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2006  
ZDF Jahrbuch
Aus der Programmarbeit
Nikolaus Brender
Klaus-Peter Siegloch
Claus Kleber
Bettina Warken
Stefan Raue
Volker Angres
Barbara Dickmann
Thomas Bellut
Peter Arens
Günther van Endert/
Heike Hempel
Heike Hempel/
Jörg Schneider
Klaus Bassiner/
Berit Teschner
Volker Wilms
Wolfgang Ebert
Ruth Omphalius
Anca-Monica Pandelea

Ruth Omphalius

Der Neandertaler

 
Ruth Omphalius
Ruth Omphalius
 

Tagelang war der Clan bereits unterwegs. Die Neandertaler erreichten von Norden her den gewaltigen Strom, der in viel späterer Zeit von einer anderen Menschenart Rhein genannt werden sollte. Von den Klippen, in die ein kleines Nebenflüsschen über einen unvorstellbar langen Zeitraum sein Bett gegraben hatte, blickten sie auf die weite Ebene, in der gemächlich die großen Herden der Mammuts und Wollnashörner grasten. Eine Szene aus der »ZDF Dokumentation: Der Neandertaler – Was wirklich geschah«. Mit diesem außergewöhnlichen Programm hat die Redaktion Geschichte und Gesellschaft einmal mehr gezeigt, dass es selbst für unseren immer mehr von Kauf und Auftragsproduktion geprägten Bereich möglich ist, große High End-Produktionen in house herzustellen.

Die Idee hatte ich vor rund drei Jahren, lange bevor die Gazetten den Neandertaler zum »Mann des Jahres«, zum »berühmtesten Deutschen«, ja sogar zum »berühmtesten Europäer« aller Zeiten gekürt hatten. Anlass für die posthume Aufregung 2006 ist ein rundes Jubiläum: Vor 150 Jahren hatten Steinbrucharbeiter in einer Höhle im Tal der Düssel bei Mettmann eine Handvoll Menschenknochen geborgen, die nicht zu unserer Art gehörten. Noch bevor Darwin mit seiner Evolutionstheorie an die Öffentlichkeit trat, konfrontierte dieser Fund die Welt mit der Tatsache, dass es noch andere intelligente Menschen gegeben hatte. Nicht länger konnte der Homo sapiens als alleinige »Krone der Schöpfung« gelten.

Seither steht es mit unserem Verhältnis zu dem so plötzlich aufgetauchten fossilen Verwandten nicht zum Besten. Lange Zeit betrachteten ihn Fachleute und Laien gleichermaßen als tumben Höhlenbewohner und angriffslustigen Keulenschwinger. Erst in den letzten Jahren versuchten viele Wissenschaftler, mit diesem Bild vom Eiszeitrowdy aufzuräumen. Besonders vor dem großen Jubiläum wurde geforscht wie noch nie, kaum einer der Neandertalerexperten, der nicht einen Beitrag leistete.

Grund genug für Peter Arens, den damaligen Leiter der Redaktion Geschichte und Gesellschaft, eine große Dokumentation zu initiieren, die den Wissenschaftlern bei ihrer aktuellen Arbeit über die Schulter schaut und dem Zuschauer einen Blick in die Labore der Paläogenetiker, Klimaforscher, Teilchenphysiker und Gerichtsmediziner ermöglicht, während sie mit allen Mitteln versuchen, dem Mann aus dem Neandertal seine letzten Geheimnisse zu entreißen. Das ZDF-Team begleitete den Eiszeitler beispielsweise zum Max-Planck-Institut nach Leipzig, wo dem Skelett Knochenproben für ein umfassendes Genomprojekt entnommen wurden. Die Genetiker hoffen, auf diese Weise einen Teil des genetischen Codes jenes anderen Menschen entschlüsseln zu können. Rekonstruktionsexperten ermittelten aufgrund neuerer Funde im Neandertal erstmals die Gesichtsform des Altmenschen, Teilchenphysiker bestimmten sein exaktes Alter und Paläochemiker seinen Speiseplan.

Insgesamt entstand ein differenzierteres Neandertalerbild, das einen vielseitig begabten Menschen jenseits des üblichen Klischees erkennen lässt. Eine besondere Herausforderung war es, diese neue Sichtweise nicht nur in den Dokumentarteilen, sondern auch in den Inszenierungen des Programms umzusetzen, galt es doch, dem allzu vertrauten Bild vom grunzenden, gebeugt humpelnden Grobmotoriker etwas Neues entgegenzustellen.

In höchstem Maße bedeutsam für die Glaubwürdigkeit der Produktion war in diesem Fall die Maske. Neandertaler hatten eine völlig andere Kopfform als wir. Statt einer hoch aufragenden, hausartigen Silhouette zeigte der Neandertalerkopf eher die Form eines Brotlaibes. Über den Augen wölbten sich kräftige Überaugenwülste und das gesamte Gesicht trat stärker hervor. Die größten Probleme verursachten allerdings nicht die Teile, die man hinzufügen konnte, sondern solche, die beim modernen Menschen quasi »zuviel« waren. Überaugenwülste kann man ankleben, ein vorhandenes Kinn dagegen verschwinden zu lassen, gestaltete sich als ungleich schwerer. Auf der Basis der neuen Gesichtsrekonstruktion und in ständigem Austausch mit unserem Neandertalerexperten Ralf Schmitz gelang den Maskendesig­nerinnen Brigitte Frank und Katharina Pade die Quadratur des Kreises: Sie erhielten die individuellen Züge der Darsteller und arbeiteten zugleich heraus, was für Neandertaler typisch war.

