschen wie vor Einführung des Internets.« Ähnliches gilt für unsere Programme: Gute Dokumentationen erreichen schon jetzt über die Mediathek bis zu 170 000 zusätzliche Zuschauer, die meist nicht zum ZDF-Stammpublikum gehören. Formate, die im Fernsehen erfolgreich sind, finden im Netz eine eigene Fangemeinde. Auf Facebook hat »heute« knapp 59 000 Freunde, die dort politische Nachrichten rezipieren und diskutieren. Und wenn die Onlineredaktion twittert, folgen ihr bis zu 25 000 Menschen. Das Bedürfnis der Menschen nach hochwertiger Information ist nicht zurückgegangen. Lediglich die Wege, auf denen die Information den Endnutzer erreicht, haben sich verändert.

Die technischen Grenzen zwischen TV und Internet verschwimmen – auch durch das Auftreten neuer Konkurrenten wie YouTube, Hulu oder Apple- und Google-TV, die Programme von Fernsehanstalten und Produzenten in alternativen Streaming-Systemen vertreiben. Und die Gewöhnung an zeitsouveräne und ortsungebundene Nutzung von Inhalten wächst und wird nicht umzukehren sein. Wenn ich die »heute«-Nachrichten auf meinem iPhone um 19.50 Uhr statt um 19.00 Uhr anschauen kann, warum sollte ich dann ein privates Telefonat abbrechen, das Abendessen schneller beenden oder Verabredungen mit Freunden nach den Sendezeiten des ZDF richten? Diese Freiheit zu beschneiden, liegt nicht in unserem Interesse; die Informationen so aufzubereiten, dass sie den Menschen weiterhin zur Verfügung stehen, und zwar in der Form, die der Endnutzer bevorzugt, hingegen schon.

Das ZDF muss in den nächsten Jahren zwei Herausforderungen bestehen: Zum Ersten: Das TV muss Leitmedium für Information bleiben. Dafür müssen wir unseren Platz im Spannungsfeld zwischen gestiegenem Unterhaltungsbedürfnis und veränderter Informationsbeschaffung neu definieren. Klar ist: Wir müssen ein Informationssender bleiben, der den Zuschauern Fakten und Aufklärung bietet, die sie als Bürger für die Teilhabe an den öffentlichen Dingen brauchen. Dazu gehören Nachrichten und Nachrichtenmagazine rund um die Uhr, Magazine wie »WISO«, »Frontal 21«, »auslandsjournal« und »Berlin direkt«, Dokumentationen – und neue journalistische Formen, die wir erst entwickeln müssen. Zum Zweiten müssen wir mit diesen Formen und ihren Inhalten die Mitte der Gesellschaft, die um die 40-Jährigen, erreichen. Dafür brauchen wir die neuen Plattformen, Online und Digitalkanäle. Nicht nur, um uns den veränderten Nutzungsgewohnheiten anzupassen, sondern auch, um neue Programmformen zu erproben und umzusetzen, was das Internet uns lehrt und bietet: Inhalte spielerischer aufzubereiten, den Input der Zuschauer und User anders und vielleicht auch besser aufzugreifen.

Im Wettbewerb um den Fernsehzuschauer haben die Privaten 2010 nach einer Zeit schwacher Quoten ihr Rezept bereits gefunden: Um das Bedürfnis des Zuschauers nach direkter Teilhabe an Emotion und Ereignis zu befriedigen, setzen sie auf Über-Dramatisierung in Scripted-Reality-Formaten und auf Identifikation in Casting-Dauerschleifen. In beiden Fällen werden Scheinrealitäten kreiert. Von Kritikern als »Sozialporno« verhöhnt, vom Zuschauer dennoch angenommen, entsteht hier eine Gattung der Informationsvermittlung, die sich an den Gesetzmäßigkeiten der Fiction und des Boulevard orientiert, aber weit von relevanter Information entfernt. Diesen Weg wird das ZDF nicht gehen. Aber wir werden die Erwartungen unserer Zuschauer ernst nehmen. Das heißt: Themen aufgreifen, die die Mitte der Gesellschaft bewegen. Zusammenhänge so erklären, dass unser Publikum den Mehrwert erkennt. Formate entwickeln, die die zentralen Fragen der Zuschauer behandeln. Und das alles mit einem starken journalistischen Profil: unabhängig, zuverlässig, aktuell.

Unsere Zuschauer erwarten transparente journalistische Entscheidungen, starke Liveeindrücke und ernstzunehmende interaktive Angebote. Das ZDF ist dafür gut aufgestellt: Wir haben ein ausgezeichnetes Korrespondentennetz, flexible Reporter und schlagfähige Hauptredaktionen, die gemeinsam beeindruckende Sonderprogramme wie die Chile-Spezials oder die Pakistan-Gala stemmen.

Wir schaffen einzigartige und erfolgreiche Onlineangebote wie »Die Deutschen«, den Livestream zur Chile-Rettung oder die 3D-Begleitung der Schätzing-Reihe »Terra X: Universum der Ozeane«. Und wir haben Moderatoren und Reporter, die Nachrichten und Rechercheergebnisse kompetent und glaubwürdig präsentieren können. Kurz: Wir verfügen über alle technischen und fachlichen Ressourcen, um unseren Zuschauern Informationen zuverlässig, zeitgemäß und plattformübergreifend zu präsentieren.

Diese Ressourcen müssen und wollen wir als Chance auch in einem schärferen Wettbewerb nutzen, um die Zukunftsfragen unserer globalisierten Gesellschaft so zu behandeln, dass sie die Zuschauer nicht nur verstehen, sondern sich auch in einer komplexer gewordenen Welt orientieren können.
 
 
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