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2006  
ZDF Jahrbuch
Aus der Programmarbeit
Nikolaus Brender
Klaus-Peter Siegloch
Claus Kleber
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Heike Hempel
Heike Hempel/
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Klaus-Peter Siegloch

Reise durch zwei Welten – in einem Land

 
Claus Kleber
Claus Kleber


Indien – ein junges Land
Indien – ein junges Land


Claus Kleber im Gespräch mit einer Bäuerin im Bundesstaat Gujarat
Claus Kleber im Gespräch mit einer Bäuerin im Bundesstaat Gujarat


Kameramann Hartmut Seifert zeigt Indien aus ungewöhnlicher Perspektive
Kameramann Hartmut Seifert zeigt Indien aus ungewöhnlicher Perspektive
 

Das Klingeln eines Mobiltelefons ist mir noch nie so deplatziert vorgekommen wie in diesem Moment. Ich kauere im Dreck zwischen armseligen Hütten – Plastikfetzen über windschiefen Gestellen aus Kleinholz – am Lagerfeuer der Bauarbeiter von Jodhpur. Über uns strahlt der Palast des Maharadschas im Licht der Abendsonne. Hier unten bauen sie auf seinem Land eine Siedlung eleganter Häuser, die verwöhntesten Ansprüchen genügen werden. Der Verkauf wird die Kassen seiner Hoheit füllen – die Gewinnspannen sind enorm. Die Arbeiter um mich herum schuften für den Gegenwert von zwei Euro pro Tag zwölf Stunden lang, bis sie abends vertrieben werden – hinüber, auf die andere Seite der Straße. Dorthin fährt der Tankwagen mit Wasser, die einzige »Sozialleistung« der Baufirma.

Die Arbeiter kommen aus dem Bundesstaat Uttar Pradesh, einem der Armenhäuser des riesigen Subkontintents. Die meisten haben ihre Familien mitgebracht in dieses erbärmliche Camp. So sind sie nicht allein und selbst die Kinder können mitarbeiten und verdienen. Niemand von ihnen klagt. Sie haben das Gefühl, einen Schritt weiter zu sein als andere, weil der Hungerlohn hier immer noch doppelt so hoch wie zu Hause ist. Jetzt will ich in Ruhe mit ihnen reden und versuchen zu verstehen. Hier darf kein Telefon stören. Bevor ich das Gespräch wegdrücke, erkenne ich noch die vertraute Nummer von Subodh Sapra, einem meiner interessantesten Gesprächspartner in Bombay.

Zwei Tage später empfängt er mich herzlich lachend in der imposanten Firmenzentrale des Reliance-Konzerns am Hafen der boomenden Millionenstadt. »Na, wo habe ich Sie denn gestört?« Ich erzähle ihm von den Arbeitern von Jodhpur, von den verarmten, verzweifelten Baumwoll-Farmen von Andhra Pradesh, von den Selbstmorden in den Familien der Weber eines kleinen Dorfes bei Hyderabad, in dem wir gedreht haben.

Nachdenklich hört er mir zu, aber dann kommt eine Ermahnung: »Vergessen Sie darüber das moderne Indien nicht. Haben Sie einen Tag Zeit? Ich will Ihnen etwas zeigen.« Am nächsten Morgen holt uns ein Hubschrauber des Konzerns auf dem Poloplatz von Bombay ab. Er fliegt zur Kunstfaser-Fabrik des gewaltigen Unternehmens, das unter Subodh Sapras Aufsicht der Weltmarktführer für Polyester geworden ist. Stolz zeigen sie uns britische und amerikanische Zertifikate, die höchste Standards in Sicherheit und Umweltschutz bestätigen. »Vor ein paar Jahren haben wir Trevira in Deutschland aufgekauft, denen mussten wir unsere Ingenieure schicken, damit sie auf unsere Umweltstandards kommen«, lacht Sapra. »Das war eine große Überraschung. Uns reicht es nicht, nur die meisten Fasern der Welt zu produzieren. Wir wollen die besten und von niemandem abhängig sein.«

Ein Firmenjet fliegt uns weiter nach Jamnagar im Nordwesten des Kontinents. Dort baut Reliance seine Raffinerie in Rekordzeit zur größten der Welt aus. Draußen in der Bucht liegen die eigenen Tankschiffe, die das Rohöl aus eigenen Feldern am persischen Golf liefern. »Wir schließen die Fertigungskette«, erklärt Sapra, »von der Ölexploration bis zu den Kunststoffen. Überall werden wir zu den Besten gehören.« Sein letzter Halt ist das Entwicklungszentrum des Polyester-Bereichs von Reliance.