Bevor es jedoch soweit war, galt es, geeignete Schauspieler zu finden. Mehr als 200 Personen wurden gecastet. Die Auswahlkriterien waren ungewöhnlich. Statt der gängigen Schönheitsideale waren möglichst viele Neandertalereigenschaften wie beispielsweise ein stämmiger Körperbau und eine vorspringende Gesichtsform gefragt. Über gewöhnliche Agenturen war es unmöglich, solche Darsteller zu finden. Außerdem sollte jeder Schauspieler nicht nur als Einzelperson glaubwürdig wirken, sondern auch als Teil eines Clans. Neandertalernähe, ein gewisses Maß an »Familienähnlichkeit« untereinander, war ebenso ausschlaggebend für die Auswahl wie die Fähigkeit, sich in die eiszeitlichen Jäger hineinzudenken und entsprechend zu agieren.

Die ersten Gehversuche waren wenig ermutigend. Die Vorurteile gegen den eiszeitlichen Jäger saßen auch bei den Schauspielern tief. Und so spiegelten die Moves der Akteure zunächst wahlweise das Verhalten von Schimpansen oder das des buckligen Glöckners Quasimodo wider. »Walk like a Neanderthal« wurde zu einer der schwierigsten Herausforderungen der gesamten Produktion. Um diese Hürde zu meistern, veranstaltete das ZDF vor Beginn der Dreharbeiten einen mehrtägigen Workshop für die Darsteller, in dem eine der internationalen Topexpertinnen für archaische Bewegungsabläufe die Gruppe trainierte. Ailsa Berk hauchte schon ungewöhnlichen Wesen der »Star Wars«-Saga, bei »Greystoke – Die Legende von Tarzan« oder erst kürzlich im neuesten »Harry Potter«-Film Leben ein. Die ersten Neandertaler choreografierte sie 1981 in Jean-Jacques Annauds Klassiker »Am Anfang war das Feuer«.

Fast ebenso aufwändig wie das Casting geeigneter Darsteller gestaltete sich die Suche nach naturbelassenen Drehorten. Im Rheinland hatte man die Heimat des Neandertalers während der Industrialisierung völlig zerstört. Wo einst Kalksteinfelsen in die Höhe ragten, verläuft heute eine mehrspurige Autobahn. Unberührte Höhlen waren in Westeuropa insgesamt kaum zu finden, längst sind die meisten mit Tickethäuschen, Andenkenläden und betonierten Wegen ausgestattet. Schließlich wurde der Location scout in einem Naturschutzgebiet zirka 100 Kilometer nördlich von Prag fündig. Als schließlich im Mai dieses Jahres unter der Regie von Nina Koshofer neben den 15 Darstellern ein Stab von 45 Crewmitgliedern im ZDF-Neandertalercamp die Arbeit aufnahm, verstanden wir alle zum ersten Mal wirklich die Dimension dieser Produktion. In nur 15 Tagen filmten wir elf komplexe Spielszenen an verschiedenen Drehorten. Dem Kameramann Matthias Haedecke gelang es, mit seiner ausgeklügelten Lichtkomposition eine Eiszeit zu zaubern, wie man sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die Welt der Neandertaler zeichnete sich laut der neueren Forschung nämlich nicht so sehr durch Eis und klirrende Minusgrade aus, sondern eher durch starke Klimaschwankungen. Haedeckes Bilder zelebrieren entsprechend den Überfluss und die Schönheit der Neandertalerzeit als die Bedrohung durch frostige Temperaturen.

Unterstützt wird diese neue Sicht durch den variantenreichen Schnitt von Andreas Lupczyk, der die Neandertalerszenen mit ruhigeren Schnittfolgen deutlich von den Dokumentarteilen unterschied, die durch ihren modernen, schnellen Rhythmus etwas von der Hektik unserer Tage insgesamt und besonders von dem rasanten Fortschreiten der Neandertalerforschung zum Jubiläumsjahr spüren ließ. 3D-Computeranimation und das Nitris-finishing von Alexander Wieland und Frank Flick gaben dem Look der Produktion den letzten Schliff. Ein absolutes Novum im ZDF ist zudem die Tatsache, dass »Der Neandertaler« auch akustisch völlig neue Wege ging. Zum ersten Mal ist es in einer Eigenproduktion gelungen, eine große Dokumentation als 5.1-Mischung zu gestalten. Mit Günter Haas am Mischpult konnte in Sachen Ton souverän eine technische Qualitätsstufe erreicht werden, die die Bildebene schon lange vorgegeben hatte.

»Auf diese Weise entstand ein Film, der zwar immer dicht an der aktuellen Forschung bleibt, zugleich aber mit poetischen Bildern auch einen emotionalen Zugang zu unserem entfernten Verwandten ermöglicht«, urteilt Redaktionsleiter Ale­xander Hesse, der den Film in der Endphase betreute. Für die entsprechende Bodenhaftung sorgte Deutschlands Neandertalerexperte Nummer eins, Ralf Schmitz. Er stand uns während der gesamten Produktion mit Rat und Tat zur Seite und überprüfte nicht nur Drehbuch und Storyboard, sondern nahm sogar jeden Darsteller, jedes Kostüm und jedes noch so kleine Requisit unter die Lupe. Die kreative und künstlerische Gestaltung der harten Fakten allerdings ist das Verdienst eines erfahrenen und hochmotivierten ZDF-Teams.

 
 
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