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2008  
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Gert Scobel, Subkoordinator Wissen, 3sat

Die »Dritte Kultur« im Fernsehen

 
Gert Scobel
Gert Scobel
  Es gibt Pluralismus nicht nur in der Gesellschaft, sondern selbstverständlich auch in den Medien. Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen als eine Form der Theorie und Praxis medialer Arbeit beinhaltet in sich selbst sehr unterschiedliche Formen von Programm. Würde man auf einer imaginären Skala den »Imagewert« oder die Nähe einer Sendung zum öffentlich-rechtlichen Kernauftrag der Bildung und Information eintragen, von Minus über Null zu Plus, dann wäre die Sendung »scobel« bei 3sat vermutlich deutlich im oberen Plusbereich zu finden. Darin liegen Chancen, aber auch Probleme, auf die es kreative Antworten zu finden gilt.

2008 wurden Bildung und Information bei 3sat unter anderem im so genannten Bereich der »Subkoordination Wissen« zusammengefasst. Wissenschaft und Kultur bilden dabei zusammen eine Form des Wissens, die John Brockman als »Dritte Kultur« bezeichnet hat. Diese »Dritte Kultur« herzustellen, ist eine der zentralen Aufgaben der Redaktion »scobel«. John Brockman spielte mit dem Begriff auf die 1959 erschienene, sehr einflussreiche Arbeit The Two Cultures and the Scientific Revolution (Die zwei Kulturen und die wissenschaftliche Revolution) an, die der englische Wissenschaftler und Schriftsteller Charles Percy Snow verfasst hatte.

Snows Analyse zufolge durchzieht die Gesellschaft eine Kluft, die sich zwischen den beiden Kulturen der naturwissenschaftlich Gebildeten und der »Literatur-Intellektuellen« entwickelt hat, deren Messlatte der herkömmliche Bildungskanon ist. Die Kluft führe, so Snow, zu einer Verarmung der Gesellschaft, zu einer Reduktion der Kommunikation und schließlich zu einem Niedergang des gesellschaftlichen Klimas. Die »Dritte Kultur« arbeitet dem entgegen und versucht, die entstandene Lücke wieder zu schließen.

Und tatsächlich ist eine neue Generation von Wissenschaftlern, Denkern, Intellektuellen und interessierten Laien entstanden, die zeigt, dass Philosophie, Molekularbiologie, Physik, Kunst und moderne Literatur keine einander ausschließen-den Bereiche mehr sind. Die Frage ist jedoch, wo sich im Fernsehen eine Sendung finden lässt, in der die herkömmlich getrennten Bereiche, die sich zuweilen noch in der Aufteilung von Redaktionen und Abteilungen widerspiegeln, zusammenfinden?

Als 3sat sich entschloss, die Sendung »delta« als bislang einziges interdisziplinäres Fernsehprogramm zu einer wöchentlichen Sendung zu machen, spielte diese Idee eine wichtige Rolle. In 3sat bedingt die tägliche Berichterstattung aus den Bereichen Kultur (»Kulturzeit«) und Wissenschaft (»nano«), dass die beiden Kulturen zusammenfließen mit gesellschaftlichen, politischen und philosophischen Fragestellungen. Die Sendung, die dies explizit thematisiert, ist »scobel« – das neue Magazin, das seit April 2008 regelmäßig donnerstags in der Primetime von 21 bis 22 Uhr ausgestrahlt wird.

Dass sich die Sendung nicht abschottet, sondern, im Gegenteil, gesellschaftlichen Themen gegenüber öffnet, gehört zum Programm. Oftmals sind es gerade die Boulevardthemen, die tatsächlich mit dem Finger auf eine offene Wunde zeigen. Allerdings auf eine Art und Weise, die das Denken eher ausschaltet als befruchtet, die kritische Einschätzungen eher untergräbt als fördert. Kant definierte Aufklärung als Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Was Unmündigkeit ist – und ein Teil der Medien dürfte nach Kants Ansicht darunter fallen –, definiert Kant klar: »Das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«. Zugegeben: Das geht nicht immer ohne Anstrengung, ohne eigene innere Beteiligung. »Es ist bequem, unmündig zu sein«, notierte Kant im Dezember 1783 und hätte sicher nicht gezögert, diesen Satz auch auf die heutigen Medien anzuwenden. »scobel« ist sicher nicht die bequemste aller Sendungen. Sie verlangt etwas, das zugegebenermaßen nach einem langen Arbeitstag für manchen zu viel ist: Neugier und Interesse, vor allem aber Konzentration und den Willen, mitzudenken. Und doch bietet sie denen, die dazu bereit sind, genau das.

Um sich über sich und seine Zeit aufzuklären und sie in Gedanken und Bildern zu erfassen, bedarf es heute zweierlei. Zum einen eine gezielte Bildung der Urteilskraft. Mir selbst scheint, dass der Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens nicht nur darin besteht, klassische Bildungsinhalte ins Fernsehen zu bringen (so wichtig dies nach wie vor ist), sondern auch, die Urteilskraft selbst zu bilden. Diese Aufgabe ist nicht leicht zu bewerkstelligen – und vielleicht müssen neue Formate entwickelt werden, die dies besser als bisher zu leisten vermögen. Doch genau darin liegt ein Public Value des Fernsehens.

