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Wolfgang Bergmann, Leiter des ZDFtheaterkanals

Meike, Shakespeare und »Liebe Macht Tot(d)«

 
Wolfgang Bergmann
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Eröffnungsvorstellung in der Berliner »Wabe«
Eröffnungsvorstellung in der Berliner »Wabe«


Eröffnungsvorstellung in der Berliner »Wabe«
Eröffnungsvorstellung in der Berliner »Wabe«


Behinderte Jugendliche spielen Shakespeare. Szenen aus »Verliebt – Verirrt – Verwirrt« mit dem Theaterprojekt Eisenhans
Behinderte Jugendliche spielen Shakespeare. Szenen aus »Verliebt – Verirrt – Verwirrt« mit dem Theaterprojekt Eisenhans


Behinderte Jugendliche spielen Shakespeare. Szenen aus »Verliebt – Verirrt – Verwirrt« mit dem Theaterprojekt Eisenhans
Behinderte Jugendliche spielen Shakespeare. Szenen aus »Verliebt – Verirrt – Verwirrt« mit dem Theaterprojekt Eisenhans
  Es war für mich der bewegendste, der herausragende Moment in einem ohnehin aufregenden Theaterjahr, das zu einem Shakespeare-Jahr geworden ist, ohne dass wir es vorausgesehen haben: Die schwer an Leib und Geist behinderte, an den Rollstuhl gefesselte, sprachunfähige Darstellerin Meike erhebt in einer Aufführung ihrer Theatergruppe Eisenhans plötzlich das Wort. Sie mischt sich ein in den Dialog ihrer Mitspieler, alle mehr oder weniger gehandicapt, aber mit Feuereifer am Werk, ihrer Shakespeare-Interpretation »Verliebt, verwirrt, verirrt« Ausdruck zu verleihen. Es geht um jene Themen, um die es immer geht – bei Shakespeare und im Leben. Es geht um Themen, von denen man nicht nur als behinderter Mensch ein Lied zu singen weiß. Es geht um Themen, bei denen wir alle, sichtbar oder weniger sichtbar, unseren Behinderungen begegnen. Wie geht Liebe, ohne zu verletzen? Was macht Macht aus Menschen? Wo und wann wartet der Tod auf uns, um dem Spiel ein Ende zu bereiten?

Die von Down-Syndrom, Tourette oder Hyperaktivität gezeichneten Darstellerinnen und Darsteller des Theaterprojekts Eisenhans aus Hamburg stellen diese Fragen aus ihrer Sicht neu. Und weil sie noch jünger sind, geht es ihnen vor allem um die Liebe. Und wie bei Shakespeare auch, stehen dabei Verwirrungen und Verirrungen im Vordergrund. Warum kommt das, was ich fühle, so selten unverfälscht beim geliebten Gegenüber an? Warum sind Begegnung, Vertrauen, echtes Verständnis und Liebe so schwer zu leben? Warum ist die Sehnsucht, aus der ewigen Einsamkeit zu entkommen, die unteilbar mit Liebe verbunden ist, so schwer zu teilen? Diese Fragen stellen sich für Menschen mit Behinderungen noch einmal auf eine ganz andere Weise. Sie stellen sich ganz stofflich. Bin ich hässlich? Warum kann ich nicht aufstehen und davonrennen? Warum versteht denn keiner, was ich meine, wenn ich spreche? Warum haben andere Menschen Angst vor mir?

Wir Zuschauer, die diese Aufführung im Rahmen des Theaterfestivals »Schüler spielen Shakespeare« in der Berliner »Wabe« verfolgen, merken schnell, dass wir keinen Abend wie jeden anderen erleben. Es ist das fröhliche, berührende, ungewohnt authentische Bild einer Shakespeare-Rezeption, die wirklich ans Eingemachte geht, weil sie so beiläufig und vermeintlich harmlos daherkommt. Aber Helena, Hermine, Lysander und all die anderen kommen uns mit ihren Songs und Improvisationen an diesem Abend näher als manche »Sommernachtstraum«-Inszenierung großer Profitheater. Ihr Spiel ist nicht gemeinte, hergestellte Befindlichkeit. Es ist wahrhaftig – und das spürt auch Meike auf der Bühne. Aufgrund ihrer besonders schweren Behinderung kann sie verbal-motorisch kaum in das Spiel der Gruppe eingreifen. Sie wird von ihren Mitspielern auf der Bühne hin- und hergeschoben und ist ein wichtiger Teil des Tableaus, das sich auf der Bühne zu immer neuen Szenen gruppiert. Irgendwann, in einer dieser herzzerreißenden Shakespeare-Situationen verzweifelter Verliebtheit, hält es Meike nicht mehr. Sie mischt sich ein. Sie spricht, stimmt zu, wägt ab, verneint, so gut es geht, unverständlich, aber so klar, dass es auf dem letzten Stuhl im Zuschauerraum zu verstehen ist. Sie erzählt ihre Geschichte von Liebe und Sehnsucht. Und die ist dramatisch. Und wir haben nichts davon gewusst und hören staunend zu und erwachen aus dem Dämmerschlaf unserer Halbwahrnehmung.

Das Festival, an dem vier weitere Schüler- und Jugendtheatergruppen teilnehmen, Gewinner eines vom ZDFtheaterkanal und den Berliner Festspielen ausgeschriebenen Schultheaterwettbewerbs zum Thema: »Shakespeare – Liebe, Macht, Tot (d)« –, hält noch eine ganze Reihe weiterer Höhepunkte für uns bereit. Alle Inszenierungen wurden unter Mitwirkung der Jugendlichen aufgezeichnet und später ausgestrahlt. Das Ganze ist Teil des großen Programmschwerpunkts »Shakespeare« mit 3sat, der auf vielfältige Weise die Annäherung an das unsterbliche Werk des Elisabethaners suchte und damit auf breites Interesse beim Publikum stieß. Und später im Jahr, im Juli, lässt Thomas Ostermeier seinen »Hamlet« im Hof des Papstpalasts in Avignon live vor den Augen und Ohren der Zuschauerinnen und Zuschauer von ARTE und 3sat beiläufig jenen Satz wegsprechen, der im Herbst dann wieder zu den meistzitierten Sätzen überhaupt werden wird: »Die Welt ist aus den Fugen«. Kein Wunder, dass sich die Zuschauer bei der ebenfalls in diesem Jahr via ARTE präsentierten Programmreihe um die bedeutendsten Dramatiker der europäischen Literaturgeschichte eindeutig entschieden haben, wen sie für den bedeutendsten halten: Shakespeare.

Und die großartige Sängerin und Schauspielerin Marianne Faithfull als Gast der Abschluss-Sendung im Berliner Metropol/GOYA-Theater wusste in ihrem eindringlichen Schlusswort auch, warum: Weil Shakespeare die ganze Welt als Bühne erkannt und dargestellt hat als ein bloßes Spiel, das gelegentlich ernst macht in Freud und Leid. Und Meike weiß das auch.




 
 
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