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2008  
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Martin Pieper, Subkoordinator ARTE, Kultur und Wissenschaft

Der China-Schwerpunkt bei ARTE
Ein (olympisches) Spiel mit Erwartungen und Enttäuschungen?

 
Martin Pieper
Martin Pieper


Die »singenden Dünen« von Dunhuang in der Provinz Gansu
Die »singenden Dünen« von Dunhuang in der Provinz Gansu


Der Himmelssee im Tienshan-Gebirge, Chinas größter Kratersee
Der Himmelssee im Tienshan-Gebirge, Chinas größter Kratersee


Uiguren auf dem Viehmarkt in Kashgar
Uiguren auf dem Viehmarkt in Kashgar


»Ein Hauch von Zen«: Yang (Hsu Feng) wehrt sich gegen die Geheimagenten des kaiserlichen Obereunuchen
»Ein Hauch von Zen«: Yang (Hsu Feng) wehrt sich gegen die Geheimagenten des kaiserlichen Obereunuchen
  »Was wir vor Olympia über China wussten? Dass es ein extrem großes Land ist, in dem ganz viele Menschen leben, die ihre Umwelt extrem verschmutzen und von einer ganz undemokratischen Regierung geführt werden. Obwohl die einzige Partei sich kommunistisch nennt, sind manche ganz reich und viele extrem arm. So weit der Scherenschnitt, der als Schablone der Vorberichterstattung im deutschen Funk und Fernsehen, im Internet und auf Papier verwendet wurde. Sofern sich niemand traute, die Erwartungen der Medienkonsumenten mit einem differenzierteren Blick zu enttäuschen.«1

Natürlich traute sich ARTE! Die differenzierte Betrachtung ist bei uns geradezu eine Erwartung der Medienkonsumenten. Die Pubertät hat ARTE inzwischen überwunden und zu gemäßigteren Formen des Umgangs mit dem Zuschauer gefunden. Doch wie viel Widerständigkeit sich ARTE bewahrt und auf wie viel Erwartbarkeit es sich eingelassen hat, lässt sich gerade am China-Schwerpunkt gut ermessen.

17 Programme hat das ZDF bei ARTE zum Olympiajahr beigetragen. Vor dem eigentlichen Ereignis und der damit verbundenen medialen Konzentration auf China sind eher technikorientierte Programme zum Zuge gekommen, denn den Auftakt bildeten der Bau der Tibetbahn und des neuen Flughafens von Shanghai. Mit mehr als 1 100 Kilometern Schienenweg, davon 960 Kilometer in über 4 000 Höhenmetern, gehört die Qinghai-Tibet-Bahn zu den baulich schwierigsten Eisenbahnstrecken der Welt und ist somit zweifelsfrei als technische Meisterleistung einzuschätzen. Die Dokumentation beleuchtete – neben den mit dem Bau verbunden ökologischen Aspekten – vor allem die technischen Herausforderungen, die es durch die extremen Geländebedingungen und Wetterbedingungen zu überwinden galt. Der architektonischen Leistung des von der französischen Architekturlegende Paul Andreu im Spannungsverhältnis zwischen Moderne und chinesischer Tradition entworfenen Flughafens von Shanghai hat sich im Rahmen der Reihe »Moderne Luftschlösser« der Film »Shanghai Pudong International Airport« gewidmet.

Mit »Tsingtau – auf deutschen Spuren in China« und der Dokumentation »Peking 1900 – Aufstand der Boxer« ging ARTE auf einen weitgehend unbekannten historischen Aspekt des Verhältnisses zwischen China und Europa beziehungsweise Deutschland ein. Die Stadt Tsingtau im Nordosten Chinas sollte eine deutsche »Musterkolonie« im Fernen Osten werden. Ende 1897 besetzten deutsche Soldaten auf Befehl von Kaiser Wilhelm II. die Bucht von Tsingtau und bauten sie als Marinestützpunkt und Handelsplatz aus.