Zweitens muss die gebotene Information als Grundlage für das eigene Denken und die Arbeit an der eigenen Urteilskraft von hoher Qualität und Zuverlässigkeit sein. Um noch einmal zurückzukommen auf die Boulevardthemen: Man kann, ja, sollte sie als öffentlich-rechtliches Fernsehen aufnehmen und bearbeiten. Aber man sollte es auf eine Art und Weise tun, die den Absichten des Boulevards geradezu entgegengesetzt ist. Nicht die (unzulässige) Reduktion der Komplexität der Welt auf ein, zwei Sätze und Gefühle kann das Ziel sein. Es kann nicht um eine falsche Einfachheit gehen, indem man auf die Qualität der Information und die Komplexität der tatsächlichen Hintergründe verzichtet. Medienstudien mögen zeigen, dass Komplexität im Fernsehen durchaus den einen oder anderen Zuschauer abschreckt – lebt er oder sie doch bereits in einer komplexen Welt, die mit ihren Widersprüchen leicht überfordert, und verlangt daher nach Einfachheit und Übersichtlichkeit. Und doch hängt auch dies mit dem Bildungsauftrag maßgeblich zusammen: die Komplexität der realen Welt nicht auszuschalten.

Bildungsauftrag bedeutet, sich der Versuchung zu widersetzen, aus einer in Wahrheit vierdimensionalen Welt eine zweidimensionale zu machen, auch wenn die beiden Dimensionen am Ende schön aussehen und HDTV-tauglich sind. »scobel« soll für 3sat die Herausforderung annehmen, Themen in ihrer Komplexität zu beleuchten – und dem Zuschauer helfen, sich dennoch zu orientieren. Es geht um Verständlichkeit (daran muss immer wieder neu gearbeitet werden, was mal besser, mal weniger gut gelingt), klare Strukturen – und darum, die Neugier für die Welt, die Kultur und Gesellschaft zu wecken, in der wir leben.

Entsprechend sollen auch die journalistischen Formen, die auf dem Sendeplatz zugelassen sind, alle Genres umfassen – darunter Formen wie Magazin, Reportage, Talk, Dokumentation oder Live vor Ort. Die erste Sendung am 17. April 2008 griff ein Thema auf, für das nahezu ein Dreivierteljahr recherchiert wurde. In Zusammenarbeit mit Psychiatern, Kriminalbeamten, Richtern, Anwälten, Psychologen, Ärzten, Opfern sowie Täterinnen und Tätern befasste sich »scobel« mit dem Problem der Kindstötung – ein Delikt, über das in den Medien mit großem Spektakel berichtet wird. Tatsächlich aber ist Kindstötung keine Seltenheit, passiert rein statistisch jede Woche – und könnte häufig verhindert werden. In einem von der Redaktion betreuten Dokumentarfilm von Manfred Karremann und einer anschließenden »scobel«-Sendung mit weiteren Filmbeiträgen, in denen Opfer und Täter, vor allem aber auch Sachverständige samt der Bundesjustizministerin zu Wort kamen, wurde das Thema in seiner Komplexität dargestellt. Dem Zuschauer erschloss sich, wie auch die TV-Kritiken zeigten, eine neue Dimension dieses schwer zu verstehenden Tötungsdelikts, die es ermöglichte, sich selbst eine Meinung zu bilden – und zu handeln.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass »scobel« erstens auf die »Dritte Kultur«, das heißt, auf die interdisziplinäre Begegnung und Reibung zwischen Geistes-, Kultur-, Gesellschafts- und Naturwissenschaften setzt. Das Format lebt dabei von der durchgängigen Haltung der Neugier und Begeisterung dem Thema gegenüber – eine Haltung des engagierten Fragens, die sich auf den Zuschauer übertragen soll. Erkenntnisgewinn verbindet sich auf diese Weise mit Unterhaltung.

Zweitens besteht das »Surplus« der Sendung im Unterschied zur »klassisch«-journalistischen Vermittlung von Hintergrund und Information (dem herkömmlichen Verständnis von Wissen) in der Entwicklung von übergreifenden Fragestellungen und dem Knüpfen neuer Beziehungen zwischen ihnen. Durch diesen Prozess des Fragens, der hilft, einen neuen, frischen Blick auf das jeweilige Thema zu werfen, sollen auch weniger bekannte, »neue« Perspektiven des Verstehens eröffnet werden, die überraschen können, das heißt, unerwartete Ähnlichkeiten aufdecken.

Drittens will »scobel« immer wieder den Blick auch auf die Auswirkungen des Wissens auf Gesellschaft, Kultur und das eigene Leben der Zuschauer lenken.

Entscheidend bei all dem ist die Qualität und die Herangehensweise, die beim Zuschauer Lust und Neugier weckt, sich selbst weiter mit den Themen und Fragestellungen auseinanderzusetzen und vom Wissen selbst zu profitieren, das auf dem Weg dieser Auseinandersetzung gewonnen wird. Obwohl es verschiedene journalistische Formate gibt, sind diese beiden Aspekte, Qualität und Neugier, neben dem Moderator, der durchgehende rote Faden der Sendung.

Anzufügen wäre noch, dass zu »scobel« – neben einem philosophischen Format, Vor-Ort-Sendungen, Mischformen von Reportage und Dokumentation – auch ein literarisches Gespräch gehört sowie das Sendeformat des »musikalischen Gesprächs«. Dies stellt eine im Fernsehen derzeit einzigartige Mischung von Livemusik im Studio und Gesprächen mit den Musikern dar, deren Ziel es ist, auch Laien verständlich zu machen, worum es in der Musik geht und was man sehen und hören kann.
 
 
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