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2007  
ZDF Jahrbuch
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Heiner Gatzemeier
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Heiner Gatzemeier, Leiter der Redaktion Zeitgeschehen

Demografie und Fiktion: »2030 – Aufstand der Alten«
Wie ein Zukunftsszenario die Republik aufschreckte

 
Heiner Gatzemeier
Heiner Gatzemeier


Moderne Diagnosegeräte geben im Jahr 2030 Aufschluss über den Gesundheitszustand
Moderne Diagnosegeräte geben im Jahr 2030 Aufschluss über den Gesundheitszustand


Bettina Zimmermann als Lena Bach
Bettina Zimmermann als Lena Bach


Lena Bach (Bettina Zimmermann) entdeckt ein Bild des Grauens
Lena Bach (Bettina Zimmermann) entdeckt ein Bild des Grauens
 

»2030 – Aufstand der Alten« ist kein Dokumentarfilm, auch keine herkömmliche Dokumentation. »2030 – Aufstand der Alten« wurde konzipiert, geschrieben und inszeniert im Format der Doku-Fiction. Idee und Konzept wurden in der Redaktion Zeitgeschehen entwickelt; gemeinsame Buch- und Formatentwicklung mit Ziegler-Film; produziert wurde »2030 – Aufstand der Alten« dann auch von Ziegler-Film.
Im Folgenden werde ich neun Thesen aufstellen, warum Projekte wie »2030« nicht nur den Nerv der Zuschauer treffen. Und vielleicht stecken darin auch Antworten, ob dokufiktionale Formate eine Zukunft sein können für Filmemacher. Insbesondere für Themen, die von gesellschaftspolitischer Relevanz sind.

These 1
Mit »2030 – Aufstand der Alten«, so urteilten nicht wenige, wurde ein Stück Fernsehgeschichte geschrieben und das Genre Doku-Fiction in Deutschland endgültig etabliert.

So schreibt der renommierte Buch- und Drehbuchautor Klaus-Peter Wolf unter anderem in einer Expertise zu den Möglichkeiten und Problemen, die sich aus »2030« ergeben: »Eine mutige Redaktion hat bewiesen, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen dem Trend nicht hinterherlaufen muss, sondern ihn bestimmen kann und durch kluge Auswahl von Themen in der Lage ist, ein Thema in die Öffentlichkeit zu tragen, den Focus darauf zu lenken und eine Weile die Diskussion zu beherrschen. Fast jeder Sender musste im Anschluss darüber berichten, und in allen Medien wurde Bezug auf ›2030‹ genommen. Endlich konnten wir erleben, dass erhitzte Gemüter sich über einen Film stritten.«

These 2
Für die Primetime werden andere filmische Mittel als die der klassischen Reportage und Dokumentation gefordert.

Hochglanz! Hochglanz ist etwas Besonderes, was nicht alltäglich ist. Um Hochglanz zu produzieren, braucht es natürlich auch ein wenig mehr Geld als für eine gut gemachte Reportage beispielsweise, die Alltagsgeschichten erzählt.

Hochglanzdokumentation! Schon der Begriff verrät, wohin die Reise geht: Die klassischen dramaturgischen Mittel der Reportage oder Dokumentation reichen da nicht mehr. Wir bedienen uns mehr und mehr der dramaturgischen Kunstgriffe des Fernsehspiels und, wenn man so will, auch des Kinos. Das ist nicht neu!

These 3
Fernsehen kann noch etwas bewegen, auch wenn es kaum jemand noch für möglich gehalten hat.

Die Reaktion von Politikern war höchst unterschiedlich. Die einen billigten dem Fernsehen zu, Versäumnisse der Politik drastisch zu beschreiben, andere fürchteten einen Angriff auf Demokratie und Menschenwürde. Im »ZDF-Morgenmagazin« räumte die Bundesfamilienministerin Frau von der Leyen ein, dass sich die Politik um den Zusammenhalt der Generationen zu wenig gekümmert habe. Und fügte hinzu: »Wir haben zu lange die Augen davor verschlossen!«.

