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Peter Arens, Leiter der Hauptredaktion Kultur und Wissenschaft

»37°« – Rückblick auf 15 Jahre
Denn nicht allein die Politik prägt das Leben der Menschen

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Peter Arens
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Auf Ellesmere College ist Krawatte Pflicht. Szene aus »Einsame Klasse!«
Auf Ellesmere College ist Krawatte Pflicht. Szene aus »Einsame Klasse!«


Plakatmotiv zum Jubiläum
Plakatmotiv zum Jubiläum
 Wer eine Jubiläumsrede auf einen guten Freund schreibt, sollte sich einfach an die besonderen, gemeinsamen Momente erinnern und um diese herum die Laudatio komponieren. Dann gelangt man am ehesten zum Kern des Menschen und der besonderen Beziehung, die man zu ihm hat. Ich versuche nun das gleiche, wenn ich an meine 15 Jahre mit »37°« zurück denke: Auch hier können es die besonderen Filmmomente sein, die die ganze Reihe auf den Punkt bringen und ihr schlagendes Herz freilegen. Wahrscheinlich würden alle an »37°« beteiligten Redakteure jeweils andere Beispiele nennen, was ein gutes Zeichen für den immensen Reichtum dieser Programmidee ist. Mein besonderer Filmmoment ist klar. In einem Film über hyperaktive und gehandicapte Kinder zeigt dieser erst gegen Ende, dass die Mutter eines nervlich erkrankten Jungen jeden Abend mit diesem zu Bett gehen muss, und das immer um 20 Uhr. Anders ist der Junge nicht zu bändigen, seine Mutter hat seit vielen Jahren keinen Abend mehr erlebt. Diese Szene, die das Existenzielle scheinbar beiläufig erzählt, habe ich seither nicht mehr aus dem Kopf bekommen.

In formatästhetischer Hinsicht würde ich behaupten, dass in dieser Szene auch die besondere Stärke von filmischer Reportage verborgen ist. Die Menschen und ihre Milieus mit der Kamera einzufangen, statt über sie zu schreiben – wobei ich weiß, welch ungeheure analytische Kraft das geschriebene Wort hat –, ist in manchen Kontexten unübertreffliches Stilmittel. Bei »37°« versuchen wir, so weit es geht, unseren Stoff vor die Kamera zu bekommen: nicht über ihn zu sprechen, sondern ihn zu zeigen, nicht im Kommentar zu sagen, was unsere Helden denken und fühlen, sondern sie selbst dies sagen zu lassen, in professionell und einfühlsam geführten Interviews. Ein »37°«-Film über Armut in den Städten fokussiert allein auf die Betroffenen, kommt ohne Service und Verbrauchertipps daher, ohne politische Statements von Sozialämtern und Kommunalpolitikern, ohne Allwissenheit und Verurteilungen. Die fehlende politische Einordnung entspricht dabei nicht immer den Sehgewohnheiten der Zuschauer. Und dennoch ist der radikale, ausschließliche Blick auf unsere Helden, hinter denen das Thema bisweilen zurücktritt, genau das Markenzeichen von »37°« und vielleicht auch dessen Erfolgsgeheimnis.

Oft erzählen sich die Filme gleichsam von selbst, wenn die Autorinnen und Autoren aufmerksam genug mit den Helden unterwegs sind. Wir haben wenige Formatregeln, eher Leitmottos: Nicht, was die Menschen vergleichbar macht, sondern, was sie voneinander unterscheidet, dem gehört unser Interesse. Wir suchen Themen, hinter denen wir ein psychologisches und gesellschaftliches Muster erkennen können. Wir versuchen immer, herauszufinden, wie Probleme oder Konflikte begonnen haben. Vielleicht ist das der Grund für unsere häufigen Filme über Kinder und Jugendliche: Drogenmissbrauch und Jugendkriminalität, Schulstress, Kinderarmut, Verwöhnungsverwahrlosung, Entfremdung der Kinder von den Eltern. Dass die Jungen in der späten Primetime eines großen Senders so oft vorkommen, ist eher unüblich – wobei es so wichtig wäre.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass »37°«-Filme nie aufgehübscht werden müssen. Sie können ungeschminkt daherkommen, ohne dass die Geschichten, dass Text, Schnitt und Musik dramatisiert werden, wie in modernen Reportagen leider oft üblich. Das macht die Filme glaubhaft, bei den Zuschauern und übrigens auch bei den Porträtierten. So sehr, dass der Hinweis der Autoren, für »37°« zu arbeiten, bei besonders sensiblen Themen ein wichtiger Türöffner ist. Oft genug wird uns von den angefragten Protagonisten gesagt, dass sie für das Fernsehen nicht zur Verfügung stehen, dass sie für »37°« aber eine Ausnahme machen. Wie in diesem Jahr bei unserem Film über Kinder mit behinderten Eltern, die uns ihr logistisch und seelisch schwieriges Leben drehen ließen. Oder bei »Generation Porno«, wo Jugendliche und ihre überraschten Eltern mit unseren Autoren über Pornokonsum im Netz und viel zu frühen Sex sprachen. Dabei hat »37°« trotz ­heikler Themen nie verbrannte Erde hinterlassen, in 15 Jahren nicht ein Mal.

Noch etwas liegt mir am Herzen, und das betrifft unsere Zuschauer. Wie oft haben wir zum Beispiel vom Kampf der Menschen mit schweren Krankheiten und Behinderungen berichtet. Es waren alles andere als einfache Filme, und dennoch hatten sie in der Regel ein großes Publikum. Die gleiche Erfahrung machten wir bei Filmen über Armut, wobei die Mittellosen, wie Rilke sagt, von innen leuchten können. Unsere Erkenntnis lautet: Die Zuschauer lassen sich in großer Zahl vom Unglück anderer ergreifen, sie leiden mit und zeigen Empathie. »Leben auf kleinstem Fuß« porträtierte eine Familie in Brandenburg, die durch die Krankheit ihres Vaters in existenzielle soziale Not geraten ist. Der Film rief bei unserem Publikum eine unglaubliche Solidarität hervor, schon am nächsten Tag waren fast 1 000 Anrufe und E-Mails mit Hilfsangeboten in der Redaktion eingegangen. Auch wenn wir gelegentlich an unserem Deutschsein verzweifeln, belegen Reaktionen wie diese, dass die Deutschen ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl und eine große Hilfsbereitschaft für Menschen in Not haben.

Aus der kleinen, feinen Reihe mit dem merkwürdig genialen Titel ist ein aussagestarker und einflussreicher Programmplatz geworden, der sich einmischt in unser tägliches Gemeinwesen. »37°« ist kein Politik- oder Kulturformat im traditionellen Sinne, sondern interpretiert diese Genres als eine Kultur der Umgangsformen und des Miteinanders. Getreu dem sozialen Vertrag, dass der Mensch für den Menschen da ist. »37°« ist so zu einer eigenständigen, einzigartigen Marke im Dickicht der Reportageformate geworden – und das ist das größte Kompliment, das man einer Sendereihe machen kann.
 
 
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