Der Dokumentarfilm erzählt die Geschichte dieser deutschen Kolonie in Asien und wirft einen Blick auf die Gegenwart der Stadt, die heute Qingdao heißt und zu den Boomstädten an Chinas Ostküste zählt. Die von den Deutschen erbaute Altstadt Qingdaos ist zum größten Teil erhalten geblieben. Die Dokumentation über den Boxeraufstand im Jahr 1900 zeigt, basierend auf den Berichten und Tagebüchern der Eingeschlossenen und den offiziellen Dokumenten westlicher und chinesischer Archive, die Geschichte eines Aufstands, der im Westen weitgehend vergessen ist, dessen Verlauf in China aber jedem bekannt ist. 55 schreckliche Tage lang wurden mehr als 3 000 Ausländer und chinesische Christen von Mitgliedern der radikalen chinesischen Boxerbewegung belagert. Es war zugleich der Anfang vom Ende des mehr als 2 000 Jahre alten chinesischen Kaiserreichs.

Einen westlich geprägten Blick auf Randgebiete des heutigen Chinas warf der Sinologe Volker Häring, der per Fahrrad Xinjiang, die nordwestlichste und größte Region Chinas, erforschte. Eine Region, die aus Sicht vieler Han-Chinesen als »Chinas Wilder Westen« – so auch der Sendungstitel – gilt. Die Provinz ist trotz der Ansiedlung von sechs Millionen Han-Chinesen eine eigene Welt geblieben. Der Radscout entdeckte eine Region mit zwei Gesichtern.

Chinesischstämmige Autoren prägten den Themenabend »Im Herzen Chinas – der Jangtse«, der mit dem Spielfilm »Balzac und die kleine chinesische Schneiderin« den Wert von Freundschaft und Literatur, von Neugier und Poesie in schweren Zeiten bezeugte. Mit dem preisgekrönten Dokumentarfilm »Up the Yangtze – eine Landschaft verschwindet« werden die dramatischen Auswirkungen des Baus des »Drei-Schluchten-Staudamms« auf Land, Kultur und Bevölkerung erzählt. Im Mikrokosmos der Hierarchien und Befindlichkeiten der Beschäftigten des Kreuzfahrtschiffes »Farewell Cruises«, das Touristen durch die allmählich versinkende Landschaft führt, fand der Filmemacher Yung Chang die »ultimative Metapher« für das gegenwärtige China.

Auch der Dokumentarfilm »Zhao und Yang – die Unbeirrbaren« beschäftigt sich aus chinesischer Innenperspektive mit dem Wandel im heutigen China. In einer winzigen Wohnung in Peking teilen Zhao Wenliang und Yang Yushu ihre Leidenschaft fürs Malen. Die beiden Künstler waren und sind Außenseiter der chinesischen Gesellschaft. Die Geschichte der beiden spiegelt die Historie der Volksrepublik China – von Maos Sieg und der Kulturrevolution bis zur Kommerzialisierung heute –, und zwar aus der privaten Perspektive einfacher Menschen, die die Entwicklung am eigenen Leibe erfahren haben.

Im August dieses Jahres zeigte ARTE die Reihe »Chinas Kunst-Avantgarde – Die Zukunft ist jetzt«, jeweils sonntags zur besten Sendezeit und 20.15 Uhr. Die vier Folgen widmen sich dem Maler Liu Xiadong, dem Filmemacher Yang Fudong, der Multimedia-Künstlerin Cao Fei und dem Fotografen Chi Peng.

Die mit dem Adolf Grimme Preis ausgezeichnete ZDF/ARTE-Reihe »Durch die Nacht mit ...« lässt chinesische Kulturschaffende zu Wort kommen: Der Regisseur Wayne Wang, bekannt durch die Produktionen »Smoke« und »Manhattan Love Story«, besuchte in Boston mit Ha Jin einen der erfolgreichsten chinesischen Schriftsteller, der mit dem National Book Award und PEN/Faulkner Award ausgezeichnet wurde. Beide haben ihrer Heimat den Rücken gekehrt, können aber trotzdem in ihren Geschichten nicht von ihr lassen. Wangs jüngster Film »Mr. Shi und der Gesang der Zikaden« und auch Ha Jins aktueller Roman A Free Life handeln vom Leben der chinesischen Immigranten im gutbürgerlichen amerikanischen Milieu. Boston, die Stadt mit der drittgrößten chinesischen Population in den Vereinigten Staaten, war der perfekte Ort, um sich mit der Frage nach ihrer kulturellen Identität auseinanderzusetzen.