Es gab auch Versuche, das Thema und die darin innewohnende Explosivkraft durch den Begriff Horrorszenario kleiner zu machen und somit abzuwiegeln. Auch wenn Politiker und Verbände wie das DRK oder der VDK teilweise harsche Kritik an dem Dreiteiler geübt hatten, so hatten sie das Problem an sich nicht geleugnet, sondern vielmehr unterstrichen, wie wichtig es sei, dass sich die Gesellschaft und die Politik mit dem Thema befassen müssen. Die Senioren-Union der CDU begrüßte die Debatte und mahnte mehr Kinderfreundlichkeit an. »Die deutsche Wohlfühlgesellschaft hat jahrzehntelang verdrängt, dass ein Land mit immer weniger Kindern direkt in die demografische Katastrophe hineinsteuert.« Das Kuratorium Deutsche Altershilfe, KDA, erklärte lapidar zur ZDF-Reihe, dass die Altenrepublik komme, stehe schon lange fest. Politik und Gesellschaft hätten das Problem zu spät angepackt.

These 4
Gesellschaftspolitische Themen können auch in der Primetime die robusten Nerven von Politikern und Verbandsfunktionären treffen.

Auffällig dabei, das allgegenwärtige rhetorische ABER! Beispiele:

»Es steckt in der Thematik eine brisante Menge an Realität«, erklärte der geschäftsführende Vorstand der Deutschen Hospiz-Stiftung, Eugen Brysch. Schon heute machten sich die Politiker Gedanken, wie sie an den Alten sparen könnten, und es werde öffentlich über Altersgrenzen bei der medizinischen Behandlung diskutiert. ABER: In diesem Zusammenhang warnte er zugleich vor Tendenzen zur Legalisierung der aktiven Sterbehilfe.
»Das Horrorszenario für das Jahr 2030 verletzt das Grundrecht der Menschenwürde!«, schimpft der stellvertretende Vorsitzende der Seniorenpartei Die Grauen/Graue Panther, Dieter Meyer. ABER: Es müsse dafür gesorgt werden, dass die Alten auch im Jahr 2030 ein würdiges Dasein führen können. Voraussetzung dafür ist laut Meyer eine finanzielle Grundversorgung, die sich an der geringsten Beamtenpension orientieren müsse!
Als realitätsfern kritisierte das Heidelberger Familienbüro die Doku-Fiction. Sie lasse außer Acht, dass nach 2010 die über 50-Jährigen die Mehrheit der Wähler stellten. Diese könnten die Politik zu Lasten von Familien gestalten. Eltern mit zwei und mehr Kindern würden beim aktuellen Wahlrecht schnell in eine Minderheitenposition geraten. UND fordert sogleich ein Familien- und Kinderwahlrecht.
Das Deutsche Rote Kreuz, DRK, warnt vor Horrorszenarien. ABER: Es müsse jetzt damit begonnen werden, das Angebot an stationären und ambulanten Einrichtungen sowie Diensten im Bereich Gesundheit und Pflege, Hausnotruf und Fahrdiensten dem konkreten Bedarf in strukturschwachen Regionen anzupassen.

These 5
Warum die Glaubwürdigkeit im Format der inszenierten Gesellschaftspolitik nicht leiden muss.

Das düstere Szenario des ZDF-Dreiteilers »2030« halten die meisten Deutschen nach einer repräsentativen Umfrage von forsa für realistisch. 74 Prozent rechnen damit, dass es im Jahr 2030 Patienten erster und zweiter Klasse geben wird. Jeder zweite Bundesbürger glaubt, dass die Krankenkassen allenfalls nur noch billigste Medikamente zahlen werden. Etwa ein Drittel der zwischen 18 und 50 Jahre alten Befragten halten zudem einen deutlichen Anstieg der Selbstmordrate unter verzweifelten Rentnern für realistisch. 25 Prozent können sich vorstellen, dass Pflegebedürftige im Jahr 2030 von Privatunternehmen in Dritte-Welt-Länder geflogen werden können, um dort kostengünstig betreut zu werden. 56 Prozent der Deutschen befürchten, dass es den Generationenvertrag 2030 nicht mehr geben wird. Zwei Drittel sehen das Renteneinstiegsalter eher bei 70 Jahren plus.