Ein atemberaubend moderner, eleganter Glaspalast am Wasser, in den auch Bill Gates ohne Zögern einziehen würde. »Wir legen Wert auf Design«, sagt er selbstbewusst. »Schließlich sollen die besten Köpfe der Welt hier arbeiten.«

Ich kann nicht verbergen, dass mich die Gewalttour durch das Unternehmen beeindruckt hat. »Sollen wir Europäer eines Tages aufwachen, uns die Augen reiben und fragen, wie zum Teufel uns Indien so abhängen konnte?«

»Ja, Sie haben es richtig verstanden«, antwortet Sapra ganz ruhig. »Indien war schon einmal die führende Kultur- und Wissenschaftsnation der Erde. Das entdecken wir jetzt neu. Wir reden nicht viel darüber. Nur, wenn Leute wie Sie kommen – und wirklich verstehen wollen, dann erklären wir uns. Sie werden sehen: Indien wird die Welt verändern.« Subodh Sapra nimmt mir damit für einen Augenblick den kritischen Wind aus den Segeln. Schöner hat keiner die Aufgabe beschrieben, die wir uns mit dieser Dokumentation gestellt haben. Wir wollen unseren Zuschauern wenigstens einige der faszinierenden, kontrastierenden Facetten dieses riesigen Landes präsentieren. Unser Indien-Bild wird immer noch von Mogulen und Fakiren bestimmt und von den ausgebeuteten Arbeitern an der verlängerten Werkbank Europas. Es wird höchste Zeit, dieses Bild anzureichern – es ist ein Stück Kernkompetenz öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Der Wettbewerb mit dem neuen, selbstbewussten Indien wird Europas Zukunft mitbestimmen.

An einer der vielen Universitäten, die jedes Jahr 170 000 Ingenieure auf den Markt schicken, haben wir den unbändigen Optimismus der nächsten Generation kennengelernt. Der Professor der Wirtschaftswissenschaften läuft wie ein Coach vor seiner Klasse auf und ab. »Wisst Ihr, wo der wichtigste Rohstoff der Zukunft ist?«, ruft er in den Hörsaal und schlägt mit der Faust an seine Stirn. »Hier oben! Wissen, Kunstfertigkeit, technisches Geschick, Qualitätsbewusstsein. Niemand kann Indien auf diesem Feld schlagen. Ihr werdet die Zukunft des Planeten bestimmen. Amerika sitzt noch auf dem hohen Ross. Aber in Wirklichkeit haben sie dort Angst vor Euch. Und Europa glaubt, wir seien ein Volk, das seine gro­ßen Zeiten hinter sich hat. Die meinen, hier wohnen nur Schlangenbeschwörer. Die werden sich wundern!« Die Studenten lächeln ein wenig verlegen in unsere Kamera – aber sie glauben längst an diese Botschaft.

Jeden Tag aber holt uns die indische Realität ein. Eine verwahrloste Infrastruktur, heruntergekommene Eisenbahnen, verstopfte, löchrige Straßen, Flughäfen, die jeder Beschreibung spotten. Und immer wieder, überall, schreckliche Armut. Rakesh Jhunjhunwala, der Börsenbulle von Bombay, lässt keines meiner Bedenken gelten, als ich seinem schäumenden Optimismus meine Eindrücke entgegenhalte. »Unter diesen Bedingungen schaffen wir acht bis zehn Prozent Wirtschaftswachstum jedes Jahr«, sagt er, während seine Blicke rastlos über Flachbildschirme wandern, die sein Aktien-Vermögen aufschlüsseln. Jhunjhunwala weiß, wovon er spricht. Er hat Anfang der 80er Jahre hundert ersparte Dollar an der »Eingeborenen-Börse« von Bombay investiert und reitet seitdem auf der Welle des Aufschwungs. Sein Vermögen wird jetzt auf eine dreiviertel Milliarde Dollar geschätzt. Von ihm ist kein Pessimismus zu erwarten. »Indien ist ein Marathonläufer ohne Schuhe«, sagt er. »Aber wir arbeiten dran. Jeden Tag. Bald sind die Schuhe fertig. Und dann wird die Welt was erleben.« Sogar die 600 Millionen Armen im Land sind für ihn ein Wachstumspotenzial. »Diese Menschen haben angefangen zu träumen. Jedes Jahr steigen 30 Millionen Menschen in die Mittelklasse auf. Mehr, als es in Deutschland Beschäftigte gibt. Sie wollen Autos und Häuser und Computer und Schulbildung für Ihre Kinder. Unser Auftstieg ist gar nicht mehr aufzuhalten.«

Die Begegnung mit Rakesh ist der Schlusspunkt von fast sechs Wochen in Indien, immer wieder zwischen dem Moderatorentisch auf dem Lerchenberg und den Drehorten auf dem Subkontinent pendelnd. Es war eine Zeit, die an die Grenze der Leistungsfähigkeit ging, aber ein Abenteuer, das meine Weltsicht verändert hat.

Ich bin noch benommen von den tausend Eindrücken und von dem langen Flug durch die Nacht, als ich am nächsten Morgen in Frankfurt lande. Im Taxi begrüßen mich die Nachrichten aus dem Autoradio. Nach monatelangen Streiks haben sich Gewerkschaft und Arbeitgeber darauf geeinigt, die Arbeitszeit um ein paar Minuten weniger zu verlängern als geplant. Donnerwetter!

Ahnen wir, was aus der Welt auf uns zukommt? Mehr und mehr habe ich das Gefühl, dass unser Film wichtig ist.

P.S. Die zweiteilige Dokumentation »Indien – unaufhaltsam« von Claus Kleber und Angela Andersen (Redaktion Katja Schupp) erzielte Anfang September 2006 Marktanteile von 19,2 und 11,4 Prozent. Es fehlt nicht an öffentlichem Interesse für diese Art öffentlich-rechtlicher Information.

 
 
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