Im Spielfilm »Ein Hauch von Zen« aus dem Jahr 1969 erforscht der Regisseur King Hu in einem ausladenden Epos die philosophischen und mystischen Dimensionen von Martial-Arts-Filmen. Es wurde eine sehr teure Produktion – nicht zuletzt wegen King Hus akribischer Arbeitsweise: Fast neun Monate brauchte er zum Aufbau des verlassenen und zerstörten Forts, und auf die berühmte Kampfszene im Bambuswald, die im Film knapp zehn Minuten dauert, verwendete er 258 Drehtage. Der vom Produzenten auf zwei Stunden gekürzte Film wurde ein totaler Misserfolg. Erst später gelang es dem Regisseur, die ursprüngliche dreistündige Fassung wiederherzustellen, die 1975 in Cannes gezeigt und im China-Schwerpunkt in einer verbesserten Bildqualität ausgestrahlt wurde.

Musikalisch bildeten zwei Programme eine Art Coda zum China-Schwerpunkt: die zum 150. Geburtstag von Giacomo Puccini ausgestrahlte Opernaufzeichnung »Turandot« in einer Inszenierung von Chen Kaige – musikalisch geleitet von Zubin Mehta – sowie ein Dokumentarfilm über den chinesischen Pianisten Yundi Li.

Wie muss also das Resümee beim China-Schwerpunkt in ARTE lauten? Enttäuschung oder bestätigte Erwartungen? China ist ein komplexes Thema, und das »Fremdeln« hat im Verhältnis zwischen den Kulturen Europas und dem Reich der Mitte Tradition. Nach den ersten Berichten Marco Polos im elften Jahrhundert konnten die europäischen Intellektuellen dank der christlichen Missionare ab Ende des 16. Jahrhunderts erstaunt eine völlig neue Welt wiederentdecken – keine barbarische oder naturbelassene Welt, sondern eine intakte Hochkultur. In seinen Untersuchungen über »Wirksamkeit und Effizienz« im Vergleich von chinesischem und westlichem Denken beruft sich der französische Sinologe und Philosoph François Julien auf Pascal und Montesquieu, um europäische Ängste und Verständnisschwierigkeiten bloßzulegen. Er zitiert den deutschen Philosophen Leibnitz, der von Chinesen als »Leute von einem anderen Globus« spricht. Leibnitz sprach sich im 17. Jahrhundert für den Kulturaustausch mit den Chinesen, für ein »Lernen« von China aus. Nun sind wir rund 300 Jahre später wieder soweit. Wieder findet sich in der Beschäftigung mit China die bange Frage nach dem Bestand der eigenen Kultur, des eigenen »Erfolgsmodells« vor »dem Aufstieg des chinesischen Riesens«. Es besteht weiterhin ein eigentümliches Missverhältnis zwischen der Fülle an Informationen über China und der weiter fortbestehenden Unkenntnis seiner Kultur.

Was wissen wir nach den Olympischen Spielen und dem ARTE-Schwerpunkt über China? Jedenfalls mehr, als dass es »nur« ein Land der Extreme ist. Womöglich konnten wir Erwartungen wie die Vermittlung »eines Mindestmaßes an Wissen über chinesische Philosophie, Geschichte und Kunst« nicht erfüllen. Dies kann aber auch nicht Aufgabe des Fernsehens sein – auch dann nicht, wenn es sich um ARTE handelt. Der interessierte Zuschauer hat allein mit den vom ZDF verantworteten Programmen des China-Schwerpunkts Beispielhaftes zu Gesellschaft, Geschichte und Kunst des Reichs der Mitte aus westlicher und chinesischer Perspektive erfahren können. Dem zu Anfang zitierten Scherenschnitt der vorgefertigten Schab­lonen haben wir uns damit widersetzen können. Mission accomplie!

1 Cai Thore Philippsen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. August 2008

 
 
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