These 6
Inszenierte Gesellschaftspolitik muss provozieren und ruft dann auch in vielfältiger Weise die Kritiker auf den Plan.

Das große Presseecho auf »2030« gilt selbst in der langen Geschichte des ZDF als äußerst ungewöhnlich. Auffällig, wie viele Journalisten sich vornehmlich mit dem gesetzten Thema beschäftigten. Wir haben das Konvolut natürlich ausgewertet. Weit über 80 Prozent würdigen Form und Inhalt positiv. Manche mäkeln, manche üben harsche Kritik. Aus zwei extrem gegensätzlichen Artikeln möchte ich zitieren: Aus Evelyn Fingers Kritik in der ZEIT vom 11. Januar 2007 und aus Fritz Wolfs Kritik in epd vom 27. Januar 2007. Beide Artikel als Ganzes zu lesen, lässt uns Macher gelassener werden im Umgang mit der Kritik – im positiven wie negativen Fall.

Fritz Wolf schreibt: »Vor allem aber ist die Erzählform nicht bewältigt. Der Dreiteiler ist ein heftig geschüttelter und gerührter Genremix von Politthriller, TV-Reportage, Science-Fiction-Film. Er ist alles Mögliche und nichts davon wirklich. Der griffige Begriff Doku-Fiction kann nicht verdecken, dass Buch und Regie sich nicht entscheiden konnten, was sie denn eigentlich erzählen wollten und auf welche Weise. Die innere Logik einer fiktiven Dokumentation ist nicht eingelöst.«

Evelyn Finger dagegen schreibt: »Ohne Aufwand an krassen Horrorbildern zeichnet Drehbuchautor und Regisseur Jörg Lühdorff den Rückfall einer entwickelten Zivilisation in die Barbarei. Einerseits sehen wir das durchdesignte Altersglück in den Luxusresidenzen, andererseits erleben wir den Terror kostengünstigen Siechtums. Dazwischen gibt es authentische Einblendungen aus der Vergangenheit: Kanzlerin Merkel auf Gesundheitsreformkurs oder Norbert Blüm, wie er lachend Plakate klebt mit seinem Wahlspruch ›Die Rente ist sicher‹. Durch eine einfache Kontrastdramaturgie entlarvt Lühdorffs Doku-Fiction das demokratische Wirtschaftswunder nach 1945 als faulen Frieden.«

Fritz Wolf schreibt: »Vor allem fehlt es dem Film an politischer Fantasie. Zwar sollte man von einer negativen Utopie keine Politikrezepte erwarten, doch macht es der Dreiteiler insgesamt zu billig .... Zuwanderung, wachsende Produktivität, mögliche Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, andere Familienpolitik – solche Faktoren stecken gar nicht in der Rechnung des Demografie-Thrillers.«

Evelyn Finger dagegen schreibt: »Der gesellschaftliche Fortschritt der letzten Jahrzehnte erscheint als schleichender Degenerationsprozess, der bloß auf Wohlstand für möglichst viele statt auf Gerechtigkeit für alle zielte. Dass dies keineswegs eine linke, gar sozialistische Erfindung, sondern ein Gebot der Menschlichkeit ist, daran erinnert uns der Film. Verteilungsgerechtigkeit sei das oberste Prinzip eines Gemeinwesens, das allein diesen Namen verdiene, schrieb der Urvater der aufgeklärten Staatsutopie, Thomas Morus, im Jahr 1516.«

These 7
Hinterher sind wir immer klüger. Die Macher wie die Kritiker.

Wer nach Ausstrahlung eines Films keine Verbesserungen sieht, zumal in einem neuen Format, gehört nicht in eine bei allen Risiken innovativ operierende Redaktion.
Die gesellschaftspolitische Botschaft war für manche Zuschauer zu holzschnittartig. Das ist nachvollziehbar. Daran kann man arbeiten. Daran werden wir arbeiten. Die Hauptfigur Lena Bach sei zu sehr sachlich orientiert, ihr fehle eine gehörige Portion emotionaler Beteiligung an ihrem Thema, war kritisch zu vernehmen. Das ist so eine Sache: Darf eine Journalistin Emotion zeigen? In einer Doku-Fiction, denke ich, ja. Aber nicht gleich übertreiben, aber auch nicht zu kühl, wie es in »2030« umgesetzt war. Daran ist zu arbeiten. Daran werden wir arbeiten.

Nach dem ersten Teil »2030 – Aufstand der Alten« war die gesellschaftspolitische Botschaft verstanden, und es fehlte für manche Zuschauer des ersten Teils ein wenig die innere Spannung, auch bei den Teilen zwei und drei am Ball zu bleiben. Da­raus haben wir bereits eine Konsequenz gezogen: Gesellschaftspolitisch ausgerichtete Themata in einer Doku-Fiction sollten eher in einer kompakten 90-Minuten-Fassung produziert werden. Daran – mit neuen Themen – arbeiten wir.

These 8
Auch wenn die Gesamtquote – insgesamt zehn Millionen Zuschauer, nur knapp zweistellig – unbefriedigend ist, schauen wir dennoch optimistisch in die Zukunft.

Das ZDF hat jüngst eine verbesserte Methodik zur kontinuierlichen Erfassung der Zuschauerzufriedenheit vorgestellt. In Ergänzung zu den Einschaltquoten bekommen wir nun differenzierte Beurteilungen von Sendungen durch die Zuschauer auf den Redaktionstisch.

Im Hinblick auf die abgefragten Eigenschaften erhielt das Format ein sehr gutes Profil. Am häufigsten (zu über 90 Prozent) wurden »2030 – Aufstand der Alten« die Eigenschaften »verständliche Geschichte«, »glaubwürdige Charaktere«, »stimmt nachdenklich«, »gut erzählt«, »kritisch« zugeschrieben. Daneben schnitten auch die Beurteilungen »aktuell«, »kompetent« oder »modern/zeitgemäß« sehr gut ab.

Die Frage nach dem neuen Fernsehformat Doku-Fiction ergab, dass es fast allen Befragten (96,3 Prozent) »gut« beziehungsweise »sehr gut« gefallen hat. Und – auch wenn einige Zuschauer fragten, wo sich beispielsweise die Alten-WG befindet und ob man dort einziehen könne – die meisten Zuschauer haben begriffen, dass »2030« ein Spiel ist: ein Spiel mit Fakten.

These 9
Inszenierte Gesellschaftspolitik hat Zukunft, wenn wir die Erfahrungen aus »2030« formatverbessernd verarbeiten und mein Sender Geduld und den erforderlichen Etat für Nachfolgeprojekte aufbringt.

Abschließend schreibt Klaus-Peter Wolf in seiner Expertise zu »2030«: »Doku-Fiction und das weiter entwickelte Doku-Drama sind die Formate der Zukunft, mit denen das öffentlich-rechtliche Fernsehen Leuchtbojen in die Medienlandschaft setzen kann.« Und die Doku-Fiction kann sich was trauen, wenn sich die Redaktion was traut und der Sender hinter ihr steht.

An Themen ist kein Mangel. Und viele davon steckten auch schon in »2030«: Pflegenotstand – Sterbehilfe – Euthanasie – Altersarmut – Migration/Integration – Gesundheitssystem – Zweiklassenmedizin – Landflucht. Nur eine kleine Auswahl.
 
 
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